1. Chancen wahrnehmen
Kirchen als Räume für Gott überdauern die Zeiten. Menschen denken, planen und bauen sie für die Ewigkeit. Als steinerne Zeugen repräsentieren sie das religiöse Leben ihrer Zeit über Jahrhunderte hin. Mit ihrer exponierten repräsentativen Gestalt und der friedensstiftenden Kernaussage des Christentums „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 19,19)und „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ (Lk 6, 27+28) könnten Kirchen Ausgangspunkt für eine breite Bewegung der Gewaltfreiheit und des Friedens sein.
Als prägende Wahrzeichen einer Stadt, mit ihren Türmen und ihrer gesamten Außenwirkung haben sie eine machtvolle Position, die für einen gesellschaftlichen Trend der Gewaltfreiheit stehen kann. In erster Linie als Orte des Gottesdienstes geschaffen, sind Kirchenräume auch tradierte Orte der Seelsorge und Wahrheitsfindung. Sie beziehen sich auf eine höhere Wahrheit, sie durchbrechen die Grenzen des Alltags und berühren Fragen der Glaubwürdigkeit gelebten Christseins. Hoch sind in diesem Zusammenhang die Erwartungen von Kindern und Erwachsenen an Mitarbeitende in Kirchenräumen. Als Christenmenschen, eben Zeugen des Christentums in der Gegenwart, repräsentieren sie im Alltag auch mit Schulklassen eine Lebenshaltung, die sichtbar aus dem Glauben gespeist wird. Projekttage mit Schulklassen, in denen Kinder aller Religionen und Konfessionen gemeinsam in Kirchen kommen, bieten eine einzigartige Gelegenheit, Verhaltensweisen zu erleben, die Versöhnung und Ausgleich zum Ziel haben. Junge Besucher erleben Kirchen als einen sicheren Ort der Begegnung, als Schutzraum und als Ort der Wahrheit. „In Kirchen lügt man nicht“, stellt ein Zehnjähriger bei einem kirchenpädagogischen Projekt fest. Voller Vertrauen sprechen junge Menschen bei solchen Gelegenheiten miteinander über ihre eigene Religion. Mit Neugier, Respekt und großer Aufmerksamkeit füreinander nehmen sie gegenseitig Anteil an religiösen Erlebnissen der anderen. Dabei kann es geschehen, dass sich eine bisherige Angst vor Fremdem verliert und gegenseitiges Vertrauen neu belebt wird. Für viele nicht christliche Kinder bleibt eine kirchenpädagogische Erkundung eine einmalige Begegnung mit einem Kirchenraum und dem Christentum, sollte sich später kein besonderer Anlass mehr dafür ergeben. Dieses Kindheitserlebnis kann einen prägenden Einfluss haben auf das Verhalten als Erwachsene bei Begegnungen mit anderen Religionen. Deshalb gebührt diesen Projekttagen auch unter dem Gesichtspunkt der nachhaltigen Wirkkraft in die ganze Gesellschaft hinein eine hohe Aufmerksamkeit.
2. Gewaltfrei werben für die Schönheit eines Lebenskonzepts
Wir leben in einer Zeit des weltweiten Umbruchs, in der Arbeit, in der Kirche und in den Familien. Alles scheint offen und ins Schwanken geraten zu sein. So präsentieren sich evangelische Gemeinden mit neuen Profilen als „Gospelkirche“, geben einer „internationalen Gemeinde“ Raum für ihre Gottesdienste oder sättigen Hungernde in ihrer „Vesperkirche“. Diese Gemeinden kommen mit gezielten Einladungen dem persönlichen Bedürfnis interessierter Fremder zum Mitgestalten deutlicher entgegen als bisher. Mit Wort und Tat präsentieren sie ihr evangelisches Engagement und die Vielfalt gelebten Christentums. Bedauerlicherweise zeigen sich auch in diesen Gemeinden Gruppen nur selten mit Fotos und werben so für ihre diakonischen Aktivitäten, sei es in der unmittelbaren Umgebung oder in anderen Ländern. Christliche Partnerschaftsprojekte verdienen mehr Aufmerksamkeit. Über Grenzen und Kontinente hinweg ist das traditionelle Netzwerk von Christen lebendig. Unrühmliche Seiten einstiger Missionstätigkeit wurden in den vergangenen Jahren offen gelegt, Versöhnungsrituale räumten den Weg frei für ein Verhältnis, das von Herzlichkeit und gegenseitiger Bereicherung geprägt ist. Die geschwisterliche Beziehung auf Augenhöhe wird getragen von der liebevollen Begegnung zwischen Christen in gemeinsamen Basis-Projekten. Wenn dieses repräsentative Handeln aus dem Glauben heraus in Kirchenräumen nicht sichtbar ist, bleibt kirchenpädagogischen Fachkräften bei Führungen und Projekten mit Kindern bedauerlicherweise nur die Orientierung an der revidierten Vergangenheit.
