Theodor Fontanes Verhältnis zur Religion und zur Kirche steht nicht im Mittelpunkt der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Beschäftigung um den märkischen Dichter. Dort, wo diese Frage auf Interesse stößt, wird zwischen seiner persönlichen Einstellung gegenüber dem bürgerlich geprägten Luthertum seiner Zeit und den von ihm geschaffenen Pastorengestalten seiner literarischen Werke unterschieden.
Zur Illustration seiner distanzierten Haltung gegenüber der protestantischen Kirche, die in erster Linie als Kulturkritik am wilhelminischen Bürgertum zu deuten ist, wird auf seine Briefliteratur verwiesen. So liefert hierzu Karen Herntrich zwei Zitate aus Briefen Fontanes: '"Die kirchliche Welt', so schrieb Fontane 1888 an seinen Freund, den Amtsgerichtsrat Georg Friedländer, 'hat an Lächerlichem und Bedenklichem vor dem Rest der Menschheit immer einen Schritt voraus'. Und als wäre dies nicht schon genug der scharfzüngigen Abrechnung, setzt er fünf Jahre später hinsichtlich des von ihm diagnostizierten allgemeinen Verfall des zweiten Standes im preußischen Kaiserreich noch einen obendrauf: 'Ich wüsste nichts zu nennen, was so in der Decadence steckte, wie das Luthertum.'" Zugleich weist Herntrich aber auch daraufhin, dass Fontane in seinem letzten Roman 'Stechlin', der kurz nach seinem Tode 1898 in der Buchausgabe erschien, "mit der Figur des Pastor Lorenzen eine der vortrefflichsten Theologengestalten der Literatur des 19.Jahrhunderts (kreiert hat), dessen Menschlichkeit und gelebte Nächstenliebe ihn ebenso auszeichnen wie seine erfrischende Modernität in Fragen des Glaubens und der Politik."
Dass die positive Wertschätzung lutherischer Pastorenfiguren nicht erst das Ergebnis recht später Einsicht Fontanes ist, zeigt sich allein schon in dessen Erfolgsroman 'Effi Briest' (entstanden 1888/89 - 1894) bei der Gestaltung des Pastors Niemeyer, Effis letztem Freund, der einzige, bei dem sie Trost und Vergebung gefunden hat. Ähnliches glt bereits für den frühen Roman 'Ellernklipp', wo sich die vortrefflichen Eigenschaften eines Pastor Lorenzen in der Figur des Pastor Sögel vorgezeichnet finden.
So ergibt sich die Möglichkeit, auch Fontanes 'Ellernklipp' anhand der literarischen Ausformung seiner Pastorengestalt zu erschließen.
Im folgenden soll jedoch ein anderer Interpretationszugang gewählt werden. Die Lektüre des Romans zeigt, dass sich Fontane bei der Stoffwahl seines Romans nicht nur einer Harzer Ortslegende, sondern auch in einer für ihn ungewöhnlichen Weise eines biblischen Textes, dem Buch Ruth, bedient hat. Somit lässt sich der Roman anhand einer Untersuchung der literarischen Bearbeitung eines biblischen Motivs erschließen. Dieser Zugang stellt eine für einen Grundkurs Religion methodisch leistbare Aufgabe dar.
'... dem nach, vor dem ich Gnade finde' - Zum Inhalt des Romans
Der Roman 'Ellernklipp. Nach einem Harzer Kirchenbuch' gilt gattungsmäßig als Kriminalroman und gehört zu den unbekannteren Romanen Fontanes. Mit seinem Entstehungszeitraum um 1879/80 ist es dem Frühwerk Fontanes, der sich erst im hohen Lebensalter zum Romanschriftsteller entwickelte, zuzurechnen. Der Roman ist relativ kurz und ist daher als Ganzschrift im Religionsunterricht durchaus einsetzbar.
