Unterwegs zur Zweiten Reformation

von Johann Baptist Metz 

 

Luthers berühmte grundsätzliche Frage nach dem gnädigen Gott, so versichern heute viele Theologen, die über die Reformation schreiben, sei dem modernen Menschen kaum mehr verständlich zu machen, geschweige denn existentiell nahe zubringen; sie komme aus einer anderen ungleichzeitigen Welt. Ich teile diese Auffassung nicht. Der Kern der reformatorischen Frage, wie uns denn Gnade werde, ist von bedrängender Aktualität. Der so genannte "heutige Mensch", der Mensch also unserer spätbürgerlichen Welt, ausgespannt zwischen Verzweiflung und Engagement, zwischen Apathie und spärlicher Liebe, zwischen rücksichtsloser Selbstbehauptung und schwach entwickelter Solidarität, ratlos und seiner selbst ungewisser als noch vor wenigen Generationen, so sehr seiner selbst ungewiss, dass er kaum mehr sein eigener Nachfahre sein möchte: dieser Mensch soll den Schrei nach Gnade nicht mehr verstehen, nicht die bange Frage, ob und wie uns Gnade widerfahren könne-? Eben das möchte ich entschieden bezweifeln. Nicht, dass das Christentum nach Gnade fragt und von Gnade spricht, macht es den Menschen so fremd, so entrückt und ungleichzeitig, sondern wie es nach dieser Gnade fragt und von ihr spricht. Wie aber wäre von ihr zu sprechen, nach ihr zu fragen? Was heißt, ein zweites Mal vom Baum der reformatorischen Erkenntnis essen? Was wäre dies: eine Zweite Reformation - im Umbruch zu einer nachbürgerlichen Welt?

Diese Zweite Reformation geht alle Christen an, kommt auf alle zu, auf die beiden großen Kirchen des Christentums: sie wäre also in diesem präzisen Sinne ökumenisch. Wir werden uns um des Evangeliums und der Welt willen nicht mehr lange unsere halbseitig gelähmten Christentümer leisten können.

 

Anrufung der Gnade in den Sinnen - die protestantische Spielart der Zweiten Reformation

Ich beginne - sehr subjektiv, sehr ungeschützt - mit einem persönlichen Eindruck: Der Protestantismus ist mir, aufs Ganze gesehen, zu unsinnlich. Man tut der Gnade keine Ehre an, wenn man sie ins Unsichtbare und Unsinnliche erhebt; man verkleinert sie, wenn man sie den Sinnen entreißt und damit dem sozialen Leid der Menschheit. Nach und nach wurde aus der Sündenangst der Reformation eine andere Angst. Ich nenne sie hier Berührungsangst - Berührungsangst gegenüber dem Irdischen, gegenüber den Sinnen, gegenüber dem leibhaftig-sozialen Leben, in dem die Gnade des fleischgewordenen und Tote erweckenden Gottes uns doch gnädig sein will. Ich mache diese Feststellung gewiss nicht in der Pose des routinierten katholischen Besserwissers. Wenn sich der Katholizismus auch mehr Sinnenhaftigkeit bewahrt haben mag, mehr Empfänglichkeit und Fühlsamkeit für das Anschauliche und Erdhafte an den christlichen Geheimnissen und an der Gnade, so doch kaum auf jenem Niveau der Freiheit, auf das die sinnenhafte Welt durch das Evangelium und auch durch die Reformation gehoben ist. Woher diese protestantische Berührungsangst? Die Reformation ist geprägt vom Pathos der "reinen Lehre". Sie stellt diese "reine Lehre" aus nur allzu verständlichen Gründen der heidnisch anmutenden Sinnenhaftigkeit des damaligen Renaissance-Katholizismus entgegen. Sie verweigerte sich deshalb allen "Vermittlungen", allen Bündnissen mit den irdischen Belangen, mit der sinnenhaften und materiellen Welt. Sie witterte darin den schlechten, Gott und seine Gnade verratenden Kompromiss, die blasphemische Machtergreifung des Menschen über die Gnade.

Doch, so dürfen wir heute (etwa mit Kierkegaard) fragen: Hat da die Reformation nicht zu sehr zugeschlagen? Ist "rein" überhaupt eine biblische, eine authentisch christliche Kategorie? Ist sie es auch dann noch, wenn sie nicht nur als Korrektiv im Christentum, sondern als Prinzip des Christentums vertreten wird? Zeigt sich dann nicht, dass "rein" eigentlich eine idealistische Kategorie ist, die Kategorie eines nervösen, abstrakt unsinnlichen Kopfchristentums, das uns glauben machen möchte, die Gnade würde sich allein über das Wort mitteilen, so dass es bei ihr nichts zu schauen, nichts anzurühren und schon gar nichts zu handeln gäbe? War es nicht ohnehin eine Fehleinschätzung der Reformation, dass sie meinte, die Anrufung der Gnade und die Reform der Kirche allein über das Wort und über die "reine Lehre" erwecken zu können und nicht über die Subjekte und deren sinnhafte leidvolle Praxis, die durch die Reformation nur allzu rasch wieder in ihre Schranken verwiesen wurde?

