Der Text ist entnommen:
Michael Wermke (Hg.), Rituale und Inszenierungen in Schule und Unterricht. Mit Beiträgen von B. Dressler, A.v. Friesen, Chr. Grethlein, H.-G. Heimbrock, M. Josuttis, M. Meyer-Blanck, Chr. Münz, O. Seydel, F. Steffensky, M. Wermke, Th. Ziehe. 171 Seiten, 15,90 Euro
Non scholae, set vitae discimus .... - So hieß es während meiner Schulzeit immer dann, wenn ein besonders langweiliger Unterricht die Frustrationsschwelle der Klasse auf den Nullpunkt abgesenkt hatte. Der hinsichtlich der Lernmotivation ziemlich hilflose Appell an die ungewisse Zukunft einer vielleicht in 10 bis 20 Jahren denkbaren Ingebrauchnahme toten Lernstoffs konnte natürlich nie recht überzeugen: Ein leicht durchschaubarer Entlastungsversuch des Lehrers, die Verantwortung für langweilige Lebensferne aufs Leben selbst abzuschieben - „Ihr sollt doch nicht meinetwegen lernen, sondern euretwegen; allerdings nicht für jetzt, sondern für viel später“. Dabei tobte doch ringsherum, auch in der Schule selbst, das Leben durchaus, wenn nicht gerade unterrichtserzeugte Langeweile herrschte. Ich wäre gern bereit gewesen, für die Schule zu lernen, statt für das ferne Zukunftsleben, und zwar durchaus „extrinsisch“ - wenn entsprechende Gratifikationen methodisch fruchtbar gemacht worden wären: Die Lernfreude, die Lust am Moment einer zündenden Einsicht beispielsweise hing doch nicht von der Nähe oder Ferne des Themas zu einem (welchem?) „Leben“ ab, sondern mindestens ebenso sehr vom Selbstgenuss der eigenen Schlauheit, vom anerkennenden Lächeln der herzklopfend verehrten Banknach-barin, gewiss auch von der Genugtuung über die gute Zeugnisnote. Ganz zu schweigen davon, dass oft gerade die Fremdheit eines Gegenstandes Neugier erzeugte, jenseits aller Verwertbarkeit.
Viel später las ich dann einmal, ich glaube, der Gedanke stammt von Rousseau, der Gütemaßstab von Schulunterricht habe sich an der Frage zu bewähren, ob er auch für den Schüler seinen guten Sinn gehabt habe, der morgen überraschend stürbe. Im Zeitalter der Curriculum-Theorien und Lernziel-Taxonomien erschien mir das ein seltsam tröstlicher und menschenwürdiger Gedanke.
Gegenwärtig geraten der Eigensinn von Schule und der Ruf nach Lebensorientierung in andere Konstellationen. Da wird die Schule als ein Ort eigenen sozialen Lebens neu in den Blick genommen , auch wenn es noch entschiedene Verfechter der Auffassung gibt, die Schule werde in erster Linie zum Zweck von Unterricht veranstaltet. Unter dem gemeinsamen Begriffsdach eines „Haus des Lernens“ werden sich vielleicht beide Konzeptionen einrichten können. Unter den Praktikern, die dieses Haus bevölkern - ob auch in der Praxis selbst, bleibe dahingestellt -, erfreut sich der Ruf nach Handlungsorientierung einer hohen Wertschätzung. Wer dem zu widersprechen wagt, wird es schwer haben, nicht als konservativ-verstaubt oder unkreativ-ausgebrannt zu gelten. Aber wie immer, wenn bestimmte Leitkonzepte ohne weiteres mit positiver Voreingenommenheit rechnen können, ist genauer hinzusehen und differenzierter zu fragen, von welchem Handeln denn dabei die Rede ist: Soll der Unterricht selbst als Handlung verstanden werden? (das klingt tautologisch); soll er möglichst die ganze Lerngruppe über rezeptiv-kognitive Lernhaltungen hinaus in beobachtbares Handeln verwickeln (welche Qualität hat das als Indikator von Lernprozessen)?; soll Handlungskompetenz über den Unterricht hinaus erworben und entbunden werden (für welche Situationskontexte, innerhalb welcher Evaluationsgrenzen)?
Auch wenn in diesem Zusammenhang nicht gleich mit anti-kognitivem Ressentiment der „Bauch“ gegen den „Kopf“ ausgespielt wird - ein glücklicherweise rückläufiges Regressionsmotiv, mit dem in den 80er Jahren Lernanstrengungen unterlaufen wurden -, so verbindet sich der Ruf nach Handlungsorientierung doch immer noch häufig mit der Forderung nach „Ganzheitlichkeit“. Oft spiegelt dieser Begriff nichts weiter als die inzwischen obligat gewordene Einsicht, dass der Kognitionsbegriff nicht mehr ohne eine methodische Vielfalt zu denken ist, die alle Sinne anspricht, ästhetische und leibliche Erfahrungsdimensionen in Lern-prozesse einbindet. Dennoch befördert die Rede von der Ganzheitlichkeit immer noch auch pädagogische Allmachtsphantasien, mit denen die Schule sich therapeutisch-moralisch er-mächtigt, den Zugriff auf die Kinder und Jugendlichen zu totalisieren, statt „intelligente Selbst-begrenzung“ gegen die subjektiven Selbstüberlastungsansprüche zu fördern und eine „Kunst der Trennung“ für die Entwicklung von Unterscheidungs- und Urteilsvermögen fruchtbar zu machen.
Für den Religionsunterricht ist die Frage nach Handlungsorientierung in dieser Situation auf besondere Weise zu präzisieren. Allein mit der Abgrenzung gegen die Vermittlung toten Lern-stoffes lässt sich religionspädagogisch kein reformerischer Funke mehr schlagen. Spätestens mit der „empirischen Wende“ am Ende der 60er Jahre ist die lebensweltliche Orientierung des Religionsunterrichts zu selbstverständlich geworden, als dass sich damit noch sein Profil schärfen ließe. Andererseits: In der Religion geht es auf besondere Weise immer um „das Ganze“ des Menschen und der Welt. Zugleich aber ist dieses Ganze in der jüdisch-christlichen Tradition unter dem Aspekt des Bilderverbotes dem begrifflichen und handelnden Zugriff ent-zogen; der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes ist in der christlichen Religion sich selbst zu seinem eigenen Besten entzogen. „Leben“, „Handeln“, „Ganzheit“ sind also hinsichtlich des Religionsunterrichts noch einmal genauer zu bedenken, als es für das schulische Lernen ohnehin gilt.
Schwundformen der Schulreligion und die Wiederkehr des Religiösen
Es ist noch nicht lange her, dass die Mehrheit der Religionslehrerschaft den Begriff „Säkularisierung“ als Schlüsselbegriff nannte, wenn das gesellschaftliche Umfeld des Religionsunterrichts ausgeleuchtet werden sollte. Die Kälte einer religionslos werdenden Welt: Unter dieser Prognose konnte die Religionspädagogik - sei es offensiv, sei es defensiv - auf Dietrich Bonhoeffers These vom religionslosen Christentum zurückgreifen, auf seine Auffor-derung, den Glauben an Gott in eine Welt hineinzubuchstabieren, in und mit der auch die Christen zu leben hätten „etsi deus non daretur - als wenn es Gott nicht gäbe“. So hatte man sich also vor allem des Beitrags zu erinnern, mit dem die Wirkungsgeschichte des christlichen Glaubens selbst in die neuzeitliche Säkularisierungsdynamik verstrickt war - jenes Beitrags zur profanen Verweltlichung der Welt, der sich schon auf den ersten Seiten der Bibel ankündigt, wenn der altantiken Kosmosfrömmigkeit nüchtern entgegengehalten wird, dass es sich bei Sonne, Mond und Sternen keineswegs um Gottheiten, sondern um Lampen handelt.