Die Romanhandlung basiert auf einem Eintrag in das Ilsenburger Kirchenbuch, wonach im Jahr 1752 ein 19jähriger Jägerbursche durch seinen Vater ermordet wurde. Fontane, der die Gegend um Ilsenburg und Wernigerode 1878 bereist, greift den mittlerweile legendarisch gewordenen Stoff auf und schafft daraus eine tragische Geschichte über das Liebeswerben von Vater und Sohn um die gleiche Frau.
Den Handlungsort belässt Fontane in dem Harzstädtchen Werningerode, im Roman codiert mit dem Ortsnamen Emmerode. Auffälligerweise verlegt er jedoch den Zeitraum der Romanhandlung in die Jahre zwischen 1767 bis 1781, in die Drangzeit der Aufklärungsepoche (s.S.95), wenige Jahre nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (S.5).
Ähnlich wie das biblische Buch 'Ruth' beginnt Fontanes Roman, in dessen Zentrum ebenfalls eine weibliche Person steht, das Waisenkind Hilde, mit einem Todesreigen. Hilde ist das illegitime Kind des Grafen von Emmerode, der bald nach ihrer Geburt im Siebenjährigen Krieg fällt. Ihre Mutter, die für die Ehe mit einem Adligen ohnehin nicht standesgemäß gewesen wäre, heiratet notgedrungen einen besitzlosen Holzfäller. Erst kurz vor ihrem Tod findet Hilde vor ihrer Großmutter, der Gräfin, Akzeptanz und Aufnahme.
Während ihr Vater nun schon seit längerer Zeit tot ist, verstirbt die Mutter kurz vor Erzählbeginn. Pastor Sörgel nimmt sich des 10jährigen Waisenkindes an und sieht in den erst kürzlich verwitweten Forstverwalters und ehemaligen Soldaten (Heidereiter) Baltzer Bocholt den geeigneten Pflegevater. Baltzer Bocholt stimmt nach kurzem Bedenken der Aufnahme in seinen Haushalt zu und glaubt, ihr mit seinem Sohn Martin einen Bruder geben zu können (S.10, S.22 u.ö.).
Der Handlungsverlauf im Roman gestaltet anders sich als der in der biblischen Vorlage. Hilde entwickelt sich zu einer stillen, melancholischen veranlagten jungen Frau. Mit ihrer geheimnisvollen Ausstrahlung übt Hilde zunächst auf Martin (S.16) und dann auch auf den Pflegevater (S.44) einen anziehenden Reiz aus. Zwischen ihr und Martin entsteht im Laufe der Jahre ein zärtliches Liebesverhältnis, die aber die letztlich nicht mehr beherrschbare Eifersucht des Pflegevaters weckt. Die unerhörte Spannung zwischen dem übermächtigen Vater und seinem Sohn entlädt sich in einem Zweikampf auf Ellerklipp, einem steilen Felsvorsprung. Der Sohn stirbt, aber die Tat des Vaters bleibt unerkannt. Um ihren Geliebten beraubt, fügt sich Hilde den Wünschen des Forstverwalters und wird seine Ehefrau.
Diese so unglücklich begonnene Geschichte muss düster enden: Der Vater kann seinen Gewissensqualen nicht mehr standhalten und begeht Selbstmord. Ihr gemeinsamer Sohn wird nicht Glied einer bedeutenden Familiendynastie, sondern verstirbt bald nach seiner Geburt; und auch Hilde zerbricht schließlich unter ihrem Schicksal.
Die Verweise und Andeutungen des Romans auf das biblische Buch 'Ruth' sind hinsichtlich der Erzählstruktur, der Motivgestaltung und der Personenkonstellation augenfällig.
Die Verweisfunktion zeigt sich bereits in der Übernahme des Klangmaterials der biblischen Namen bei der Namensgebung der männlichen Figuren: So entspricht Boas Baltzer Bocholt, der dann ja auch im Roman die Rolle des Bräutigams übernimmt; Eli Melech, Noomis Ehemann, korrespondiert mit Melcher Harms, dem evangelikalen Vertrauten Hildes; und schließlich Machlon, Ruths verstorbener erster Ehemann, mit Martin. In der Dramaturgie Fontanes beruht demzufolge die Handlung auf einer Rivalität zwischen Boas und Machlon um Ruth: Martin unterliegt dieser Rivalität, Baltzer Bocholt erhält Hilde, er muss jedoch seinen Sieg mit seinem Selbstmord und dem frühen Tod seiner Söhne und Stammhalter bezahlen.