Diese Erfahrungen bedeuten einerseits für Kirchenpädagogik-Ausbildungen, die Wahrnehmung der ehrenamtlich Tätigen zu schulen, gegenwärtigen Aktivitäten der Gemeinden mehr Aufmerksamkeit in Führungen und Erkundungen einzuräumen, andererseits sollten Gemeinden ihre Räume so gestalten, dass ihr christliches Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung öffentlich sichtbar wird. Kirchenpädagoginnen und Kirchenpädagogen erzählen der jeweiligen Zielgruppe angemessen von Jesus und anderen großen Frauen und Männern der Bibel, vielleicht auch von Dietrich Bonhoeffer oder Hanns Lilje, wenn es dafür konkrete Bezüge im Kirchenraum gibt. Bei diesen Gelegenheiten können kirchenpädagogische Fachkräfte überzeugend von einem gewaltfreien Engagement der evangelischen Kirche in der Gegenwart berichten. Nicht grundlos rechnet Fulbert Steffensky Kirchenpädagogik zu den missionarischen Aufgaben der Kirche der Gegenwart: „Es ist ein Stück Mission – Christen erklären anderen, welche Schätze sie haben und was sie lieben und woran sie glauben. 1 … Mission heißt nicht, darauf aus sein, dass alle anderen unseren Glaubensweg gehen. Es gibt andere Wege des Geistes und andere Dialekte der Hoffnung als unsere eigenen. Die alte Gefahr des Christentums war die Arroganz der Einzigartigkeit: Ohne uns gibt es kein Heil und keine Rettung. Die neue Gefahr der Kirche könnte die Undeutlichkeit sein,… der Unwillen, sich zu zeigen. Mission ist die gewaltlose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzepts.“2
3. Das Ende der Gleichgültigkeit
Kirchenräume erinnern Christen an das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu. Sie sind Orte des Erinnerns und Gedenkens. Generationen haben ihre Spuren hinterlassen. Manchmal sind Kirchen jedoch angefüllt mit Dingen vergangener Generationen, die gegenwärtigen Bedürfnissen im Wege stehen.
Nicht nur Schulklassen benötigen bei ihren kirchenpädagogischen Projekten Platz im Kirchenraum, gleichzeitig brauchen Touristengruppen ebenfalls einen Ort für ihre Fragen, zum Stillsein, Beten und Staunen. Sie müssen sich nicht zwangsläufig im Wege stehen. Die Erfahrung zeigt, dass Touristen Kindern bei Erkundungen interessiert zuschauen mit den Worten “…das hätte ich früher auch gern getan.” Sie nehmen gern Rücksicht auf Kinder bei ihrer neuen Art, eine Kirche zu entdecken. Auch unter diesem Gesichtspunkt sollten Gemeinden die Einrichtung ihrer Kirchenräume überdenken.
Eine weitere Frage ist die Präsenz christlicher Vorbilder im Kirchenraum. Wer kommt dafür in Frage? Christliche Vorbilder zu erkennen, ihre Vita neu zu beleben und jenen ungewöhnlichen Menschen vergangener Zeiten einen angemessenen Platz im Raum einzuräumen, gehört mit zu den Wünschen von Kirchenpädagoginnen und Kirchenführern. Ein Grundkriterium bei der Auswahl von Personen, denen ein Ehrenplatz im Kirchenraum in irgendeiner Form zugestanden werden könnte, wäre ein Lebenswandel im Sinne der Nachfolge Jesu. Da stellt sich die Frage, auf welche Weise die christliche Lebenshaltung und der Glaube im besonderen als Motivation tragend waren für das Handeln jener Person und wie wir diese Lebenshaltung heute bei ihnen noch erkennen können. Eine bewährte Methode auch für uns selbst bieten die folgenden drei Schritte nach Michael Bachmann:3
1. „Das uns geltende Reden Gottes“
Dabei stellen wir uns die Frage nach
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dem Hören auf das Wort Gottes.
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nach der Art und Weise der Wahrnehmung dieses Zuspruchs auch in der Erinnerung.
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nach dem Gebet, nach biblischen Geschichten und persönlichen Gesprächen.
2. „Das festzuhaltende Bekenntnis“
Hier suchen wir
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die sprachliche Form einer aus dem Hören gewonnen Erkenntnis, die lebensbestimmenden Charakter hat.
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eine sprachliche Form für eine Erkenntnis aus tiefen persönlichen Lebenserfahrungen.
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nach der Bedeutung von biblischen oder persönlichen Vorbildern für diese Erkenntnis.
3. „Der zu bewährende Glaube“
Hier finden wir
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Handlungsweisen für ein Leben aus dem Glauben, möglicherweise im Unterschied zu Handlungen vor der entscheidenden Erkenntnis.