Unter diesen Voraussetzungen wurde unter Religionspädagogen kaum noch von Religion ge-sprochen - jedenfalls nicht von Religion, die sich der Begegnung mit Manifestationen des Heiligen verdankt, nicht von jenen leiblich-konkreten Formen der Religion, in denen Lob und Klage, Bitte und Dank uns gestaltet überliefert werden und die bei uns neue Gestaltungen evozieren können. Gerade diese Gestalten von Religion lassen sich nicht restlos und gar verlustfrei ins Medium argumentativer Rede, in die Plausibilitätsmuster reflexiver Rationalität übersetzen. Ästhetik und Liturgie blieben weitgehend aus der Religionspädagogik ausgeblendet - damit aber auch jene Erfahrungsdimensionen, aus denen religiöse Lebensformen erwachsen können, in denen allererst der kognitiv-distanzierte, gleichsam ethnologische Umgang mit Religion als einem bestenfalls interessanten, mehr oder weniger disponiblen Traditionsfundus aufgesprengt werden könnte. Es drohte das Bewusstsein dafür verloren zu gehen, dass nicht einfach wir die Religion ergreifen können, sondern dass wir uns von der Religion ergreifen lassen müssen , wenn sie denn mehr sein soll als ein steriles Bildungsgut im Ensemble anderer kulturhistorischer Bildungsgegenstände.
Vor diesem Hintergrund gediehen geschrumpfte Reduktionsformen des Religiösen. Die kritische Intention funktionalistischer Religionstheorien wurde ins Positive gewendet. Konser-vativ, indem unter dem Vorzeichen eines angeblichen Werteverfalls religiöse Traditions-bestände daraufhin befragt wurden, was sie denn vielleicht doch noch an gesellschaftlichen Integrationsmechanismen zu bieten hätten. Dieser funktionale Zugriff setzt sich bis heute fort, wenn unter dem allenthalben grassierenden Stichwort „Werteerziehung“ Religion als Sinn-ressource und als Lieferant sozialen Kitts verwertet werden soll. Die progressive Variante einer Ethisierung des Christentums unterscheidet sich davon allerdings weniger, als ihren Vertretern lieb sein kann , auch wenn sie ihr Interesse auf Emanzipation und Selbstverwirklichung ab-stellen. Für den Religionsunterricht lag hierin freilich eine Verlockung. Insofern er als Ethik-unterricht konzipiert wurde, schien er ja einem grundsätzlichen Dilemma entgehen zu können; dem Dilemma nämlich, unter den Bedingungen eines scheinbar weitgehenden Schwundes von Transzendenzerfahrungen dennoch religiöse Motive soweit als möglich im Medium von Reflexion und argumentierender Rede zu thematisieren.
Jedoch: Ein Religionsunterricht, der den christlichen Glauben wie jedwede Religion auf Ethik reduziert, blendet den einfachen und sogar aus der distanzierten religionswissenschaftlichen Perspektive erkennbaren Sachverhalt aus, dass Religion vor aller Ethik Apokalyptik ist , Auf-deckung eines Weltverhältnisses, in das wir Menschen gestellt sind. Ohne eine Weltdeutung stehen moralische Regeln appellativ im leeren Raum. Dies ist ja die - durchaus auch philo-sophisch nachvollziehbare - Kritik des christlichen Glaubens an den Illusionen neuzeitlicher Ethiken, die da meinen, den Anspruch des Unbedingten ohne die Erfahrung des Unverfüg-baren geltend machen zu können. Diese Kritik lässt sich übrigens einsichtig machen, auch ohne vorschnell und steil den Unterschied zwischen Evangelium und Gesetz in Anschlag zu bringen - eine Unterscheidung, ohne die aber immerhin eine christliche Religionspädagogik grundsätzlich nicht wird auskommen können. So viel lässt sich an dieser Stelle schon sagen: Wenn von Handlungsorientierung im religionspädago-gischen Zusammenhang geredet wird, muss damit mehr ins Spiel gebracht werden als ein ethisches Verhaltenskonzept, mehr als die handlungs-praktische Einübung von Verantwortungsregeln.
Nun stößt die Wirksamkeit eines moralisierenden Religionsunterrichts, je lauter der Ruf nach Werteerziehung mit dieser Wirksamkeit rechnet, heute auf noch engere Grenzen als schon bislang. Wir werden seit einigen Jahren Zeugen einer Verschiebung der eingangs genannten Problemkonstellationen. Der analytische und prognostische Gehalt des Säkularisierungs-theorems erweist sich gegenwärtig als - zumindest - differenzierungsbedürftig und als - zumindest - ergänzungsbedürftig. Ich spreche die in doppeltem Wortsinn unübersehbare „Renaissance des Religiösen“ an. In überraschenden Kontexten kursiert heute das Wort „Spiritualität“. Die raffinierte Ästhetik der Werbeclips bedient sich eines breiten Repertoires religiöser Symbole, von denen man doch annehmen durfte, sie seien für die große Mehrzahl der Konsumenten ohne jeden Bedeutungsgehalt. Im Katalog der „colours of Benetton“ wird jedenfalls traditionellen religiösen Zeichen der gleiche provokative Reiz zugerechnet wie dem blutverschmierten Hemd des gefallenen bosnischen Soldaten. Die Lektüre von Kleinanzeigen in bunten Großstadtmagazinen ähnelt mehr und mehr einem lexikalischen Durchgang durch die Welt der Meditationspraktiken und Geistheilungstechniken. Die Texte der Pop-Musik bieten religiösen Stoff in einer Fülle, wie sie kaum ein Religionslehrer seinen Schülern mehr zuzumuten wagte. Die Regale der Buchhandlungen bersten vor esoterischer Literatur und kaum noch überschaubaren Folgen der unendlichen Geschichte der Wahrheit über die Qumran-Texte. Kaum ein Politiker gleich welcher Couleur spricht bei ökologischen Themen nur von der Natur - es muss mindestens die Floskel von der „Bewahrung der Schöpfung“ bemüht werden. Aber auch jenseits des Trivialen: Vor unseren Augen werden die Physiker wieder fromm und basteln an den hölzernen Eisen erbaulicher naturwissenschaftlicher Theorien. Wenn Stephen Hawking über den Urknall und die schwarzen Löcher nachdenkt, tut er es nicht unter-halb des Anspruchs, den Gedanken Gottes auf die Schliche kommen zu wollen. In den nüchternen Diskursen der soziologischen Kommunikationstheorien ist ein neuer hoher Tonfall vernehmbar - das Verständigungsapriori wird in der Konfrontation mit religiösen Erlösungs-motiven begründet und zugleich hinsichtlich seines Heilsversprechens begrenzt - unter „escha-tologischen Vorbehalt“ gestellt. Und selbst das Feuilleton der „Frankfurter Rundschau“, einst eine Bastion religionskritischer Hardcore -Aufklärung bietet - nicht immer, aber immer öfter - unter dem Signum „negative Theologie“ Aufschluss über die jüdisch-christlichen Wurzeln der Kritischen Theorie. Ich lasse es einmal bei diesen Andeutungen, die natürlich genauerer Aus-führung bedürften. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass sich die „Renaissance des Religiösen“ nicht auf bestimmte Subkulturen und Milieus eingrenzen lässt, dass sie sich facettenreich und auf höchst unterschiedlichen intellekturellen Niveaus darstellt, jedenfalls nicht nur als kulturelle Regression abwerten lässt.
Zeitdiagnostisch scheint mir die „Renaissance des Religiösen“ höchst aufschlussreich zu sein. Schon der mit dem Datum „1968“ gekennzeichnete kulturelle Umbruch verband ja eine letzte Spätblüte des modernen Fortschrittspathos auf höchst widersprüchliche Weise mit dem Bewusstsein, dass eine auf instrumentelle Rationalität und auf Projekte technischer Machbarkeit gegründete Moderne nicht nur an ihre Grenzen stößt, sondern mit bislang ungekannter Barbarei schwanger geht. Was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch den Einsichten der avanciertesten Denker vorbehalten blieb - ich nenne nur Max Webers schwarzen Befund vom „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“ und die nicht minder düstere „Dialektik der Aufklä-rung“ von Horkheimer und Adorno - drang nach 1968 im Angesicht der ökologischen Krise ins allgemeine Bewusstsein ein. Durchs Ozonloch fällt ein scharfes Licht auf die moderne Zivilisation; dem kann sich insbesondere die nachwachsende Generation nicht entziehen, die ohne sentimentale Jugenderinnerungen an das „Projekt Moderne“ auszukommen hat.