Hilde ist fern von der christlichen Religion aufgewachsen und gilt ebenso wie Ruth als Heidin (S.23). Erst durch Baltzer Bocholts Haushälterin Grissel lernt Hilde zu beten (S.18) und erhält Unterweisungen in die biblischen Geschichten und in das christliche Brauchtum (S.22f.). Bezeichnenderweise fällt Grissles Erzählung der Weihnachtsgeschichte als die Geburtsgeschichte "unseres Heilands", der Hilde fasziniert zuhört (S.23), zeitlich zusammen mit dem Brand des Hauses ihrer Mutter, von der sie wenige Monate zuvor ungerührt Abschied nehmen konnte (S.8ff.). Offenkundig lässt Fontane Hilde den Schritt zur 'Konversion' ebenso bereitwillig vollziehen, wie es der biblischer Erzähler von Ruth berichtet (s. Rt 1, 16f.).
Und danach ging es zu Tisch, und alle ließen sich den Weihnachtskarpfen schmecken und waren guter Dinge, nur Hilde nicht, die noch immer in fieberhafter Erregung nach dem dunkelgewordenen Bethlehem hinübersah und endlich froh war, als sie gute Nacht sagen und in die Giebelstube hinaufsteigen konnte. Hier stellte sie, was ihr unten beschert worden war, auf das oberste Brett ihres Schrankes und sagte zu Grissel, während sie den Binsenstuhl an das Bett derselben heranrückte: "Nun erzähle." "Wovon, Kind?" "Von der Jungfrau Maria." "Und von dem Jesuskindlein?" "Ja. Von dem Kindlein auch. Aber am liebsten von der Jungfrau Maria. War es seine Mutter?" "Ach, du Herr des Himmels!" entsetzte sich Grissel. "Hast du denn nie gelernt: Geboren von der Jungfrau Maria? Kind, Kind! Ach, und deine Mutter, die Muthe, hat sie dir denn nie das zweite Stück vorgesagt? Wie? Sage!" "Sie hat mir immer nur ein Lied vorgesagt." "Und wovon?" "Von einem jungen Grafen." "Und nichts von Gott und Christus? Und weißt auch nicht, was Weihnachten ist? Und bist am Ende gar nicht getauft? Und da lässt der Pastor dich herumlaufen, sagt nichts und fragt nichts, und der Böse geht um, und ist keiner, der ihm widerstände, der nicht den Glauben hat an Jesum Christum, unseren Herrn und Heiland. Ach, du mein armes Heidenkind...! Aber nimm dir ein Tuch um und wickele dich ein, denn es ist kalt, und dann höre zu, was ich dir sagen will." Und Grissel erzählte nun von Joseph und Maria und von Bethlehem, und wie das Christkind allda geboren sei. |
Im Zusammenhang mit zwei lebensgeschichtlich wichtigen religiösen Ereignissen - Konfirmation und Hochzeit - wird in Fontanes Roman explizit auf das Buch 'Ruth' Bezug genommen.
Im Konfirmandenunterricht, den sie gemeinsam mit Martin besucht, wird Hilde von Pastor Sörgel vor die Frage gestellt, welche biblische Frauengestalt ihr am liebsten sei. Nach kurzem Zögern entscheidet sich Hilde für Ruth (S.31). Ihr Hinweis auf die Ruth-Gestalt verweist zunächst auf die Analogie, dass sich Hilde wie Ruth bereitwillig in eine neue familiäre und religiöse Heimat begeben hat. Insofern dient hier Ruth für Hilde als ein Deutungsmuster ihrer eigenen Identität, in der sie sich als angenommenes Waisenkind wiederentdecken und damit erkennen kann.