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die konkrete Ausrichtung des täglichen Lebens und Handelns nach diesen Erkenntnissen, etwa nach den 10 Geboten und einem Leben aus Gnade und Barmherzigkeit.
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Wege beim Versuch, das eigene Handeln danach auszurichten, als Christin und Christ in Gemeinschaft und allein vom Glauben getragen zu leben und diese Haltung auch an andere Menschen weiter zu geben.
4. Der Umgang mit antijüdischen Ausstattungsstücken
Besonders mittelalterliche Kirchen fordern uns heraus zu einem aufmerksamen, kritischen Umgang mit Ausstattungsstücken, die Andersgläubige auf verachtende Weise abbilden. Das trifft auf viele Passionsaltäre zu, die die Leidensgeschichte Jesu, seine Verhaftung, Verhöre und Geißelung bis hin zur Kreuzigung detailliert zeigen. Als brutaler Wortführer der Schergen ist häufig ein Mann mit spitzem, einem Turban ähnelndem Judenhut nach mittelalterlicher Kleiderordnung zu erkennen. Solche theologisch überkommenen Ausstattungsstücke sind geprägt von einem antijüdischen christlichen Denken, das nicht mit einem Rassenantisemitismus, sondern mit religiösen Motiven verbunden ist. Ausstattungstücke dieser Art zwingen uns Christen heute, diesen Teil unserer Tradition tiefer gehend zu hinterfragen. Ein möglicher Schritt in diesem Prozess könnte ein Faltblatt sein, in dem das Verhältnis von Christentum und Judentum skizziert wird, die abfällige Bewertung auf den konkreten Kunstwerken in ihrem historischen Kontext aufgearbeitet und eine Bitte an das jüdische Volk um Vergebung hinzugefügt.4
Eine andere Möglichkeit im Sinne der der öffentlichen Bitte um Vergebung sind Gedenksteine und Stelen zur Erinnerung an ermordete jüdische Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus. Immer mehr Gemeinden stellen Plätze auf kircheneigenem Grund zur Verfügung, außerhalb der Kirche aus Achtung vor der Identität der anders gläubigen jüdischen Opfer. So wird jeder Verdacht der Vereinnahmung ausgeschlossen. Außerdem erhalten alle Bewohnerinnen und Bewohner eines Ortes die Möglichkeit, die Versäumnisse und Verfehlungen ihrer Vorfahren durch eine ganz individuelle Handlung der Versöhnung auszudrücken, sei es durch eine Kerze, einen kleinen Stein oder mit einer Mahnwache aus gegebenem Anlass. Als kleines öffentliches Zeichen übernimmt die Gemeinde die achtsame Pflege der Gedenkstätte, es könnte auch immer die jeweilige Konfirmandengruppe sein.
Eine ehrendes Gedenken und eine besondere Erwähnung in den Gemeinden gebührt auch jenen ehemaligen Gemeindegliedern, die auf Grund ihrer Taufe Christen waren, aber wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und ermordet wurden. Die Historikerin Sigrid Lekebusch plädierte erfolgreich für die Aufnahme dieser verfolgten oder ermordeten Menschen in das evangelische Märtyrergedenkbuch zusätzlich zur Erwähnung im Gedenkbuch der Judenverfolgung: „Mit dem Benennen der Christen jüdischer Herkunft kann ein mahnendes Zeichen gesetzt werden, das die Leidenden miteinander verbindet.“5 Für kirchenpädagogische Fachkräfte bietet die Erklärung der 9. EKD-Synode eine Argumentationshilfe 6 . Am 9. November 2000 betonte die evangelische Kirche wiederholt das Schuldeingeständnis an der Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums, wie es auf der 2. Synode 1950 in Berlin-Weißensee festgehalten war: „Wir sprechen es aus, dass wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“ In der Kundgebung von 2000 heißt es vertiefend: „Nicht nur durch ‚Unterlassen und Schweigen’ ist die Kirche schuldig geworden, vielmehr ist sie durch die unheilvolle Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hinein verflochten in die systematische Vernichtung des europäischen Judentums. Diese theologische Tradition hat nach 1945 Versuche zu einer Neubestimmung ihres Verhältnisses zum jüdischen Volk belastet und hinausgezögert.“ Die 9. Synode formuliert im Folgenden sieben Grundsätze, die dieses Verhältnis aus heutiger Sicht bestimmen:
„Heute können wir aussprechen:
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Wir glauben, dass Gott, der Schöpfer und Herr der Welt, in Jesus Christus „unser Vater“, Israel als sein Volk erwählt hat. Er hat sich für immer an Israel gebunden und bleibt ihm in der Kontinuität von biblischem Israel und jüdischem Volk treu. Die Jüdinnen und Juden sind uns Zeugen der Treue Gottes.