Wenn Friedrich Kambartels prägnante Formel von der Religion als der „Kultur des Ver-haltens zum Unverfügbaren“ richtig ist, kann unter den kurz dargestellten Prämissen die „Renaissance des Religiösen“ nicht überraschen. Für eine das Christentum als Religion thematisierende Theologie verschieben sich damit ihre Problemkonstellationen: Im Vordergrund kann nicht länger die Bemühung stehen, die Anschlussfähigkeit des christlichen Glaubens an das moderne Bewusstsein nachzuweisen, indem der christliche Glaube selbst als eine der wesentlichen Inspi-rationsquellen der modernen Freiheits- und Emanzipationsgeschichte reflektiert wird. Vielmehr muss die christliche Religion ist zeitkritisches Potential zur Geltung bringen, indem sie die Gründe der Krise der Moderne aufzudecken hilft - aber ohne sich einfach auf die andere Seite zu schlagen und auszublenden, wie weit sie selbst in jene Hoffnungsgeschichte involviert bleibt, die mit dieser Krise nicht einfach aufzukündigen ist. In dieser Ambivalenz befände sich der christliche Glaube übrigens in guter Nachbarschaft zu den selbstaufklärerischen Strömungen der Aufklärung, die - wie bei Kant - immer schon die Grenzen menschlichen Denk- und Hand-lungsvermögens stark zu machen versuchten, ohne als Preis dafür die Subjekte schwach zu machen. Für die Religionspädagogik wäre damit der Blick auf die Ambivalenzen der „Renaissance des Religiösen“ geschärft: Weder kann sie die jugendlichen Sehnsüchte nach neuer Spiritualität einfach als esoterische oder gar sektenhafte Regressionen pauschal denun-zieren, noch darf sie die neoreligiösen Aufbrüche kurzerhand für sich selbst in Beschlag nehmen. Denn es bleibt ja unübersehbar: Die „Renaissance des Religiösen“ lebt bei Jugend-lichen - und nicht nur bei Jugendlichen - von Elementen und Motiven frei vagabundierender Religiosität, die zu rasch wechselnden Collagen verbunden werden. Das Interesse richtet sich dabei vornehmlich darauf, welche religiösen Deutungsmuster nach der Entzauberung der modernen Mythenentzauberung - im Anschluss an Max Weber kann die Moderne selbst als Entzauberungsmythos bezeichnet werden - Wiederverzauberungsbedürfnisse befriedigen. Die religiösen Traditionslinien verschwinden weitgehend hinter den frei kompilierten Versatzstücken aus unterschiedlichsten Traditionen. Insofern bleibt der mit der Säkularisierungs-diagnose verbundene Befund vom Traditionsabbruch weiterhin unter veränderten Vorzeichen aktuell. Das Christentum bleibt weitgehend eine Fremdreligion, auch wenn seine Hintergrund-thematik neu präsent und damit neu thematisierbar ist.
Die Analyse dieser neuen Problemkonstellation, mit der der Religionsunterricht zu rechnen hat, erhält eine weitere Kontur, wenn wir sie mit den seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückten Individualisierungsprozessen in Zusammenhang bringen. Ich greife hier nur zwei Aspekte heraus: Zum einen den wachsenden Zwang zur Wahlbiographie, der auch im Hinblick auf religiöse Welt- und Selbstdeutungen ein reflexives Wahlverhalten nach sich zieht. Zum anderen die Auflösung traditioneller sozialer und kultureller Milieus und der diese Milieus zusammenhaltenden unhinterfragbaren Selbstverständ-lichkeiten. Selbstverständlich gültig ist heute nichts mehr, alles ist der Reflexion und der Wahl unterworfen - an diesem Faktum kommt schon gar nicht der christliche Glaube vorbei und jede Predigt und jeder Religionsunterricht muss sich daran messen lassen.
Der Gegenstand des Religionsunterrichts ist die Erschließung von Religion
Zwischen den beiden Polen individuellen Glaubens und kirchlichen Christentums - darauf laufen die Individualisierungstheorien hinaus - wird zunehmend die lebensweltliche Mitte zer-rieben. Es versiegt der überindividuelle und nichtinstitutionelle Traditionsfluss, weil die sozialen Felder der Familie und der kulturellen und konfessionellen Milieus keine traditionsgenerierende Kraft, auch nicht mehr die Kraft zur personalen Verinnerlichung aufbieten. Das Pendant zur Individualisierung des Glaubens ist also - nicht als vormodernes Relikt, sondern gerade als religionssoziologisches Signum der Spätmoderne - die drohende Klerikalisierung des Glaubens. In der liberalen Variante: Die Kirchen werden zu Anstalten zur Pflege der religiösen Kulturtradition; in der fundamentalistischen Variante: Die Kirchen werden zu Hütern eines Bestandes an Wahrheiten, die auf keine außerkirchlichen Resonanzen mehr treffen.
Nun wird der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen diese Erosion der lebensweltlichen Mitte auch nicht annähernd kompensieren können. So viel aber lässt sich schon sagen: Obsolet wird die - in dieser Form wahrscheinlich immer schon problematische - Arbeitsteilung, wonach es in der Kirche und der sog. „Gemeindepädagogik“ um gelebte Religion und um die Vermitt-lung existentieller religiöser Erfahrungen zu gehen habe, das Ganze im Modus der Verkündi-gung, und der Schule dann deren reflexive Aufarbeitung zufalle. Wenn heute noch gelegentlich von eher älteren Religionslehrern zu hören ist, sie würden sich im Religionsunter-richt darum bemühen, „religiöse Verkrustungen“ aufzubrechen, sind dahinter in der Regel Projektionen der eigenen biographischen Befreiungserlebnisse zu vermuten, mit denen während des Theologiestudiums die binnenkirchlichen oder familiär erworbenen rigiden Frömmigkeits-formen „entmythologisiert“ wurden. Mit solchen Sozialisationsmustern ist aber heute kaum noch zu rechnen. Umso wirkungsloser wird ein sich von Text zu Text, von Arbeitsblatt zu Arbeitsblatt schleppender Religionsunterricht. Der dann oft gewählte Ausweg aus den damit verbundenen Frustrationserlebnissen führt nur noch tiefer ins Dilemma - wenn nämlich unter Berufung auf das Prinzip der Schüler- und Erfahrungsorientierung die Themen der Text- und Arbeitsblätter sich so weit verschieben, dass die berühmt-berüchtigte Schülerfrage, was das alles denn mit Religion zu tun habe, ihre Berechtigung findet. Indem der Überschuss religiöser Formen verschenkt wird, werden zugleich die Inhalte unkenntlich.
Dem Religionsunterricht, das ist meine These, stellt sich heute die Aufgabe, Zugänge zu Phänomenen der Religion aller erst zu erschließen. Angesichts des diffusen religiösen Inter-esses bei einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen stellt sich damit zugleich die Aufgabe, religiöse Phänomene bearbeitbar und explikationsfähig zu machen - und zwar nicht nur textlich und sprachlich. Denn das religiöse Interesse richtet sich heute immer schon auf religiöse Vollzüge, in wie auch immer rudimentären und depravierten Formen: Von okkulten Praktiken über ästhetisierende (Selbst)inszenierungen bis zu den quasi-gottesdienstlichen Feiern und Ritualen der Popkultur. Es versteht sich von selbst, dass dabei eine kognitiv-reli-gionskritische Bearbeitungsperspektive nicht ausgeschlossen bleiben darf. Bloße Affirmation verbietet sich schon aufgrund der leichtgläubigen positiven Voreingenommenheit für die bizarrsten Praktiken und absurdesten Vorstellungen, sofern sie sich nur möglichst stark von dem unterscheiden, was - immer noch - unter religiöser Konvention verstanden wird. Es muss also beides zusammengehen: Der Aufbau religiöser Entfaltungen und der Aufbau einer ele-mentar-theologischen Urteilsfähigkeit gegenüber dem religiösen Kitsch, den Inkohärenzen der Patchworkreligionen, aber auch gegenüber den ebenfalls erstarkenden rigiden Fundamen-talismen. Hierher gehört dann auch die Aufklärung, die nicht nur religionswissenschaftlich, sondern vom Evangelium her an den Selbstmissverständnissen zu leisten ist, denen die „Renaissance des Religiösen“ unterliegt. Denn so sehr sie als Reaktion auf den elementaren Mangel an einer „Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“ zu verstehen ist, bleibt sie doch noch viel zu häufig in den Selbsterlösungsvorstellungen befangen, die das religiöse Pendant der modernen Machbarkeitsphantasien sind.