Darüber hinaus ist in Hildes Entscheidung für die Ruth-Gestalt als erzählerisches Mittel die Vorausdeutung auf ihren künftigen Witwenstand enthalten. Sörgel ahnt diese Zusammenhänge sofort, geht ihnen aber nicht nach: "'Ruth", wiederholte Sörgel. 'Eine gute Wahl. Aber du weißt doch, sie war eine Witwe.'" (S.31) Für Hilde wird es eine doppelte Witwenschaft sein: nicht nur ihr Geliebter Martin, sondern auch ihr Ehemann Baltzer Bocholt werden vor ihr sterben.
"Sage, Hilde", so hieß es eines Tages, "du kennst so viele Frauen von Eva bis Esther. Nun sage mir, welche gefällt dir am besten und welche am zweit- und drittbesten? Und welche gefällt dir am schlechtesten? Gefällt dir Mirjam? Oder gefällt dir Jephtahs Tochter? Oder gefällt dir Bathseba? Du schüttelst den Kopf und willst von des Uria Weib nichts wissen. Aber du darfst es ihr nicht anrechnen, dass der König ihren Mann an die gefährliche Stelle schickte. Das tat eben der König. Und sie konnte es nicht ändern... Oder gefällt dir Judith?" "Auch die nicht. Judith am wenigsten." "Warum?" "Weil sie den Holofernes mordete, listig und grausam, und seinen Kopf in einen Sack steckte. Nein, ich mag kein Blut sehen, an mir nicht und an anderen nicht." "Ich will es gelten lassen. Aber wer soll es dann sein, Hilde? Wer gefällt dir?" "Ruth." "Ruth", wiederholte Sörgel. "Eine gute Wahl. Aber du weißt doch, sie war eine Witwe. |
Nach dem Tode ihres 'ersten' Mannes ist Hilde auf Baltzer Bocholt völlig angewiesen. Drei Jahre nach Martins gewaltsamen Tod heiraten beide. Der Erzähler, der die verronnene Zwischenzeit stark gerafft zusammenfasst und bspw. das Werben Baltzer Bocholts um Hilde ausspart, berichtet aus der Rückschau von der Hochzeit, die von Baltzer Bocholt gewollt und für Hilde unvermeidbar geworden ist. Die Traurede wird von Pastor Sörgel gehalten. Der Erzähler berichtet: "Er hatte den Text wohlweislich aus dem Buch Ruth genommen, weil er sich der Vorliebe Hildens für das Weib des Boas aus früheren Tagen her sehr wohl erinnert hatte. Der Text aber hatte gelautet: 'Und Ruth sprach zu Naemi: Lass mich aufs Feld gehen und Ähren lesen, dem nach, vor dem ich Gnade finde.'" (S.97; Rt 2,2) Der Trauspruch beschreibt präzis Hildes Situation. Aber sie folgt nicht dem Mann, den sie liebt - dies wäre Martin gewesen -, sondern sie muss demjenigen folgen, der ihr als Martins 'Witwe' Stand und Namen geben kann. Wirkliche Liebe bis hin zur Selbstaufgabe erfährt Hilde erst wieder am Ende ihres Leben (S.124f., vgl. S.120). Gemeinsam mit ihrer gräflichen Großmutter gibt sie sich "werktätiger Liebe" hin und begründet so "zum zweiten Mal ihr Haus". (S.124)
Hildes Trauung Und dann war der alte Sörgel von der Sakristei her erschienen und hatte vor dem Altar ein kurzes Gebet gesprochen, ernst und schön; aber eine kleine Weile, da war ihm das Zittern gekommen, an dem er noch mehr litt als an dem Schwindel, und sie hatten ihm einen Stuhl bringen müssen. Und weil er nun so niedrig saß, waren Baltzer Bocholt und Hilde niedergekniet, und so zu den Knienden hatte der Alte gesprochen und ihnen die Traurede gehalten. Er hatte den Text dazu wohlweislich aus dem Buche Ruth genommen, weil er sich der Vorliebe Hildens für das Weib des Boas aus früheren Tagen her sehr wohl erinnert hatte. Der Text aber hatte gelautet: "Und Ruth sprach zu Naemi: Lass mich aufs Feld gehen und Ähren lesen, dem nach, vor dem ich Gnade finde." So waren die Worte gewesen, über die der Alte geredet, eindringlich, liebevoll und kurz. Und als er zuletzt die Formel gesprochen und sie zusammengegeben, hatte sich Hilde von der Bank erhoben, auf der sie gekniet: aber Baltzer Bocholt war noch auf seinen Knien geblieben und hatte sich erst aufgerichtet, als ihm Hilde zugeflüstert, es sei Zeit. Und danach hatte jeder sehen können, wie's ihm um den Mund gezuckt, keiner aber deutlicher als der alte Melcher Harms, der all die Zeit über unterm Chorstuhl der Gräfin gestanden. |
'Ewig und unwandelbar ist das Gesetz' - Zum theologischen Gehalt
Der theologische Gehalt des Romans ist relativ kompliziert, da sich in den Glaubensmentalitäten der Personen verschiedene christliche und auch naturmagische Traditionsstränge z.T. auf widersprüchliche Weise vermengen.