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Wir bekennen uns zur Heiligen Schrift Israels, der Bibel Jesu und der Urchristenheit, unserem Alten Testament. Das Christuszeugnis des Neuen Testaments ist Mitte und Quelle unseres christlichen Glaubens. Beide Testamente bilden eine sich wechselseitig auslegende Einheit. Sie sind Grundlage und Richtschnur für die Neubestimmung unseres Verhältnisses zum jüdischen Volk. Wir sind dankbar dafür, dass Jüdinnen und Juden uns durch ihre Auslegung zu einem vertieften Verständnis der Bibel helfen.
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Wir glauben an Jesus Christus, Sohn Gottes und Glied seines Volkes. In Ihm ist der Gott Israels Mensch geworden und hat die Welt mit sich selbst versöhnt.
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Wir bezeugen unsere Teilhabe an der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Unsere Erwählung in Christus ist Erwählung durch denselben Gott, der sein Volk Israel erwählt hat.
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Das Neue Testament bezeugt die eine Kirche aus Judenchristen und Heidenchristen. Wir sehen in unseren christlichen Geschwistern jüdischer Herkunft Zeugen unserer unlösbaren Verbundenheit mit dem bleibend erwählten Gottesvolk Israel.
Wir erkennen – bei aller Unterschiedenheit – als Gemeinsamkeit:
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den Glauben an den einen Gott – für uns Christen in der Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist,
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das Hören und Tun der Gebote Gottes – für uns Christen in der Nachfolge Jesu, die Erwartung des letzten Gerichts und die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde – für uns Christen verbunden mit der Wiederkunft Jesu Christi.
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Das Gespräch über den Glauben schließt die Achtung vor der Identität der anderen ein. Die Bemühungen um ein geschwisterliches Verhältnis von Christen und Juden sind für eine Kirche und Theologie zentrale Herausforderung und bleibende Aufgabe.“ Als Argumentationshilfe gab die EKD die informative Broschüre „Antisemitismus – Wir haben etwas dagegen!“ heraus.
5. Wem gebührt die Ehre?
Am Beispiel der Marktkirche in Hannover werden Möglichkeiten der Vergangenheitsaufarbeitung deutlich. Unlängst bekam der Reformator Antonius Corvinus (1501-1553) einen Ehrenplatz in der Apsis des Südschiffs. Auf der neuen Bronzeplatte von Donato Diez fallen besonders die symbolisch großen Hände des Reformators auf, der unter Einsatz seines Lebens an der Reformation vor 500 Jahren mitwirkte. Der Loccumer Zisterziensermönch und spätere Generalsuperintendent reformierte in der Regierungszeit von Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (Calenberg) das südniedersächsische Land und musste seinen Einsatz für die Erneuerung der Kirche mit erschöpfender Kerkerhaft auf der Feste Calenberg bezahlen. Als Folge davon starb Antonius Corvinus vor der Zeit im Alter von nur 52 Jahren. Aus jenen Reformationsjahren stammen noch Kelch und Patene, die die Marktkirche von Herzogin Elisabeth zum Abschied geschenkt bekam und deren Inschrift uns beim Lesen, (vorübergehend im Historischen Museum) heute noch anrührt: „VON GODTS GNADEN WIR ELISABETH GEBORNE MARGGREFIN ZV BRANDENBVRCK HEISEN FVRST POPEN GRAFEN VND HERRN ZV HENNEBERCH EHLICH GEMAHELIN/EHRN DISSEN KELCH AVS LIEB VND WERTH ALS MAN 1500 VND 55 SCHREB DER KIRCHGEN ZV SANT IVRGEN BINEN HANOBER VOR/EHRET ALS WIR ALSO LANGE ALHIR IM ELLENDE BLIBEN DAR BEI VNSSER ZV GEDENCKEN CHRISTVS BVT DAR AVS ZV SCHENKE(N)/ ZV EWER ALLER SELICHEIT GODT WENDE ALLE MEIN HERTZLEID AMEN“ 8
Reichlich 200 Jahre später wurden die Gebrüder August und Friedrich Schlegel 1767 und 1772 in Hannover als Söhne des lutherischen Pastors der Kirche Sancti Georgii et Jacobi (Marktkirche) geboren. Berühmte Pfarrerskinder waren sie, keine Opfer von Verfolgung. Als Erwachsene gehörten sie später zu den Mitbegründern der deutschen Romantik. Ihr Geburtshaus stand genau an jenem Ort, an dem das heutige Pfarrbüro der Marktkirchengemeinde steht. In jüngster Zeit erinnert die Gemeinde erneut an diese beiden Vordenker. Frisch restauriert erzählt die alte Marmortafel des Vorgängerbaus am Pfarrhauseingang von den berühmten Söhnen der Gemeinde. Unmittelbar daneben, vor dem Hanns-Lilje-Haus, erinnert das städtische Straßenschild „Hanns-Lilje-Platz“ an den Bekennenden Christen und ersten evangelischen Bischof der Nachkriegszeit in der hannoverschen Landeskirche. Seine wichtigste Predigtstätte war damals die Marktkirche. „Wegen Feindbegünstigung“ verbrachte er das letzte Kriegsjahr im Gefängnis in Berlin Tegel. Zwischen den Bombenangriffen schrieb Hanns Lilje: „Mir ist erlaubt, jenen Streifen Landes am Rande der Zeit zu betreten, auf den schon ein Schein der anderen Welt fällt.