Der Religionsunterricht, so kann man meine These wenden, hat verstärkt mit Problemen zu tun, „die da entstehen, wo der Glaube nur mehr ausgelegt und ‘verteidigt’, aber nicht mehr gemeinschaftlich gelebt wird“. Religiöses Bekenntnis geht nicht in Diskursen auf, sondern bedarf des Rückhalts von Lebensformen. Ohnehin ist die Wirksamkeit von Diskursen ohne solchen Rückhalt sehr begrenzt - das zeigt sich etwa an der Folgenlosigkeit appellativen Redens über die Probleme der ökologischen Ethik. Es geht aber nicht nur um die Reichweite von Wirkungen, sondern um ein hermeneutisches Problem. Das Evangelium ist ja nicht nur ein bewusstseinsphilosophisch beschreibbares Phänomen. Es bedarf der gestalteten Form, der - um mit Schleiermacher zu reden - Darstellung und Mitteilung des Glaubens. Begreifbar wird christ-liche Religion nur als kommunizierte, gestaltete, gefeierte Religion. Und weil der Gebrauch von Symbolen und Zeichen ihrer kritischen Reflexion vorausgehen muss , läuft die Erschließung der thematischen „Gegenstände“ des Religionsunterrichts auf ein abstraktes reduktionistisches Verfahren hinaus, wenn man sich nicht in ihren Vollzugssinn hineinbegibt. Musik ist ein Geräusch, solange ich mich nicht in ihren Vollzugssinn stelle. Liebe ist eine Funktion der Drüsensekretion, solange ich sie nicht erlebe und erleide. In vollzugsfremder Einstellung verschwindet die Musik, die Liebe, die Religion.
Die Konkretion religiöser Vollzüge schärft die Einsicht, dass es außerhalb der Grenzen empirischer Religion keine allgemeine Religiosität gibt, es sei denn als abstraktes religions-wissenschaftliches Konstrukt. So wenig der Religionsunterricht Religion in einem geschlossenen, materialen Bildungskonzept objektivieren, also reduktionistisch behandeln darf, so sehr ist die religiöse Bildung andererseits „nur im Hinblick auf die Gestalt einer empirischen Religion möglich. Nur so gewinnt sie überhaupt bildende Funktion.“
Der Religionsunterricht soll zum Gebrauch von Religion befähigen
Angesichts der schwindenden Bindungskräfte der empirischen Religion - im Hinblick auf das Christentum: der konfessionell verfassten Kirchentümer - ist auf den ersten Blick der Gedanke naheliegend, Konfessionalität und schulischen Religionsunterricht zu entkoppeln, also einen allgemeinen Religionsunterricht für alle Schüler einzurichten, ohne Abmelderecht und ohne Ersatzfach. Wenn aber die Kritik an den kognitiven Verengungen des herkömmlichen Religionsunterrichts auch nur im Ansatz berechtigt ist, dann ist dieser Ausweg sogleich wieder verstellt - und ich lasse an dieser Stelle einmal alle anderen Aspekte, die im Zusammenhang mit der Konfessionalität des Religionsunterrichts und der Geltung des Art. 7,3 GG zu erörtern wären, außer acht. Denn ein allgemeiner Religionsunterricht könnte seinen Gegenstand gar nicht anders als unter religionskundlichem Blickwinkel bearbeiten, in objektivierend-distanzierter Neutralität. Und zwar nicht nur aus wissenschaftstheoretischen und didaktischen Gründen, sondern weil eine allein staatlich verantwortete Religionskunde aufgrund Art. 4 GG enge Grenzen im Hinblick auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit zu respektieren hätte. Das ändert sich auch dann nicht, wenn in diesem Zusammenhang für eine Mitverantwortung aller, also nicht nur der christlichen Religionsgemeinschaften plädiert wird, und zugleich auf die wachsende Notwendigkeit eines interreligiösen Dialogs verwiesen wird. Denn ein explikations-fähiger Gegenstand käme auf diese Weise nicht zustande, ganz zu schweigen davon, dass im Hinblick auf den interreligiösen Dialog die Schule als Unterrichtsschule heillos überfordert wäre. Nicht nur aus pädagogisch-didaktischen Gründen kann die Schule nicht etwas leisten, was es in der Gesellschaft noch gar nicht gibt. Vor allem kann der Dialog kein Medium der Wahrheitsfindung sein. „Interreligiöser Dialog setzt nicht nur prozedural ‘Dialogfähigkeit’ voraus, sondern jeweils Überzeugungen, die in den Dialog eingebracht werden und in denen der Dialog mündet. Diese Überzeugungen stehen aber nicht zur Disposition eines Konsenses“. Dialoge sind nicht ohne die Möglichkeit bleibender Differenzen denkbar. Nicht der Konsens, sondern die Anerkennung der Differenz ist der Ernstfall der Toleranz. Gerade wenn man nicht von einem doktrinären Wahrheitsverständnis der Religion ausgeht, geschieht auch die theoretische Erfassung der Wahrheit auf zweierlei Weise, als Lebensregel und als Bekenntnis, also nicht jenseits religiöser Vollzüge.
Handlungsorientierung als ein Prinzip des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen lässt sich nun etwas grundsätzlicher bestimmen. Ich wechsele dazu die Perspektive und argumentiere vom Standpunkt des Staates und seiner Verfassung: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unver-letzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ (Art. 4 GG) Diese Grund-rechte begrenzen den Staat auf die Rolle weltanschaulicher Neutralität. Sie begrenzen damit aber nicht die Religion auf den Status einer Privatangelegenheit, schon gar nicht - wie in der ehemaligen DDR - mit der Absicht, sie als Privatsache öffentlich wirkungslos zu machen. Die aktive Inanspruchnahme dieser Grundrechte zielt vielmehr auf die Konstitution eines zwischen Staat und Privatsphäre ausgespannten Raumes pluraler Öffentlichkeit, in dem es um mehr geht als um den Austrag politisch-pragmatischer Sachkontroversen und um deren formale Verfahrensregeln. Zwar haben Absolutheitsansprüche im öffentlichen Raum der res publica nichts zu suchen. Doch schließt die Bildung politischer Partizipationsfähigkeit die Einsicht ein, dass die pluralistische Demokratie ihre regulativen Ideen und Grundwerte aus sich selbst weder hervorbringen noch garantieren kann. Sie sind zwar weltanschaulich neutral formuliert, ihre je-weilige Anerkennung durch die einzelnen Staatsbürger verlangt aber mehr als Klugheitserwä-gungen, denn die Gründe der Selbstachtung und der moralischen Integrität verlangen, die Motive dieser Anerkennung an den je eigenen Selbst- und Weltdeutungshorizont anschließen zu können, und zwar ohne den Zwang eines öffentlichen Konsenses.