Das Hauptthema des Romans ist die von der Gräfin, Hildes Großmutter, aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Gnade. Im Anschluss an die Hochzeit hat die Gräfin Melcher Harms, der bekannter weise einer pietistischen Erweckungsbewegung nahe steht, zu einer Gesellschaft eingeladen. Melcher Harms, der die Umstände von Martins Tod erahnt, orakelt, dass dieser nicht wieder zurückkommen werde: "Und wenn er wiederkommt, so kommt er, woher wir ihn nicht rufen können. Und kommt freiwillig, um noch zu ordnen, was zu ordnen ist. Denn ewig und unwandelbar ist das Gesetz." Zu ordnen wäre, so steht zu vermuten, die gerechte Bestrafung des Mörders. Die Gräfin entgegnet der dunklen Mutmaßungen Melcher Harms mit der Bemerkung, "ob nicht die Gnade mächtiger und unwandelbarer ist als das Gesetz" (S.99). Damit wäre durch die Gnade die unerbittliche Gesetzmäßigkeit des allein durch Ursachen und Folgen vorherbestimmten Lebens unterbrechbar und ein Neuanfang aus Schuld und Zerstörung möglich.
'Ewig und unwandelbar ist das Gesetz' "Setzt Euch, Melcher Harms. Hierher, bitte. Ich habe den Herren von Euch erzählt. Und der Herr General, der im Bekenntnis steht und an die Wunder und Wege Gottes glaubt, möcht Euch kennen lernen und ein Wort von Euch vernehmen. Ihr waret in der Kirche heute und habt den alten Sörgel gehört. Wie schien er Euch?" "Er hat mir das Herz getroffen. Und das hat er, weil er die Liebe hat. In der steht er und wirket in Segen, ob wohlen er den Quell des Glaubens vermissen lässt, um die, die wahrhaft dürsten, damit zu tränken. Er hat nur die zweite Liebe, die Menschenliebe... Zumeist aber liebt er die Hilde, das liebe Kind, das nun heute seines Pflegevaters ehelich Weib geworden ist. Und Gott gebe seinen Segen und tue das Füllhorn seiner Gnaden auf und wohl alles zum Guten und Besten wenden." "Aber, Vater, Melcher, das klingt ja fast, als fürchtet Ihr ein Gegenteil! Und ich denke doch, alles liegt gut. Ich habe wohl reden hören von des Heidereiters Sohn, und das sie den geliebt hätt und nicht den Alten. Aber Ihr wisst, wir haben ihn in unseren Amtsblättern aufrufen lassen und danach in allen Gazetten, ohne dass er gekommen wär oder ein Zeichen seines Lebens gegeben hätte. Und ist nun tot befunden und erklärt. Oder glaubt Ihr, er werde wiederkommen?" "Er wird nicht wiederkommen", antwortete Melcher, indem er seine Stimme hob. "Und wenn er wiederkommt, so kommt er, woher wir ihn nicht rufen können. Und kommt freiwillig, um noch zu ordnen, was zu ordnen ist. Denn ewig und unwandelbar ist das Gesetz!" Alle horchten auf. Die Gräfin aber entgegnete: "Ich weiß, Vater Melcher, dass Ihr an solche Erscheinungen glaubt, und ist nicht Ort und Stunde, dafür oder dawider zu streiten. Und auch nicht darüber - und hier verbeugte sich der alte General gegen die Gräfin -, "ob nicht die Gnade möchtiger und unwandelbarer ist als das Gesetz. Üb er all das nicht heute. Heute nur das: Ihr wisst, dass er tot ist?" Der Alte bejahte. "Nun denn, so seh ich nicht, was Euch Furcht oder Sorge schafft. Oder misstraut Ihr dem Manne? Dass er bei Jahren, ist nicht vom Übel. Es sind nicht die schlechtesten Ehen, wo der Mann sein Ansehen verdoppelt, weil er zugleich ein Vater und Erzieher ist. Ich hab umgekehrt mehr Ehen daran scheitern sehen, dass dies Ansehen fehlte. Der Baltzer Bocholt aber hat das Ansehen; er ist ein ehrenhafter Mann und wird die Hilde nicht an den Altar gezwungen haben." Der Alte schwieg. |