“ 9 Anders als viele seiner Gesinnungsfreunde und -freundinnen, die zu evangelischen Märtyrern und Märtyrerinnen wurden und derer in dem umfangreichen Band „Ihr Ende schaut an…“ – Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts10 gedacht wird, überstand er die Zeit des Nationalsozialismus lebend. Die Erinnerungen Hanns Liljes „Im finstern Tal“ wurden nach dem Krieg in 50.000 Exemplaren verkauft und anlässlich seines 100. Geburtstages 1999 neu herausgegeben. 11 Aus eigener Erfahrung bestimmte Hanns Lilje einen Vers des 23. Psalms zum Titel seiner Erinnerungen: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“
6. Hoch oben …
Von besonderem Interesse für Fremde sind neben den Kirchenräumen auch die Kirchtürme als öffentliche Zeichen mit ihrer Ausstrahlungskraft. Türme sind immer Anziehungspunkte, ob Leuchttürme an den Küsten oder Aussichtstürme auf Bergen und in freier Landschaft. Doch nur Kirchtürme beherbergen Glocken als einzigartige Musikinstrumente. Seit Jahrhunderten breitet sich der Zauber dieser besonderen Musik von Kirchtürmen aus - über Dächer und Landschaften hin. Zum Schutz gegen das Böse sollten Glocken im Mittelalter ihren Klangteppich über heilige Räume legen und Himmel und Erde miteinander verbinden. 12 Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn unterstreicht diese besondere Erfahrung: „Schon immer waren die Menschen selbstsüchtig und wenig gut: Aber das Abendläuten erklang, schwebte über den Feldern, über dem Wald. Es mahnte, die unbedeutenden, irdischen Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken der Ewigkeit zu widmen. Dieses Läuten bewahrte die Menschen davor, zu vierbeinigen Kreaturen zu werden.“ 13 Auch heute lauschen lärmgewohnte Kinder höchst aufmerksam auf den Klang der Glocken, wenn sie bei kirchenpädagogischen Erkundungen dazu angeleitet werden. Angerührt von diesem besonderen Ereignis öffnen sie sich für einen Klang, der ihren Alltag übersteigt und tief in Erinnerung bleibt. Deshalb integrieren kirchenpädagogische Fachkräfte dieses besondere Hörerlebnis bewusst in den Ablauf ihrer Veranstaltung und lassen genügend Zeit auch für den kostbaren Augenblick der Stille danach. Eigene Übungen mit Klängen, Zimbeln, Klangschalen, Glocken aus unterschiedlichen Kulturen gehören mit zu den eindrücklichsten Erlebnissen eines kirchenpädagogischen Projekttages. Ebenso unvergesslich ist es, wenn Erwachsene heute ein öffentliches Zeichen ihrer gelebten christlichen Spiritualität setzen. So Prof. Dr. Christian Pfeiffer, der in der gefüllten Marktkirche in Hannover einmal seinen Vortrag unerwartet fünf Minuten unterbrach, um dem Abendläuten den Vorrang zu geben. 14
An vielen Orten brannten die Kirchtürme im Laufe der Jahrhunderte aus. Um die Geldgeber von neuen Turmspitzen Geschichten ranken sich noch immer Geschichten. Vom Mittelalter bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dienten Kirchtürme neben ihrer eigentlichen Funktion, mit dem Glockenklang Menschen zum Gebet oder Gottesdienst zu rufen, als Wach- und Feuerschutztürme. Traditionell gehört die Wartung des oberen Teils mancher Türme bis heute zu den Aufgaben der Stadt. Daher kommt es, dass städtisch angestellte Türmerinnen oder Türmer als Touristenattraktion ihren Beruf in luftiger Höhe ausüben. Ihre Gästebücher und Fotowände erzählen von Begegnungen mit Menschen aus aller Welt. In anderen Kirchen verkaufen städtische Angestellte Eintrittskarten am Turmeingang, damit Touristen hoch hinauf zur Aussichtsplattform steigen können, so leider an der Kirche vorbei! Auf dem Weg nach oben werden die Besucher auf angenehme Weise erinnert an viele Spender, die mit ihrer Gabe eine Turmtreppen-Renovierung ermöglichten. Ein kleines Messingschild an jeder Beton- oder Stahlstufe verrät zurückhaltend den Namen einer Firma, Familie oder Einzelperson. Vielleicht hätte mancher Besucher gern einen Abstecher über das Gewölbe der Kirche gemacht und den Dachstuhl besichtigt - historische Dachwerke sind oft eindrucksvolle Zeugnisse alter Zimmermannskunst und bleiben schon mit ihrem besonderen Geruch in der Erinnerung. Ein Gang über das Gewölbe der Kathedrale von Chartres verblasst beispielsweise neben dem Rundgang über die ächzenden Bohlenstege des mittelalterlichen Dachstuhls der Marktkirche in Hannover.