Lassen Sie mich zunächst einige der Berührungs- und Vermischungsängste symptomatisch und kurz nennen. Es gibt da in meinen Augen Ängste gegenüber allem Natürlichen, gegenüber dem "Heidnischen" - als ob die festliche Sinnenfreude unbegnadet wäre und begnadet allein die angestrengte, nicht selten simulierte Freude des Geistes. Es gibt Ängste gegenüber den unreinen, widersprüchlichen sozialen Konflikten - als ob die Gnade, auf die alles ankommt, außerhalb der Sinne und der Gesellschaft, jenseits der leiblich-sozialen Existenz des Menschen erfahren würde (womit ich nicht sagen will, dass die Art, wie wir Katholiken uns üblicherweise deftig in alles einmischen, die richtige wäre!).

Es gibt Ängste gegenüber den so genannten materiellen Bedürfnissen, den biologischen Besonderheiten des Lebens und seinen Leiden - als ob die Geheimnisse des Christentums nicht auf immer mit dieser Erde verbunden wären, anders und radikaler, freilich auch bedrohter als in allen anderen Religionen. Es gibt schließlich Ängste gegenüber dem, was man üblicherweise "Religion" nennt. Welche kraftvolle Religion wäre ein Protestantismus, der sich nur eine zu sein getraute! Tatsächlich ist er wohl die einzige Religion in der Welt, die durch den Mund ihrer Theologen verkünden llässt, dass sie eigentlich gar keine sein will - "nur Glaube", "nur Gnade", als ob anschauliche Religion, festliche Religion, Religion mit Berührungsliturgien, mit Symbol- und Mythenfreudigkeit, nicht auch ein wesentliches, wenn auch immer bedrohtes Lob der Gnade in den Sinnen wäre. Diese Ängste haben inzwischen ihre Herrschaft über das moderne Christentum angetreten und befestigt auf dem Weg über eine aufgeklärte, bürgerlich-idealistische Theologie. Diese Theologie ist für mich nichts anderes als der theoretische Ausdruck dieser geradezu konstitutionellen Berührungsängste. Mit Berufung auf ihre Wissenschaftlichkeit, der alles Sinnenhafte und vor allem alles Praktische äußerlich zu bleiben habe, verbirgt sich diese bürgerlich-idealistische Theologie ihren irrationalen Kern.

Die Gnade soll nichts mit den Augen zu tun haben, nichts mit den Händen? Sind nur die Ohren begnadet, fürs Wort? Ist alles andere "profan", nur eine Frage der Anwendung des Christentums, nicht aber ein Ort der Erfahrung seiner Gnade?

Jesus setzt offensichtlich auf Sichtbarkeit und auf entschiedenes Sichtbarmachen, auf Fasslichmachen, Anschaulichmachen dessen, wie und woran Menschen leiden. Wir freilich, wir setzen auf Unsichtbarkeit. Unsichtbar ist die Gnade. Ist sie das wirklich? Etwas, wovon man überhaupt nichts sehen kann, das kann auch nicht unsichtbar sein - unsichtbar in dem Sinn, dass es den leibhaftigen Schmerz unserer Hoffnung weckt. Etwas, das man überhaupt nicht anfassen kann, das kann schließlich auch nicht unfasslich sein - unfasslich in dem Sinn, dass es die Leidenschaft unserer Sehnsucht auf sich zieht. Allzu sehr ist unser bürgerliches Christentum auf Unsichtbarkeit gegründet, auf Nichteinmischung, Nichtberührung, auf Dualismus. Und längst sind wir Meister geworden im Unsichtbarmachen. Die privilegierten Erfahrungen der Sichtbarkeit Christi - in den Begegnungen nämlich mit den Armen, mit den Unglücklichen, mit den Ausgestoßenen und Erniedrigten -: stehen sie wirklich im Mittelpunkt unserer so genannten "religiösen Erfahrungen"? Sind wir nicht alle, Protestanten wie Katholiken, eifrig dabei, gerade diese leidvollen Gegensätze zwischen arm und reich, zwischen glücklich und unglücklich, zwischen erfolgreich und unterlegen, zwischen - zwischen - zwischen - unsichtbar zu machen? Unsichtbar gerade dort, wo wir uns im Namen Christi versammeln? Von welcher Gnade sind wir dabei geleitet? Nennen wir die Gnade am Ende unsichtbar, damit vor allem unsere Sünde unsichtbar bleibe?

Die Zweite Reformation protestiert deshalb gegen die Herrschaft der unsichtbaren Gnade. Ohne sinnlichen Kampf gibt es für sie keine Mystik der Gnade. Sie zielt daher auf ein Christentum jenseits bürgerlicher Religion - auf dem Wege über die Anrufung und Entdeckung der Gnade im sinnenhaft-sozialen Leben.