Von historisch-politischer Bildung ließe sich sagen, sie ziele ab auf Urteilsfähigkeit und Parti-zipationsfähigkeit in öffentlichen Angelegenheiten, im Bewusstsein der gegenüber Absolutheits- und religiösen Unbedingtheitsansprüchen gezogenen Grenze. Aber auch hier sind unsere Fragen an der Grenze nicht zum Verstummen zu bringen. Man muss dazu gar nicht nur an Extrembeispiele wie den § 218 denken. Es ist nun ein Unterschied, ob Schüler im Bedenken dieser Grenze für den angemessenen Umgang mit den über die Grenze hinausreichenden Fragen gebildet werden - das sollte auch jeder demokratischen politischen Theorie gelingen - oder ob ihnen der angemessene Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses erschlossen werden soll. Eben dies ist im Vergleich mit der historisch-politischen Bildung eine zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen: Er soll die Möglichkeit öffnen, Religion in Gebrauch nehmen zu können, also zur aktiven Inanspruchnahme der in Art. 4 garantierten Grundrechte befähigen und damit gleichsam einen Beitrag für die Ressourcenquelle und den Resonanzkörper leisten, die der öffentlichen Debatte über politische Fragen vorausliegen und sie überwölben. Wenn das zu funktionalistisch klingt, lässt sich auch anders sagen: Der Reli-gionsunterricht leistet damit einen Beitrag dafür, dass die Menschen die sie bewegenden per-sönlichsten Fragen nach Maßstäben und Kraftquellen gelingenden Lebens nicht dem Forum demokratischer Debatte und Abstimmung ausliefern, sie aber gleichwohl zu ihren politischen Überzeugungen und Aktivitäten als Staatsbürger in Beziehung setzen können. Angesichts der bedrückenden Vision, demokratische Mehrheitsbeschlüsse könnten elementare Menschenrechte abschaffen, droht es zur Überlebensfrage zu werden, wie eine aufgeklärte Gesellschaft jenen Anspruch der Wahrheit in Erinnerung und aufrecht erhält, der sich politischer Meinungsbildung entzieht. In der Überschreitung religionskundlicher Distanz muss der Religionsunterricht auch Anwalt der Wahrheitsfrage sein - und als Anwalt des Unverfügbaren wird er das können, ohne damit Absolutheitsansprüche zu befördern.
Es ist entscheidend für die Befähigung, das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit wahrzunehmen, dass damit mehr als die Teilnahme am öffentlichen Räsonnement über Religion intendiert ist. Dafür würde die distanzierte, objektivierende Sicht einer allgemeinen Religionskunde durchaus genügen. Diese Dimension kommt im Religionsunterricht auch zu ihrem Recht, und insofern schließt er selbstverständlich die kognitiv-reflexive Ebene der Überprüfung von Argumenten ein. Überhaupt wird das religionspädagogische Proprium als die Perspektive, unter der Themen und Problemkonstellationen bearbeitet werden, nicht dadurch wirksam, dass es unablässig ex-plizit thematisiert wird. Und die Erschließung religiöser Praxis wird sich nicht daran messen lassen dürfen, wie weit sie den Religionsunterricht quantitativ-zeitlich dominiert. Es geht, wie gesagt, um die Veränderung einer Perspektive, in der dann auch die jetzt schon üblichen Themen und pädagogischen Praxisformen in ein anderes Licht rücken werden. Jedenfalls würde ohne die Bemühung um Plausibilität die Kritikfähigkeit, von der gegenüber den neo-reli-giösen Suchbewegungen die Rede war, gar nicht zum Zuge kommen. Aber Bekenntnis, confessio, schließt mehr ein. Es ist nicht gleich an die prophetische Aura des „Hier stehe ich ich kann nicht anders ...“ zu denken. Kein Authentizitäts- und Betroffenheitskult soll gepflegt werden, sondern der Glaube soll expliziert werden, und zwar mit Leib, Seele und Verstand.
Religionsunterricht als Feld religiösen Probedenkens und Probehandelns
Was bedeuten diese Überlegungen nun für den Religionsunterricht an einer Schule, die zu-nehmend weniger über die Inhalte und die Gestaltung von Unterricht allein definiert werden kann, die immer stärker zum Aufenthaltsort der Kinder und Jugendlichen geworden ist, ohne bereits in ausreichendem Maße ein gestalteter sozialer Lebensort geworden zu sein? Ich wende den Blick nicht kurzerhand öffnend nach außen und schließe nicht an jene Konzepte an, die im Extrem auf die romantische Abschaffung der Schule hinauslaufen. Das emphatische „Leben“, dem die Schule sich nach manchen reformpädagogischen Konzepten öffnen soll, ist so un-schuldig ja auch nicht. Und schulisches Lernen wird immer darauf angewiesen bleiben, dass die Unmittelbarkeiten des Lebens durch Moratorien unterbrochen werden. Nur durch die reflexive und ästhetische Brechung der Alltagsrealität sind Lernprozesse denkbar, die sich nicht affirmativ „dem Leben“ ausliefern. Bildung bleibt ein kontrafaktisches Unternehmen. Sie hat ihre Lerngegenstände nicht in und an der Wirklichkeit von alleine, sondern bedarf des Umwegs, der Verfremdung, der kognitiven Dissonanz. Das vermeintlich Vertraute wird erst gesehen, wenn es unvertraut gemacht wird. So muss der Lehrer auch der Repräsentant des Andersartigen, Fremden sein und die „Welt“ entkonventionalisieren, bevor sie vermittelt werden kann. Das sind allgemeine lerntheoretische und didaktische Standards, die im lauten Ruf nach der Öffnung der Schule nicht überhört werden sollten. „Lebensnähe, freiere Sozial-formen, Ganzheitlichkeit gehören ... selbst bereits ... zum ‘progressiven Alltag’ der meisten Normalschulen. Lebensnähe, freiere Sozialformen, Ganzheitlichkeit sind ironischerweise keine erfrischenden Gegenprinzipien mehr, die man heute noch triumphierend-fordernd der Schul-realität entgegenhalten könnte. Sie sind selbst insoweit kalt gewordener Kaffee, als sie von kulturellen Modernisierungstendenzen längst eingeholt, überholt und damit trivialisiert worden sind. Alles schon zu kennen, alles zu zerstreuen, alles auf sich zu beziehen ist bereits das Ge-wohnte“. Unterricht, der Lernchancen eröffnen soll, hat sich als künstlich-kunstvolles In-szenierungsgeschehen gerade von der Formlosigkeit des Alltagslebens zu unterscheiden.
Es ist ja gerade die Pointe didaktischer Strukturen, dass Lerninhalte im Gegensatz zur traditionellen Hermeneutik nicht einfach mitgeteilt, aber auch nicht einfach in einem unstrukturierten Er-fahrungsraum herausgefunden werden. Sie müssen vielmehr allererst dargestellt werden; in der relationalen Struktur des „didaktischen Dreiecks“ zwischen Lehrenden, Lernenden und Lern-gegenständen werden die Gegenstände jeweils neu erschaffen. Das traditionelle Modell des Lesers, der einen Text so versteht, wie dieser verstanden wissen will - als existiere eine Text-intention unabhängig von jeweils unterschiedlichen Rezeptionen -, hat didaktisch ausgedient. Darstellungsformen sprechen eigene Sprachen: Damit muss bewusst, inszenatorisch, umge-gangen werden. Unterrichtsinhalte gibt es nicht anders als in bestimmten Präsentationsformen. Wahrscheinlich gibt es keine langweiligen Inhalte, sondern nur langweilige Inszenierungs-techniken. Unterrichtsgegenstände müssen signifikant gemacht werden - fraglich, auffällig, streitbar gestaltet werden -, statt dass von ihnen Antworten auf nicht gestellte Fragen erwartet werden. Zudem entsteht die Inszenierung von Unterricht nicht so sehr durch die Zergliederung von Lernstoff, sondern dadurch, dass Schüler die Chance erhalten, von Statisten zu Hauptdarstellern zu werden, und zwar nicht, indem sie sich selbst spielen, sondern in Rollen neue Erfahrungen erschließen. Dabei werden Tätigkeiten entbunden und Produkte hergestellt, nicht aber Gegenstände lediglich reproduziert. Bildende Lernprozesse sollen die Subjekte unterstützen, der sozialen und psychischen Faktizität etwas entgegenzusetzen, und eben des-halb ist der höchste Realitätsdruck selten der günstigste Lernkontext. Das gilt auch für die Forderung nach Motivation durch „Betroffenheit“. Wo nur das interessiert, was mich be-troffen macht, geht mit dem Reiz des Fremden zugleich die kritische Distanz zur Realität ver-loren. Betroffenheit stellt die Schüler mit dem Rücken an die Wand. Wir dürfen nicht nur sozialisationstheoretisch danach fragen, was Jugendliche im Leben "brauchen", um sie dann dem Sog der Modernisierungsprozesse auszuliefern. Wir müssen bildungstheoretisch danach fragen, wie mit den Ambivalenzen der kulturellen Modernisierungen verfahren werden kann, ohne dass die regressiven Sicherheitsbedürfnisse die Oberhand gewinnen. Es liegt auf der Hand, dass mit dieser allgemeinen Fragestellung unmittelbar jene spezifischen Phänomene berührt werden, die religionspädagogisch zu bedenken sind. Als Anwalt des Unverfügbaren hat der Religionsunterricht kontrafaktisch jener Realität etwas entgegenzusetzen, die am Ende der modernen Machbarkeitsphantasien menschliches Denken und Handeln nur im engen Rahmen selbstgemachter Sachzwänge zulässt. Der Religionsunterricht hat sich an der Gestaltung der Schule als einer „Proberealität“ zu beteiligen, einem Raum für „Probedenken“ und „Probe-handeln“.