7. …und unter der Erde
Im Mittelalter war es üblich, Geistliche und wohlhabende Bürger in Grüften unter dem Kirchenboden zu bestatten. Ursprünglich bestattete man Verstorbene mit dem Gesicht nach Osten, dem Sonnenaufgang zugewandt in Erwartung der Auferstehung. Später verlor sich dieser Grundsatz in gemauerten Familiengrüften aus Platzgründen. In manchen Orten gibt es noch Grüfte unter dem Kirchenboden, in denen ein natürliches Belüftungssystem die Verwesung der Verstorbenen verhinderte. Eine Attraktion ganz ungewöhnlicher Art ist das respektvolle und vorsichtige Öffnen eines solchen Sarges. Verstorbene aus dem 17. Jh. in voller Kleidung und mit ihrem verstorbenen Hund zu Füßen sind ein unvergesslicher Anblick bei einer Extra-Führung. Solche Befunde unter dem Kirchenboden sind historische Primärquellen, an denen auch Museen großes Interesse haben. Ihre Entfernung bedeutet einen unwiederbringlichen Verlust für die Gemeinde und die Gesellschaft. Diese einzigartigen Zeugnisse könnten von der Gemeinde selbst kompetent für die interessierte Öffentlichkeit angeboten werden. Wer hat heute noch solch einen Schatz, ein Original dieser Größenordnung an Originalplätzen? Und Gemeindeleitungen setzen mit der Präsentation ihrer originalen Fundorte zusätzlich noch Maßstäbe für den Umgang mit dem Leben, den Tod eingeschlossen.
8. Zuhause in der Kreuzkirche - Kostbarkeiten mit Geschichte
Ein Beispiel für die wechselvolle Geschichte mancher Ausstattungstücke von Kirchenräumen bieten die Ausstattungsstücke der Kreuzkirche in Hannover. Für geschichtsinteressierte Jugendliche ist eine Erkundung hier besonders reizvoll. Nahezu eine eigene Lebensgeschichte kann man einigen Ausstattungsstücken nachsagen, die über Umstürze hinweg immer wieder von Fachleuten für die Nachwelt bewahrt wurden. Ein neues Zuhause fanden hier die älteste Grabplatte und die älteste Familiendarstellung der Stadt. Auch das älteste Taufbecken Hannovers aus dem 15. Jh. ist in dieser Kirche noch in Gebrauch. Ein umsichtiger Kunstsammler bewahrte es im 19. Jh. vor dem Einschmelzen. Der Altaraufsatz mit Gemälden von Lucas Cranach d. Ä. aus der Reformationszeit, ursprünglich für die Münsterkirche in Einbeck geschaffen, steht auf der ältesten erhaltenen Altartischplatte (Mensa) der Stadt. Weihekreuze an allen vier Ecken und ein Sepulcrum (kleines Reliquiengrab) bezeugen ihre Kostbarkeit. Ursprünglich war diese Sandsteinplatte in der Klosterkirche der Minoritenmönche in Gebrauch. Dazu erzählt eine Schrifttafel von 1584 in der Marktkirche anschaulich: „Anno Chisti 1292 haben die Barfüsser Oder Minoritenmönche ihr Kloster angefangen zu Bauwen in hanover an der leine“ 15 Im Dreißigjährigen Krieg baute man das Kloster zum Schloss mit gotischer Schlosskirche um, von nun an feierte der Königshof an dieser Mensa das Abendmahl. 1943 versank der Altartisch im Schutt des Bombenkrieges. Aus einem persönlichen Gespräch mit dem langjährigen Direktor des Historischen Museums Dr. Helmut Plath 1990, kurz vor seinem Tod, ist mir bekannt, dass er selbst diese mittelalterliche Mensa nach dem Krieg in den Trümmern der Schlosskirche fand und ihren Einbau in der Kreuzkirche nach dem Wiederaufbau 1960 veranlasste. Unter der Kirche sind die ehemaligen Grüfte mit Bestattungsresten heute noch begehbar. Die Aufschriften an den Wänden „Ruhe!“, “Rauchen verboten!“, „Notabort“ verweisen auf die erdrückenden Gebrauch der Keller als Luftschutzräume während des 2. Weltkrieges. Diese „Hof- und Stadtkirche St. Crucis“ ist eine wahre Fundgrube mit Originalen für fächerübergreifende Projekte bei der Erziehung zum Frieden in Religion, Geschichte, Kunst, Archäologie, Musik. Kirchenpädagogische Fachkräfte beraten interessierte Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte gern.