Diese den gesamten Roman prägende theologische Kontroverse spiegelt sich in der Konstellation der Personen Melcher Harms und Pastor Sörgel (s.S.36) wieder.
Die schillernde Figur Melcher Harms, der als Konventikler gilt, steht mal unter herrenhutischer und dann wieder einer geisterseherisch-magischen Strömung (s.S.53, S.73). Er steht für eine Glaubenshaltung, aus der eine extrem fromme und gesetzesstrenge Lebensgesinnung erwächst und die von einem antiaufklärerischen dämonischen Manichäismus geprägt ist (S. 55; im Orig. kursiv):
Gott und der Teufel "So gewiss ein Gott ist", erkärt er Hilde, "so gewiss ist auch ein Teufel. Und sie haben beid ihre Herrscharen. (...) An die lichten Heerscharen glauben, da sie, die Klugen und Selbstgerechten, aber an die finsteren Heerscharen, da glauben sie nicht. Und sind doch so sicher da wie die lichten. Und tun beide, was über die Natur geht, über die Natur, soweit wir sie verstehen. Und tun es die guten Engel, so heißt es Wunder, und tun es die bösen Engel, so heißt es Spuk. |
Pastor Sörgel, der als ein gutmütiger und eher konfliktscheuer Mensch geschildert wird, vertritt hingegen ein aufgeklärtes (S.54, S.95), 'mildes' Luthertum, der eine Vorliebe für das Alte Testament wegen seiner Vernunft und gleichzeitig eine starke Ablehnung gegenüber der Johannes-Offenbarung (S.30) und den Höllenvorstellungen eines Melcher Harms hegt (S. 36):
... muss es denn eine Hölle geben? "(...) Aber muss es denn eine Hölle geben? Meinst du, Hilde?' 'Ja, Herr Pastor.' 'Und warum?' 'Weil es gut und böse gibt und schwarz und weiß und Tag und Nacht.' 'Und von dem hast du das?' 'Von Melcher Harms' Ah, von dem!' antwortete der Alte. Ja, der tut es nicht anders. Und wir wollen es dabei belassen, wenigstens heute noch. Sind wir erst älter, so findet sich's, und wir reden noch darüber ..." |
Im Gegenzug urteilt Melcher Harms über Sörgel (S. 54f.):
Der ganze Glaube und die Vernunft "Und der Alte drüben ist arm und dunkel. Am dunkelsten aber da, wo seine Vernunft und seine Weisheit anfängt und sein Licht am hellen Tage brennt. Denn der halbe Glaube, der jetzt in die Welt gekommen ist und und mit seinem armen irdischen Licht alles aufklären und erleuchten will und sich heller dünkt als die Gnadensonne, das ist unnütz Licht, das bei Tage brennt. |
Zwischen diesen beiden Positionen pendeln die weiteren Personen des Romans. So steht Baltzer Bocholt zwar in Opposition zu Melcher Harms, dessen Einfluss auf Hilde er beargwöhnt (S.72), teilt aber dessen dualistisches Weltsicht (S.86). Baltzer Bocholt verkörpert das alttestamentliche Gesetz der 'ausgleichenden Gerechtigkeit' als das unbarmherzige, aber gerechte Gesetz der Lebenspraxis. Dieses Gesetz wird an einem Wilddieb exekutiert, den Baltzer Bocholt auf frischer Tat ertappt, sofort erschießt. Gegenüber Hilde rechtfertigt er seine Tat (S. 39):