 

Anrufung der Gnade in der Freiheit - die katholische Spielart der Zweiten Reformation

So wie es im Protestantismus eine Art konstitutionelles Misstrauen gibt gegenüber der Sinnenhaftigkeit, gegenüber der Sichtbarkeit und Anschaulichkeit der Gnade, kurzum gegenüber dem so genannten inkarnatorischen Prinzip, gibt es im Katholizismus eine Art konstitutionelles Misstrauen gegenüber der Gnade als Freiheit. Darum auch wirkt das Sinnenhaft im Katholizismus oft so verdinglicht, so sakramentalistisch und ritualistisch verzerrt, so monolithisch, so verordnet - als komme der Mensch in seiner Spontaneität und Freiheit darin überhaupt nicht vor.

Der protestantische Typ der Anrufung und Entdeckung der Gnade der Freiheit ist uns allen vertraut, er ist ausgebreitet vor uns in der Geschichte der Reformation bis in unsere Tage. Es handelt sich dabei um die Freiheit des einzelnen, der im Angesichte seines gnädigen Gottes niemandes Knecht und Untertan ist. Diese "Freiheit eines Christenmenschen" führte bekanntlich in höchst verschlungener Kausalität auch zur politischen Freiheit der Bürger. Daneben scheint mir ein anderer Typ der christlichen Freiheitsgewinnung, der Entdeckung der Gnade als Freiheit möglich. Vielleicht wird er einmal in einem künftigen ökumenischen Christentum der katholische genannt werden. Was meine ich? Es geht hier um die christliche Erfahrung der Freiheit als Befreiung: um jenen Prozeß, in dem "ein Volk" frei wird, sich herausgerufen erfährt und befreit zum Subjekt seiner eigenen Geschichte im Angesichte seines Gottes. Im Vordergrund steht hier nicht die isolierte Freiheitsgeschichte des einzelnen, sondern eine solidarische Befreiungsgeschichte: das Subjektwerden eines "Volkes", und darin natürlich und unbedingt auch der einzelnen.

Auch das Evangelium kennt nicht nur jenen paulinischen Typ der christlichen Freiheitsgewinnung, auf den die Reformation sich vor allem bezieht. Es kennt auch einen synoptischen Typ christlicher Freiheitsgewinnung. Ich denke an Jesus, der "das Volk" zu einem "neuen Volk" befreit, indem er sich nicht volkstümlich-populistisch auf es beruft, sondern es anruft und herausruft aus seinen archaischen Ängsten und Zwängen. Grob verkürzt könnte man deshalb vielleicht sagen, im Evangelium selbst seien schon zwei Stränge der Freiheitsgewinnung erkennbar, die freilich allemal miteinander verschlungen bleiben müssen: einer, der mehr individualistisch-liberalistische Züge trägt, und ein anderer, den man vielleicht eher sozialistisch nennen könnte.

Wenn man die reformatorische Anrufung der Gnade in der Freiheit als Anrufung der Gnade in der Befreiung versteht, hat dann nicht heute die reformatorische Stunde der Freiheit für den Katholizismus geschlagen? Schließlich zeigen sich gerade innerhalb der katholischen Weltkirche Ansätze zu einer solchen Anrufung der Gnade in der Befreiung armer und unterdrückter Menschen und Völker. Ich spreche von den Basiskirchen der Befreiung und auch von der Befreiungstheologie in den armen Ländern dieser Welt, vor allem auch - im Blick auf den Katholizismus - von der lateinamerikanischen Kirche; von ihren energischen Versuchen, den Erlösungsgedanken mit dem Befreiungsgedanken zu verbinden und die darin sich abzeichnende Gestalt der Freiheit als kostbare Erbschaft des Evangeliums zu leben und zu künden. Freilich, alles wird davon abhängen, ob der Katholizismus in unseren Ländern, in den reichen Ländern dieser Erde bereit ist, die providentielle reformatorische Sendung der armen Kirchen für die Gesamtkirche und für das ganze Christentum anzuerkennen und den Vorstoß dieses Freiheitsverständnisses ins Herz der Kirche zuzulassen und ihn nicht abzublocken mit dem Einwand, hier handle es sich allenfalls um eine entwicklungsspezifische Erscheinungsform der Kirchen in den so genannten "unterentwickelten" Ländern, wenn nicht gar um einen Verrat am christlichen Gnadengut.

Gewiss, diese Reformation käme weder aus Wittenberg noch aus Rom. Sie käme überhaupt nicht aus dem christlich-abendländischen Europa über uns, sondern aus dem Befreiungschristentum der armen Kirchen dieser Welt.

Ich sehe darin die Gefahr - und das auszusprechen, mag mir in dieser Stunde gestattet sein -, dass unsere katholische Kirche ihre reformatorische Chance versäumen könnte, in der sie in der Erfahrung der Gnade als Befreiung ihre Freiheitserfahrung macht. Durch diese Freiheitserfahrung würde sie dann wohl auch endlich mehr Zugang zu jener im Protestantismus erkämpften Freiheit der Christen finden. Sie würde dann in dem Ruf nach Freiheitsrechten in der katholischen Kirche und nach Bußfertigkeit der kirchlichen Autoritäten und Institutionen nicht einfach liberalistische Auflösungstendenzen sehen, sondern aus ihm jenen Protest heraushören, den das Evangelium selbst gegen unser tatsächliches kirchliches Leben erhebt.