Religionsunterricht und Internet

von Dietmar Peter

 

1. Geschichte des Internet

Die Wurzeln des Internet reichen in die frühen 60er Jahre zurück. Ausgangspunkt bildete ein in erster Linie militärisches Forschungsinteresse. Im Mittelpunkt stand die Schaffung einer weltweiten Verbindungsmöglichkeit von Einzelrechnern. Dabei durfte die Gesamtfunktion des Netzes nicht durch den Ausfall einzelner Komponenten gefährdet sein. Die wesentlichsten Punkte des Konzeptes lassen sich auf zwei Grundsätze reduzieren:

  • Das Netz darf keine zentrale Steuereinheit besitzen
  • Von Beginn an muss jede Steuereinheit allein komplett funktionsfähig sein.

Die Realisierung war an die Grundannahme gebunden, dass das Netz selbst die Verantwortung für seine Zuverlässigkeit übernimmt. Umgesetzt wurde diese Vorgabe dadurch, dass alle an das Netzwerk angeschlossenen Systeme Nachrichten erzeugen, empfangen und versenden können. Ein ab 1977 eingesetztes Netzkopplungsprotokoll (Transfer Computer Protocol = TCP/ Internet Protocol = IP) ermöglichte mit Hilfe entsprechender Software die Kommunikation von Rechnern unterschiedlicher Betriebssysteme (DOS, Windows, Unix, Macintosh ...). Mit der 1983 vollzogenen

Abspaltung des militärischen Teiles des Netzes in das MIL Net stand das TCP/IP Protokoll auch für die zivile Nutzung zur Verfügung. Die nun auch hier gegebene Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Systemen bewirkte zusammen mit der Einführung des World Wide Web 1989/90 den größten Schub des Internets. Die relativ einfache Metasprache (HTML) des Web erhöhte seine Attraktivität durch die Möglichkeit, Informationen in unterschiedlicher Gestalt (Text, Grafik, Klang etc.) darzustellen.

Im privaten Bereich geht die ansteigende Nachfrage einher mit der Senkung der Kosten der technischen Ausstattung (PC, Modem, ISDN, Onlinegebühren etc.). Heute hat jede/r die Möglichkeit, über kommerzielle Provider (AOL, T-Online, Compuserve etc.) das Internet gegen Gebühr von zuhause aus zu nutzen.

 

2. Internet und Schule

Das angedeutete Wachstum führte dazu, dass das Internet in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der Bildungspolitik gerückt ist. Durch Initiativen wie Schulen ans Netz sollen schulische Informations-, Kommunikations- und Kooperationsplattformen geschaffen werden, die die Schülerinnen und Schüler zu einem differenzierten, kritischen und konstruktiven Umgang mit Multimedia und Telekommunikation befähigen.

Erste Leitmotive waren dabei

  • die Öffnung von Schulen durch Kooperation und Kommunikation mit anderen Institutionen (Schulen, Industriebetriebe, Behörden, Universitäten in Deutschland, in Europa und weltweit),
  • die Förderung schulischen und außerschulischen Lernens in einer Informationsgesellschaft,
  • die Förderung des interkulturellen Lernens
  • die Schaffung eines verantwortlichen Umgangs mit multimedialen Informations- und Kommunikationstechniken,
  • die Qualifizierung von Lehrenden zu interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Diese zunächst politisch motivierten Forderungen riefen in der Lehrerschaft sowohl starke Zustimmung als auch scharfe Ablehnung hervor. Die einen träumten davon, dass formalisierte Bildungs- und Schulstrukturen überwunden und Lernen - durch die Entledigung der materiellen Träger und personalen Vermittler - zum individuellen Aneigungsprozess würde. Die anderen warnten vor der verantwortungslosen Zerstörung bewährter Kultur- und Sinnstrukturen. Inzwischen ist ein wenig mehr Nüchternheit eingekehrt, wobei Einigkeit darüber besteht, dass sich die traditionelle schulische Aufgabe der Wissensvermittlung durch die neuen Techniken verändern wird.

Unbestritten ist, dass Medienkompetenz im Rahmen schulischer Bildung eine stärkere Rolle spielen wird, was zu nachstehenden neuen Aufgaben allgemeiner Bildung führt:

  • Die Befähigung zum Umgang mit Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnik,
  • die Befähigung zur Nutzung der neuen Medien zum Lernen und Lehren,
  • das Gestalten von Inhalten mittels neuer Medien,
  • die Schaffung von Urteilsfähigkeit gegenüber den Botschaften der Medien.

Konsequenterweise müssen an allen Schulen angemessene technische Voraussetzungen geschaffen werden. Die damit verbundenen Veränderungen für unterrichtliche Prozesse sind aufgrund der sich in rasantem Wandel befindlichen Informationsgesellschaft in vielerlei Hinsicht spekulativ. Ein heute favorisierter Trend kann sehr schnell überholt sein.

 

3. Internetnutzung im Religionsunterricht – Didaktische Herausforderungen

Dennoch lassen sich erste Linien aus der Kultur des Cyberspace ableiten, welche über konkrete technische Innovationen hinaus ihre Gültigkeit bewahren und schulisch relevant werden.

Zukünftig wird es nicht mehr allein darum gehen wird, wie viel Wissen jemand im Rahmen seiner schulischen Laufbahn zu erwerben hat, sondern eher um die Fähigkeit, sich gezielt Informationen zu beschaffen und diese angemessen zu verarbeiten. So ist der Schüler der Zukunft aufgefordert, die ungeheure Fülle von weltweit dezentral angebotenen Informationen in wichtige und unwichtige zu unterteilen und diejenigen herauszufiltern, die dem Frageinteresse am ehesten genügen.