Wer leben will, der muss scharf zufassen... "(I)ch will mich nicht versündigen an meinem Christenglauben. Aber was ein richtiger Heidereiter ist, der hält auf den Alten Bund und aufs Alte Testament. Und warum? Weil es schärfer ist und weil er's jeden Tag erfahren muss: Wer leben will, der muss scharf zufassen..." |
In dieser Deutungsperspektive muss ihm dann auch sein Selbstmord als zwangsläufige Folge dieses gnadenlosen Gesetzes erscheinen.
Der leitmotivisch verwandte Satz 'Ewig und unwandelbar ist das Gesetz ' (s.S.61, S.99, S.122, S.125) stammt nicht aus biblischer Quelle, sondern findet seinen Ursprung in der von einem gesetzlichen Christentum geprägten Deutungsperspektive menschlicher Leidenserfahrungen. Erstmalig erwähnt wird dieser Satz von Melcher Harms, der das kommende Unglück von Martin und Hilde voraussieht und es als ein unabwendbarer Schicksalslauf ihres Lebens auffasst: "Ich werde es nicht wegbeten, und keiner wird es. Ihr Blut ist ihr Los, und den Jungen reißt sie mit hinein. Es geschieht, was muss, und die Wunder, die wir sehen, sind keine Wunder... Ewig und unwandelbar ist das Gesetz.'" (S.60f.) Schließlich bestimmt Hilde diesen Vers für ihren ansonsten namenlosen Grabstein, obgleich "sie gebeten worden war, einen hoffnungsreicheren und christlicheren Spruch, einen Spruch von der Gnade und Liebe Gottes wählen zu wollen". (S.125)
Niemand kann sich, so die Lebenserfahrung der Menschen in Fontanes Roman, seinem vorherbestimmten Schicksal entziehen. Vor dem 'ewigen und unwandelbaren' Gesetz, so ist die Frage der Gräfin zu beantworten, kann der Mensch keine Gnade finden, weder bei Gott noch bei dem Menschen, erst der am Gesetz gescheiterte Mensch kann auf die Gnade Gottes hoffen. Die apokalyptische Vorstellung eines Kampfes zwischen "Gott" und "Teufel" und jeweiligen "Herrscharen" verbindet die Absage an die im Leben des einzelnen wirkenden Gnade Gottes zugleich auch mit der Absage an die Hoffnung der Aufklärung auf die Selbstbestimmung des Menschen. Wer in diesem Kampf der Macht des Bösen zum Opfer fällt, ist hoffnungslos verloren - so will es das ewige und unwandelbare Gesetz.
Fontane selbst jedoch eine antiaufklärerische Tendenz zu unterstellen, ist unzutreffend. Freilich lässt er seinen Erzähler eine aus den Fugen geratene Welt schildern, in der der Siebenjährige Krieg und die neuen, aufklärerischen Ideen die alten Ordnungssysteme durcheinandergebracht haben. Der aus Westfalen stammende Baltzer Bocholt, "der in jungen Jahren in Kur-Trier als Soldat gedient hatte", gelangt durch die Wirren des Krieges nach Emmerode, wo er durch Einheirat "ein über seinen Stand hinaus vermöglicher Mann geworden war" (S.5). Diese geographischen und gesellschaftlichen Veränderungen stellen zwar einen sozialen Aufstieg dar, sie beschreiben aber auch einen Verlust an Beheimatung, der der familiären Entwurzelung Hildes entspricht. Ungeachtet der Standesgrenzen ist sie ein in Liebe gezeugtes Kind zweier Menschen, die wegen dieser Standesgrenzen auch dann nicht zu einander hätten finden können, wenn der Vater nicht im Krieg gestorben wäre.