9. Werkstätten des Friedens
In Kirchenräumen werden Besucherinnen und Besucher immer noch empfangen von unkommentierten Gedenktafeln zur Erinnerung an Väter, Söhne und Ehemänner, die im 19. Jh. und in beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts auf Kriegsschauplätzen von Eroberungskriegen ihr Leben verloren. Das missbräuchlich benutzte Zitat aus der Offenbarung des Johannes 2,10 „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben“ wurde in der Markuskirche Hannover kommentiert durch eine Marmortafel mit der Bitte: „HERR, MACHE DU MICH ZUM WERKZEUG DEINES FRIEDENS 1985“. 16 Diese Ergänzung bezeugt die aktive Auseinandersetzung der Gemeinde mit der eigenen Vergangenheit. So schärft der differenzierte Umgang mit derartigen Geschichtszeugnissen auch den Blick für die Probleme der Gegenwart. Ein Leben in Frieden, in einer „wolfeilen Zeit“ oder das Leid des Krieges, als „die Stat Hanover zum andern mahl aufgebrant“ wurde, kann bei kirchenpädagogischen Projekten in Hannovers Kirchen immer wieder thematisiert werden. In der neuen kirchenpädagogischen Werkstatt unter der Marktkirche, einzigartig gelegen zwischen den Säulenfundamenten aus Steinen der Vorgängerbauten, interessieren sich Kinder besonders für die Aufschriften auf Tafeln aus 16. und 17. Jahrhundert. Bei Projekten buchstabieren sie aufmerksam „3 Heizo Meelbaum 38 – 9 Statz Hemminck 56 - 16 Tonnies Grambart 27 - 17 Michael Abelman 27,“ Es sind Männernamen hannoverscher Bürger mit Altersangaben, die „Anno Christi 1632: D 23 Iulij / OCCUBUERUNT“ bei der Verteidigung Hannovers ums Leben kamen, als sie im Dreißigjährigen Krieg von Soldaten Tillys unverhofft vor dem Steintor angegriffen wurden. Manchen Schulkindern sind diese Namen als Straßennamen in Hannover vertraut. Eine andere Geschichtstafel aus dem 16. Jahrhundert mit Preisangaben aus dem friedlichen Alltagsleben ermöglicht einen eindrücklichen Vergleich mit dem Leben der Vorfahren: „Ano Christi: 1192 wart die Stat Hanover zum andern mahl aufgebrant von keiser hinrich dem sechsten keiser Fridrichs sohn. Ano Chisti 1280 ist wolfeile zeit gewesen. 1 scheffel korn galt 22 Pfennig ein huen 1 pfenig 15 Eier 1 Pfenig, 8 hering 1 pfennig…“ 17
10. Den Frieden gestalten
Die zehn Novembertage der jährlichen Friedensdekade bieten eine passende Gelegenheit, bei der Kinder, Jugendliche und Erwachsene Christinnen und Christen heute als Friedensstifter kennen lernen können.
Eine Möglichkeit dafür wären besondere Andachten an Gedenktafeln der Opfer und Kriegstoten oder an eingeführten Gedenkorten. Texte von und Gespräche mit Zeitzeugen könnten zur Ermutigung werden, das eigene Leben im Sinne der Bergpredigt zu gestalten, denn „Ziel christlichen Handelns ist der Friede“ 18 Viele Initiativen der EKD orientieren sich daran in herausragenden Aktionen. Dazu gehören die folgenden Beispiele:
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Aktionen der Dekade zur Überwindung von Gewalt im Rahmen der Initiative des Weltkirchenrats von 2000 – 2010
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Fortbildung von Schülerinnen und Schülern zu Konfliktschlichtern
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Das herausragende Engagement christlicher Politikerinnen und Politiker, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, als Mediatoren in Konfliktsituationen
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Gründung eines Vereins zur Hilfe für Zwangsprostituierte mit Ausstiegs- und Arbeitsangeboten in der Diakonie
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Kirchenräume als letzte Zuflucht für Asylsuchende
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„Versöhnungsweg“ – ein ökumenisches Projekt einer grenzüberschreitenden Arbeitsgruppe der Straßburger und Kehler Kirchen mit einem biblischen Garten als Ort des Friedens am Rheinufer - eine umfangreiche Anregung für Jugendliche 19
Nachhaltig wirksam wären auch regelmäßige Friedensgebete an herausgehobenen Orten wie Citykirchen unter Einbeziehung von Schülergruppen aller Schularten.