Ein Religionsunterricht, der das interaktive Kommunikationsmedium Internet nutzt, wird sich öffnen. Exemplarisch dafür steht ein Internetbeitrag, der im Rahmen eines Pilotprojektes zur Erprobung der Möglichkeiten des Interneteinsatzes im Religionsunterricht entstand. Dabei nutzte eine Klasse das Netz zur vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Thema 'Weihnachten': Neben der theologischen Annäherung an die Weihnachtsbotschaft, dem Aufzeigen von Weihnachtsbräuchen in anderen Ländern und dem Einbezug weiterer Weihnachtsseiten aus dem Internet nahm der Kurs kritisch Stellung zu den Inhalten der privaten Homepage eines Zeugen Jehovas, die den Titel '24 Gründe, kein Weihnachten zu feiern' trug. Auf dem Hintergrund von im Unterricht erarbeiteter theologischer Sachinformationen setzten sich die Schülerinnen und Schüler mit den Thesen auseinander, erarbeiten eine Stellungnahme, dokumentieren diese im Internet und schicken sie als offenen Brief per Email an den Autor. Die ausführliche Reaktion des Autors wurde wiederum Bestandteil des eigenen Internetbeitrags und stellte die Grundlage der weiteren unterrichtliche Arbeit dar. Gleichzeitig rief der Kurs eine Email-Diskussion ins Leben, die von verschiedenen Seiten aufgenommen und deren Verlauf im Internet dokumentiert wurde.

Die angedeutete Interaktivität des Netzes ermöglicht es, Schülerinnen und Schüler aus aller Welt in den Austausch über Themen des Religionsunterrichts einzubeziehen. So ist denkbar, sich mit Jugendlichen in Boston, Jerusalem, Kapstadt und Athen mittels einer Mailingliste, in einer Newsgroup oder in Echtzeit über Formen gelebter Religion in verschiedenen kulturellen Kontexten auszutauschen. Die Standortgebundenheit des Lernens wird aufgebrochen – exemplarisch dafür stehen virtuelle Universitäten und Klassenzimmer. Lernen wird zukünftig in globale Kontexte eingebunden sein. Sowohl die Vergewisserung der eigenen Position als auch Toleranz gegenüber dem Anderen sind notwendige Voraussetzung.

Der Ausweis, als potentieller Kommunikationspartner für Menschen anderer kultureller Kontexte zur Verfügung zu stehen, wird in der Regel durch im Netz platzierte Homepages einzelner Schulen erbracht, die meistens (nicht zuletzt aufgrund mangelnder Kompetenz auf Lehrerseite) von Schülern erstellt werden. Vielerorts werden den einzelnen Fächern eigene Seiten zur Verfügung gestellt, auf denen Klassen im Unterricht Erarbeitetes vorstellen. Was bislang nur einer begrenzten Schulöffentlichkeit zugänglich war, kann in größerem Rahmen präsentiert werden, womit auch die Qualitätsstandards steigen. Daneben ist der hohe motivationale Wert den das Medium zurzeit hat nicht zu unterschätzen. Das Erlernen von HTML (Hyper Text Markup Language), der "Sprache" des Internets, ist inzwischen nicht mehr Voraussetzung, da verschiedene Programme (HTML-Editoren) diese Arbeit übernehmen. Von Vorteil ist, dass HTML die Möglichkeit bietet, Bild-, Klang-, ggf. Filmelemente in die unterrichtlich erarbeiteten Seiten einzubinden und auf diesem Weg eine vertiefende thematische Auseinandersetzung mittels künstlerischer Ausdrucksformen anzuregen. Wie nebenbei verdeutlichen sich die Konstruktionen virtueller Welten.

Für den Religionsunterricht wird es zukünftig allerdings nicht allein darum gehen, Kompetenzen im Umgang mit HTML-Codes in den Blick zu nehmen oder die Auseinandersetzung mit der Semantik von Internetseiten zu vermitteln und unterrichtlich zu nutzen. Eine sich einzig den kognitiven Schemen zur Aneignung von Medienereignissen zuwendende Pädagogik verfehlt das Ziel des Religionsunterrichts. Die bereits angedeutete Konfrontation mit vielfältigen, ungewohnten Positionen und der Pluralismus der im Netz vertretenen Nachrichten und Angebote ist wesentlicher Bestandteil didaktischer Überlegungen. Die Öffnung der Klassenzimmer unter Einbeziehung einer weltweiten diskursiven Öffentlichkeit macht die Stärkung des Gemeinsamen inmitten des Differenten und die Fähigkeit zur Verständigung zur Bildungsaufgabe des Religionsunterrichts.

Daneben ist die Aufmerksamkeit auf die Schnittstelle zwischen "virtuellem" und "realem" Leben und die Verflochtenheit beider Räume zu richten. Die Entwicklung von Übergangskompetenzen zwischen Offline- und Online-Welt, zwischen der Schöpfung Gottes und der Schöpfung des Menschen sind von Interesse - die kritische Betrachtung des Ineinanderwirkens beider Welten stehen im Mittelpunkt religionsdidaktischer Überlegungen. Die im Alltag immer häufiger zu vollziehenden Übergänge von der virtuellen Welt zum realen Leben, die Übergänge von der Kommunikation mittels der cyberorgs (cybernetic organism ) der virtuellen Welt zu den sich in der rein physischen Welt vollziehenden Begegnungen müssen Gegenstand des Religionsunterrichts sein. Der Verlust analoger Information, die Einschränkung sinnlichen Erlebens durch Transformation der Atome in die Welt der Bits und Bytes ist Thema. Die Durchdringung der Global Information Structure des Internet durch handlungsorientierte und erfahrungsbezogene Unterrichtsformen und darauf bezogene Reflexionsprozesse werden zukünftig zu selbstverständlichen Aufgaben religionspädagogischen Handelns.