Auch in religiöser Hinsicht bleiben die gesellschaftlichen Veränderungen nicht ohne Wirkung. Schließlich trägt sich die Romanhandlung in einer Gegend zu, in dem die wieder aufgeflammten konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen Eichsfelde und dem protestantischen Braunschweiger Land (S.72f.) mit vorhandenen abergläubischen Vorstellungen (S.54) aufeinanderstoßen. In diesen Umbruchzeiten kollidieren junge Fortschrittsideen mit alten Glaubensgewissheiten, die nun umso beharrlicher um ihren Bestand kämpfen.
Aber ist sind nicht die durch Umbruchprozesse bedingten familiären, sozialen und religiösen Zerrissenheiten die für die Familienkatastrophe letztenendes verantwortlich zu machen ist. Vielmehr pochen die Vertreter der alten Ordnung - Melcher Harms, Baltzer Bocholt und zunächst auch die Gräfin - darauf, dass die Gesetze der überkommenden gesellschaftlichen (Stände-)Ordnungen angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen um so gnadenloser durchgesetzt werden müssen: Sie sind es, die den neuen, sich gerade erst artikulierenden individuellen Anspruch auf Selbstbestimmung und Lebensglück zu verhindern trachten.
Wo finde ich Gott in meinem Leben? - Zur didaktischen Relevanz
Durch welche - sozialen und familiären, vielleicht sogar religiösen - Gesetzmäßigkeiten ist mein Leben bestimmt, eventuell sogar vorherbestimmt? Wer ist der Herr meines Lebens - ein übermächtiges Prinzip namens Gott, oder ich selbst? Wem habe ich es zu verdanken, wenn es mir gut geht? Auf wessen Gnade kann ich setzen, wenn ich gescheitert bin? Wo kann ich Trost empfangen, wenn ich Leid erfahre?
Diese Fragen nach der Wirkmächtigkeit Gottes in der Lebenswirklichkeit des Menschen bilden die Erschließungsfragen, die an das Buch Ruth und an Fontanes Roman in vergleichender Weise angelegt und deren unterschiedliche Antworten miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Die biblische Ruth-Novelle erzählt von der Macht Gottes, der in seiner Gnade bittere Lebensschicksale zu einem positiven Ende (Mara - Noomi) wenden kann. Es warnt vor der Annahme, menschliches Leid als Ausdruck des Verlusts göttlicher Gnade zu deuten (Rt. 1,20ff.), und ermutigt, auf den für den Menschen nicht immer einsehbaren Plan Gottes mit dem Menschen zu vertrauen (Rt. 2,20). Diesem der Deutung menschlichen Leidens positiv zugetanenen Grundton kann sich Fontanes Roman nicht anschließen. Nach einem alles beherrschenden 'Tun-Vergeltungs-Prinzip' wird Leid als Ausdruck einer (über-)individuell zu verantwortenden Schuld gedeutet. Die Macht Gottes als ein in die Lebenswirklichkeit des Menschen einzugreifendes Regulativ wird durch die Vorstellung eines gnadenlose Gesetzes verneint.
Die affirmative Deutung positiver wie negativer Lebenserfahrungen als Ausdruck eines undurchschaubaren göttlichen Heilsplanes wird Schülerinnen und Schülern ebenso wenig wie die Bestimmung des Leids als Zeichen der Abwesenheit Gottes in der Welt als Antwortperspektive schlüssig und ausreichend sein. Diese Deutungsansätze werden jedoch die Möglichkeit zum Gespräch über Gotteserfahrungen eröffnen können.