Eine solche „Proberealität“ trägt der Tatsache Rechnung, dass Religion nicht allein aus einer Außenperspektive verstanden werden kann. Natürlich: Als gebildete, also zu Reflexivität befähigte Menschen nehmen wir immer zugleich auch Außenperspektiven ein, können uns selbst auch im Vollzug zum Beispiel einer liturgischen Handlung betrachten wie der Ethnologe die Regentänzer. Die Fähigkeit und die Nötigung zur Selbstdistanz gehören zur Gewinn- und Verlustbilanz kultureller Modernität und Pluralität. Niemand von uns - bei Lichte besehen auch nicht der Fundamentalist - kann noch allein binnenperspektivisch eine Religion wahrnehmen. Aber niemand von uns kommt ohne eine religiös-weltanschauliche Binnenperspektive aus. So könnte das Ziel religiöser Bildung in der Fähigkeit zum situativ angemessenen Wechsel zwischen Außen- und Binnenperspektive, gar zur lebensgeschichtlichen Gleichzeitigkeit von Außen- und Binnenperspektive gesehen werden.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat für beide Perspektiven eine prägnante Formulierung gefunden: Im Reden über Religion wird beobachtet, so Luhmann, wie Religion die Welt be-obachtet - die Außenperspektive. Im Vollzug einer Religion als Religion wird die Welt be-obachtet - die Binnenperspektive; aber nicht als borniertes Schmoren im eigenen religiösen Saft, sondern als ein besonderer Blick auf die Welt, der neben andere Blicke auf die Welt treten kann oder mit ihnen konkurrieren kann. Religiöse Bildung ohne Beachtung dieser welterschließenden Dimension von Religion ist wertlos. Sie bliebe für die Welt- und Selbst-deutungsfähigkeit und damit für das Orientierungswissen von Schülerinnen und Schülern in der kulturellen Pluralität belanglos. Freilich ist der Vollzug einer Religion in der Schule und in unterrichtlichen Lernprozessen wiederum nicht unmittelbar möglich, nicht ohne reflexive Distanzspielräume. Sonst wäre Religionsunterricht eben doch Kirche in der Schule, abgesehen davon, dass Lernprozesse nicht ohne kognitive Dissonanzen denkbar sind, Handlungsvollzüge dabei immer wieder reflexiv unterbrochen werden müssen, gewissermaßen nach dem Prinzip beobachtender Teilnahme - weder nur Teilnahme mit Haut und Haaren, noch nur Beobachtung aus sterilem Abstand. Religiöse Bildung wäre dann beschreibbar als ein Lernen durch Probe-denken und Probehandeln. Dieser Lernprozess kennt keinen Gesinnungsnumerusclausus, keine Zugangsbeschränkung durch die vorab verlangte Zustimmung zu einem Glaubensbe-kenntnis. Der Satz „deus datur“, es gibt Gott, hat in diesem Lernprozeß weder als Voraus-setzung noch als Kriterium des Lernerfolges etwas zu suchen. Religiöse Bildung setzt sich aber ebenso wenig der in den modernen Wissenschaften obligatorisch gewordenen Prämisse eines methodischen Atheismus aus: „Etsi deus non daretur“ - als wenn es Gott nicht gäbe. Religiöse Bildung eröffnet vielmehr einen Blick auf die Welt unter einer Hypothese, gewissermaßen als Weltbetrachtungsexperiment: Wie könnte ich mich und die Welt neu sehen und verstehen, „etsi deus daretur“ - als wenn es Gott gäbe. Unter dieser Perspektive ordnen sich die Konfigura-tionen von Ich, Leben und Welt neu und anders. Bestimmte Selbstverständlichkeiten geraten ins Wanken, werden verlernt. Solches Lernen öffnet Möglichkeiten des Glaubens; ob diese Möglichkeiten ergriffen werden, liegt nicht im Vermögen der Lehrenden.
Um ein Beispiel aus dem Schulalltag zu geben: In einer Unterrichtsstunde zum Thema „Okkultismus“ in einer 8. Klasse projiziert der Religionslehrer ein Bild, auf dem Jugendliche beim Gläserrücken dargestellt sind. Nach einem kurzen Gespräch wird die Aufgabe gestellt, für die abgebildeten Jugendlichen Sprechblasen zu beschriften, auf denen die Fragen nach ihrer Zu-kunft formuliert sind, die sie beim Gläserrücken vermutlich beschäftigen. Die Klasse arbeitet zunächst durchaus lebhaft mit. Spätestens als die Sprechblasen an der Wand hängen, macht sich Leerlauf breit. Es entwickelt sich ein redundantes Gespräch, in dem nur noch einmal ver-doppelt wird, was ja als eigener Erfahrungs- und Bewusstseinshorizont der Schüler schon schriftlich fixiert vorliegt. Auch die Frage, ob man denn wirklich wissen wollen solle, was die Zukunft an Unerwartetem bereithalte, gibt dem Gespräch keinen „Kick“. Beunruhigung durch Kontingenz verschafft sich gegen die Schulalltagsroutine im Setting von Reden, Schreiben, Drüber-Reden gar keine Geltung.
In einer anderen Klasse verläuft die Stunde zunächst nach dem gleichen Plan. Nach einer ersten kurzen Gesprächsrunde über die Sprechblasen mit den Zukunftserwartungen erhält der weitere Fortgang aber durch eine ganz unspektakuläre kleine Drehung eine unerwartete Wendung. Nach dem Arbeitsauftrag „Formuliert jetzt die aufgeschriebenen Fragen an die Zukunft in Bitten um“, entdecken die Schüler, dass die nun entstehenden Sprechblasentexte „eigentlich“ Gebete sind. In einem ersten kurzen Gesprächsgang wird ansatzweise deutlich, was ich kurz auf sprachtheoretischer Ebene reformuliere: Der illokutionäre Gebrauch der Gebetssprache, also der Versuch, Gott zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen, würde sich von der magischen Praxis, ein bestimmtes Zukunftsereignis herbeizuzwingen zu versuchen, kaum unterscheiden; aber schon in der Sprachform der Bitte scheint eine andere Umgangsweise mit Kontingenz auf, wodurch das perlokutionäre Selbstverständnis der Sprechenden das Gesagte im Vollzug des Gebetes wahr werden lässt - zwar nicht im Sinne einer garantierten Erfüllung der Bitten, wohl aber in dem Sinne, dass eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott die Einstellung zur verborgenen Zukunft verändert. Es taucht dann am Ende der Stunde der Vor-schlag auf, ein Gebetstext bedürfe doch einer besonderen sprachlichen Gestaltungsform. Denk-bar wäre nun eine Fortsetzung der Arbeit mit den von der Klasse entwickelten Gebetsformularen im Sinne einer liturgischen Erprobung : Was bedeutet gemeinsames Sprechen der Texte im Unterschied zum stillen, individuellen Murmeln? (Vergewisserung oder Uniformierung?); Welche Körperhaltung, welche Laut-stärke und Stimmodulation passt zum Text? (und wie drückt sich dabei Zustimmung oder Skepsis aus?); Wie ändert sich der Text durch Untermalung mit Rhythmusinstrumenten oder durch Vertonung? usw.
Diese Arbeit ist strikt zu unterscheiden von dem liturgischen Akt eines gemeinsamen Schulgebets. Aber mittels dieser probeweise Ingebrauchnahme einer religiösen Sprachform können die Schüler sich für die Möglichkeit religiöser Erfahrungen öffnen, ohne dass ihnen der Weg zurück in die skeptisch-analytische Distanz verbaut wäre. Religiöse Gestaltungsformen haben ihre eigenen Dynamiken, evozieren nicht nur bestimmte Atmosphären, sondern sind auch gesättigt mit Vor-Erfahrungen, aus denen heraus sie tradiert werden. Es ist weniger wahr-scheinlich, dass ein über eine intellektuelle Einsicht oder eine existentielle Betroffenheit angestoßener religiöser Überzeugungsinhalt mittels religiöser Ausdrucksformen Mitteilbarkeit und Konstanz erhält. In dem Sinne, dass religiöses Lernen von außen nach innen verläuft, über Gewohnheiten und Gestaltungen schrittweise an religiöse Tiefendimensionen heranführt, kann man eher sagen: Wie das Sprachsystem allererst kognitive Erfahrungen konstituiert, konstituiert in analoger Weise das Religionssystem allererst religiöse Erfahrungen und verleiht ihnen nicht nur nachträglich Ausdrucksformen. Wer den Gebrauch religiöser Zeichen lernt, wird darüber - der Möglichkeit nach - religiös.
Handeln in der Schule als öffentlichem Raum
Mit der emphatischen Forderung nach einer Öffnung der Schule richtet sich der Blick in der Regel nach außen. Ich möchte nun stattdessen den Blick nach innen öffnen, und zwar auf das, was Thomas Ziehe „die Sozialität“ der Schule jenseits der Grenzen von Unterricht und Klassenzimmer genannt hat, einen öffentlichen Raum sui generis. Es stellt sich eine ganz ähn-liche Konstellation dar, wie sie für die Erosion der lebensweltlichen Mitte des religiösen Glaubens zwischen Individualisierung und Klerikalisierung erkennbar ist. Ziehe hat schon Mitte der 80er Jahre einen „Auraverlust“ der Schule beschrieben, den Verlust eines gewissermaßen gratis vorhandenen Settings von institutionellen und kulturellen Regeln und Rollen-arrangements, die vor jedem Unterrichtsgeschehen galten. Es ist höchst anstrengend, wenn demgegenüber Unterrichtsbedingungen jeweils neu situativ ausgehandelt und hergestellt werden müssen. Dass eine Weile alles, was an der Schule geschah, durchs Nadelöhr versprach-lichter Subjektivität gezwängt werden zu müssen schien, ist ja vermutlich einer der Gründe für die seit den späten 80er Jahren begonnene pädagogische „Rituale“-Diskussion, der dieser Band gewidmet ist. Andererseits aber wurde die Schule im gleichen Zeitraum mehr und mehr ein institutionalisierter Apparat. Formen bürokratischer Verrechtlichung trocknen das kommunikative Handeln aus, auf das gerade Pädagogik doch angewiesen bleibt. So wird nach der Beobachtung von Ziehe die Sozialität von Schule zerrieben: Es verschwindet ein symbolisch strukturierter Raum zwischen ihrer Verdinglichung als Institution und ihrer Intimisierung unter dem Druck, situativ und subjektiv Verhaltenskontexte zu produzieren, zwischen psychologisch deutbarem Bedürfnis und administrativer Regel, ein Zwischenfeld von Wirklichkeitswahrnehmung und Wirklichkeitsgestaltung. „Symbolische Ordnungen“ sind an den Schulen in den 60er und 70er Jahren nicht nur durch bürokratische Verrechtlichung außer Kraft gesetzt worden. Ihr positiver Gehalt wurde vielmehr auch von Pädagogen systematisch unterschätzt und mit bloßem Traditionalismus gleichgesetzt. Dichte Symbolik und Modernität schienen sich auszuschließen. In einer Schule, die zwischen institutioneller Kälte und der Wärme bedürfnisorientierter Intimität keinen Raum lässt, wird die Lehrerrolle auf die fatale Alternative „Therapeut oder Technokrat“ reduziert. Gegenüber der Erkaltung einer büro-kratisch überreglementierten Schule kann ihre punktuelle Überhitzung aber nur Enttäuschungen und Überanstrengungen erzeugen. Vor allem: „Privater Intensitätshunger und öffentliche Intensitätsvermeidung, das gibt ein explosives Gemisch.“
Alle Versuche, Sozialität neu zu erschließen, müssen damit rechnen, dass der Hunger nach intimer Nähe und Wärme auch außerhalb der Schule immer wieder neu stimuliert wird. Gegen-über einer unübersichtlichen, gleichgültigen und zusammenhangslosen Welt soll „wenigstens im eigenen Nahbereich Verlässlichkeit und symbolische Geschlossenheit“ erlebbar werden. Die Sehnsucht, sich in Situationen „wiederfinden zu können“, „Betroffenheit ..., Gleichartigkeit, Annahme“ zu erfahren , hängt wahrscheinlich eng zusammen mit den Motiven neoreligiöser Suchbewegungen. Deren Regressionsdruck kann allerdings durch gegenläufige Erfahrungen konterkariert werden. Die Sehnsucht nach Nähe erzeugt je länger je mehr auch Erfahrungen kultureller Verödung. Im individuell gestalteten Nahbereich droht alles zerredet und triviali-siert zu werden. So entstehen neue Bedürfnisse nach geselligem Formenspiel, nach spielerisch-reflexivem Umgang mit neuen und alten Formen gestalteten Verhaltens, ästhetischer Selbst-inszenierungen und Weltgestaltung. Diese Situation ist freilich noch uneindeutig. Denn wenn „alles, was ‘unpersönlich’ ist, tendenziell als sinnlos erlebt“ wird, kann auch keine „symbolische Formensprache für den öffentlichen, den sozialen Raum“ wiedergefunden werden. Wenn alles, was dem Hunger nach Intimität zuwiderläuft, als Entfremdungsphänomen gedeutet wird, wenn daher Institutionalisierungen niemals auch als entlastende Vergesellschaftungsformen, sondern nur „als Enteignung und Beschneidung der gemeinsamen intuitiven Verständigungs-möglichkeiten“ gesehen werden, wird damit zwar aus der öffentlichen Schule noch kein privater Raum gemacht - aber der Vorschub eines öffentlichen Raumes als realistische Verteidigungslinie gegen die wachsende Institutionalisierung wird damit hintertrieben. Eben darum aber ging es: Die Nicht-Privatheit der Schule nicht notgedrungen hinzunehmen, sondern offensiv zu deuten und zu gestalten. So könnte „zwischen die administrative, system-funktio-nale Dimension der Schule auf der einen und den individuellen psychischen Realitäten der Subjekte auf der anderen Seite eine symbolische Struktur“ eingeschoben werden: „Ein Feld von Prozeduren, Formen, Ritualen, das Bedeutsamkeiten stiften könnte - ein „drittes“, nicht Sachzwang (Verdinglichung) und nicht Nähehunger (Psychologisierung).“
Vor diesem Hintergrund kann das Prinzip der Handlungsorientierung im Spannungsfeld zwischen Unterricht und Schulöffentlichkeit nun abschließend etwas präziser ausgeleuchtet werden. Die Gestaltung schulischer Sozialität überwölbt zwar das unterrichtliche Lernen - sie ist aber nicht denkbar, ohne einerseits unterrichtlich stimuliert zu werden und andererseits sich in neuen Formen von Unterricht auszuwirken.
Mit Hilbert Meyer ziehe ich die behutsamere Formulierung vom handlungsorientierten Unter-richt derjenigen vom handelnden Unterricht vor, nicht nur wegen der immer noch engen Rahmenbedingungen, sondern weil „Lernen und Handeln zwar ... eng miteinander verknüpft werden können, aber nicht ohne Rest ineinander aufgehen.“ Entsprechend grenzt Meyer das Handeln im präskriptiven Sinne gegen das Handeln im deskriptiv-analytischen Sinne ab, um zu verdeutlichen, dass sich die Qualität der Handlungsorientierung nicht am Ausmaß unterricht-licher action entscheidet. Ausgehend von der Feststellung, „dass im Unterricht nicht die ‘wirk-liche’ Wirklichkeit der Welt, sondern immer nur deren symbolisch vermittelte Abbildungen vorhanden sind“, korreliert Meyer das Sprechen über Sachen und Probleme mit Prozessen des Produzierens und Inszenierens. Eben diese Aspekte unterrichtlichen Handelns sind im letzten Jahrzehnt durch die Symboldidaktik verstärkt in die religionspädagogische Aufmerk-samkeit gerückt worden - und es ist kein Zufall, dass gerade die Symboldidaktik das Thema „Religion“ im Religionsunterricht wieder stark gemacht hat.
Vom hermeneutischen Unterricht unterscheidet sich die Symboldidaktik ja vor allem dadurch, dass im Verwendungszusammenhang von religiösen Symbolen, in Symbolhandlungen, durch den wie auch immer ansatzweise und „nur“ in einem künstlichen Raum inszenierten Mitvollzug von Ritualen das Verstehen des Bedeutungsgehaltes von Symbolen erschlossen werden soll: Ausgehend von der „besonderen Affinität“ von Symbolen und Ritualen zu Festen, also z. B. selbst Brot backen und dann „eine einfache Mahlzeit als ökologische Symbolhandlung (feiern)“; diese Feier durch Musik und Erzählungen ausgestalten. So kann der produktiven Unterbrechung und der Strukturierung des Schulalltags unterrichtlich zugearbeitet werden. Zugleich ist der Unterricht auf diese Weise produktorientiert. Unterrichtlich ist dieses Prinzip selbst dann von Belang, wenn es Planungsideen mit ansatzweisen Realisationsversuchen nur virtuell auf Veröffentlichung abzielen lässt. Es entstehen Artefakte, Medien, Handlungsideen - Gestaltungen, die im öffentlichen Raum der Schule nicht nur dokumentiert werden können, sondern einen solchen öffentlichen Raum allererst konstituieren. Dazu gehören gewiss auch Informations- und Aufklärungsmaterialien, karitative und politische Aktionen, Angebote sinn-voller Freiheitsgestaltung usw.. Das alles soll hier nicht negiert und nicht marginalisiert werden. Aber in unserem thematischen Zusammenhang interessanter als diese im übrigen viel-fältig dokumentierten Dimensionen schulischen Lebens scheint mir die Frage nach den Kon-stitutionsbedingungen eines medialen Raums von Sozialität zu sein, den ich, in Abgrenzung zur zweckgerichteten Intentionalität bestimmter Aktionen, etwas überpointiert durch seinen Eigen-wert, seine Selbstzweckhaftigkeit charakterisieren möchte. Eben darin liegt seine Dignität be-gründet. Hannah Arendt hat in ihrer Theorie öffentlichen Handelns eben dies betont: Die vita activa sieht sie aufgefaltet in die Trias von Arbeiten, Herstellen und Handeln. Der ganz der Zweckhaftigkeit der Lebensproduktion verhafteten Arbeit rechnet sie den geringsten Wert für die conditio humana zu. Im Herstellen jener Gegenstände, die nicht dem bloßen Verbrauch unterliegen, der bleibenden lebensgestaltenden und künstlerischen Werke, auch der urbanen und landschaftlichen Räume, gewinnt die menschliche Welt Gegenständlichkeit. Aber erst im Handeln konstituieren die Menschen unabhängig von den dabei je verfolgten Zwecken eine Sphäre, in der sie sich als einzelne, besondere, also leibliche Menschenwesen gerade in ihrer pluralen Differenz wechselseitig anerkennend ihre Würde gewinnen. Diese Würde bedarf keiner Rechtfertigung vor dem Gerichtshof einer an Zwecken orientierten Vernunft. Handelnde Menschen haben nicht erst ihr Existenzrecht zu verdienen oder zu behaupten, indem sie sich be-stimmten Geltungsansprüchen unterwerfen. Hier berührt sich Hannah Arendts Anthropolo-gie - ohne dass sie das selbst so sehen konnte - mit dem reformatorischen Rechtfertigungsver-ständnis. Menschen sind Wesen, die hören können - und deshalb gehört werden wollen. Wer sprechen kann, möchte angesprochen werden. Wer sehen kann, will gesehen werden. Es gilt kein anderer Anspruch als der wechselseitiger Anerkennung und dieser Anspruch ist darüber hinaus nicht weiter zu qualifizieren. Natürlich wäre - unter religionspädagogischen Vorzeichen - genauer zu bedenken, dass die Unbedingheit dieses Anspruchs, die mit rationalen Gründen unhintergehbar ist, für den christlichen Glauben und eine biblisch begründete theologische Anthropologie auf der Anerkennung beruht, mit der Gott den Menschen als sein Ebenbild ge-schaffen hat. Um im Bild zu bleiben: Weil ich von Gott angeredet wurde, kann ich andere anreden; weil sich Gott mir freundlich zuneigt, kann ich mich anderen zuwenden. Es geht also nicht um moralische Imperative. Ein auf kommunikatives Handeln angelegtes und angewiesenes Wesen ist der Mensch, weil er auch jenseits von Eden nicht aus der Kommuni-kation mit Gott verstoßen ist. Als von Gott einzeln beim Namen gerufene Personen sind wir zur Gemeinsamkeit mit anderen Menschen befähigt.
Ihre Vorstellung öffentlichen Handelns hat Hannah Arendt freilich am historisch fernen und theologisch wenig bezugsreichen Modell der antiken Polis gewonnen. Da aber Hartmut von Hentig nicht ohne Grund „die Schule als Polis“ neu zu denken versucht, ermutigt mich das zu dem etwas kühnen Bogenschlag zwischen dem höchst anspruchsvollen Öffentlichkeitsbegriff Hanna Arendts und den „kleinen Öffentlichkeiten“ unserer Schule. Also auf die Schule bezogen: Erst eine wie auch immer begrenzte, kleine, ambitionslose, aber eben unterrichtliche Lernprozesse überschreitende und übergreifende Öffentlichkeit bietet die Bedingungen, unter denen das Leben einer Schülerin und eines Schülers einmal aufglänzen kann, ohne dass das Leistungsmaß von Lernerfolgen Geltung behält.
Weil ein so verstandenes öffentliches Handeln nicht allein hinsichtlich der mit ihm verfolgten Zwecke zu beurteilen ist und ferner von Motiven und Fähigkeiten lebt, die die beteiligten Menschen nicht allein sich selbst verdanken, bedarf es einer Struktur, einer symbolischen Ordnung, in der Aktion und Kommunikation, Alltäglichkeit und Feier, Spontaneität und Ritual ihren Platz haben. Eine solche Struktur wird nicht religionslos sein können. So können gerade auch die Religionslehrer, aber auch alle, die ihr Christsein in der schulischen Öffentlichkeit nicht verbergen wollen, einen besonderen Beitrag für die Wiedergewinnung eines durch sym-bolische Ordnungen gestalteten öffentlichen Raumes in der Schule leisten. So wie im politischen Raum des staatlichen Gemeinwesens ist dabei eine genau auszutarierende Balance zu beachten zwischen der weltanschaulichen Neutralität der Schule und einem Verständnis von Religionsfreiheit, dem ein öffentlicher Bekenntnisraum zusteht und das sich nicht in isolierte Privatheit abdrängen lässt. Auch aus Gründen eines behutsamen Umgangs mit dieser Balance geht es weniger darum, an den Schulen „heilige Räume“ zu schaffen, wie es gelegentlich zu hören ist. Wohl aber können die Religionspädagogen, neben dem alltäglichen Beitrag zu einer Kultur des öffentlichen Schullebens, ein Angebot liturgischer Formen, gemeinsamer Besinnungen und Begehungen, unterbreiten, das die Suche nach den sich öffnenden Zwischen-zonen zwischen Entfremdung und Nähehunger exemplarisch orientiert. Auf diese Weise könnte es an den Schulen übrigens auch gelingen, der wachsenden konfessionellen und weltanschau-lichen Vielfalt zu entsprechen, statt sie dem Assimilationsdruck einer abstrakten Gleichheit zu opfern.