11. Anregungen für Gemeinde und Schule
Der Reiz des Lernens an authentischen Gegenständen und an authentischen Orten kann nicht hoch genug bewertet werden. Kirchen sind solche authentischen Orte, da sie bis auf den heutigen Tag Zeugnis ablegen von dem, wofür sie geschaffen wurden. Zudem bieten sie als Orte des Erinnerns, eine Fülle von Anregungen für Menschen der Gegenwart zur Auseinadersetzung mit der Vergangenheit in Verantwortung für die Zukunft. So trägt die Beschäftigung mit den genannten Originalen im Besitz der Marktkirche mit zur Identitätsbildung junger Hannoveraner bei. In Zusammenarbeit von Kirche und Schule lassen sich so kirchenpädagogische Ideen wirkungsvoll in fächerübergreifenden und altersübergreifenden Projekten umsetzen. Von besonderer Bedeutung ist bei diesen Gelegenheiten eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der persönliche Fragen geschützt angesprochen werden können.
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In der Familie könnten sich Großeltern und Enkel in „einer Stunde der Wahrheit“ ihre persönlichen Erlebnisse bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, aber auch in Situationen von Schuld und Vergebung, in Zeiten des Scheiterns und Vergebens erzählen.
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Konfirmanden könnten Zeitzeugen aus Krisensituationen im Interviewstil befragen und die Ergebnisse später in geeigneter Form präsentieren.
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Gymnasiasten könnten in Kirchenräumen und Kirchenbüchern forschen nach möglichen Vorbildern oder Menschen in der Gemeinde, denen eine angemessene Wertschätzung bisher vorenthalten wurde. Kirchliche Archive geben gern Hilfestellung.
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Gab es Christen jüdischer Herkunft in der eigenen Gemeinde, die den
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Holocaust nicht überlebten? Wie verhielten sich die Gemeindemitglieder? Was geschah mit dem Eigentum der Opfer? Wie kann Versöhnung mit Nachkommen gestaltet werden, wenn diese sich zu erkennen geben sollten?
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Ist das aus anderen Städten bekannte „Projekt Stolpersteine“ 20 mit kleinen Messingplatten vor Häusern ermordeter jüdischer Nachbarn übertragbar auf die eigene Kirchengemeinde oder Stadt?
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Welche Verfolgung haben russlanddeutsche Spätaussiedler in ihren Geburtsorten erlitten und wie fühlen sie sich heute in Deutschland?
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Gab es Menschen, die durch die Willkür der DDR-Staatsmacht zu Schaden kamen? Wie kann in solchen Fällen Versöhnung gestaltet werden ?
Die Ergebnisse könnten in einer Ausstellung im Kirchenraum präsentiert werden, als ein Schritt der Wahrheitsfindung auf dem Weg zur Versöhnung.
12. Kirchen als Orte der Versöhnung
Aktuelle Ereignisse zeigen, Besucherinnen und Besucher, auch ohne Christen oder gar Kirchenmitglieder zu sein, legen ungefragt in Kirchen Kerzen und Blumen ab, um spontan und zeichenhaft ihr Mitgefühl mit Verfolgten ausdrücken zu können. Der aufrichtige und manchmal lebensgefährliche Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der gegenwärtigen Welt braucht sinnstiftende Orte des Friedens – Kirchenräume an sich sind diesem Anliegen angemessen. Sie können zu Orten des Versöhnens werden. So kommen heute zahlreiche Menschen in die neue Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße in Berlin. Der kleine ovale Lehmbau wurde am 9. November 2000 geweiht, erinnernd errichtet auf dem Fundament der 1894 gebauten Versöhnungskirche, die DDR-Grenztruppen 1985 wegen ihrer Grenznähe sprengten. Der moderne Kirchbau, bescheiden und zukunftsorientiert in Materialwahl und Gestaltung, bildet gemeinsam mit der Gedenkstätte Berliner Mauer und dem Dokumentationszentrum zur Mauergeschichte ein eindrückliches Gedenkstättenensemble. Im Begleitheft der Versöhnungskapelle heißt es: „Der christliche Glaube bezeugt, „Versöhnung“ ist mehr, ist anders als Toleranz. Da lässt man nicht „fünfe gerade sein“, und schon gar nicht nach dem Blick auf Menschenverachtung und Brutalität. Versöhnung will vielmehr an jedem Ort des bewohnten Erdkreises, und das heißt „ökumenisch“! – zur Geltung und Anschauung bringen, was Gottes Handeln im ermordeten und lebenden Jesus Christus zugunsten von Mensch und Welt endgültig bewirkt hat. Jede Errichtung von Mauern der Unfreiheit, jede Verachtung der Menschenwürde fällt hinter das zurück, was nach Gottes Willen das Leben der Menschen bestimmen soll. Das Wort „Versöhnung“ mit seinem, das Handeln Gottes und der Menschen umgreifenden Doppelklang ist deswegen nicht nur zur Beschreibung des Tuns dieser Kirchengemeinde an der Berliner Mauer geeignet, gerade hier allerdings kann es viel von dem sagen und zeigen, wozu die Kirche heute jeden einzelnen rufen, wobei und wohin sie ihn begleiten will.“ 21 Da die Evangelische Kirche in Deutschland sich als „intermediäre Institution“ versteht, kann sie gewaltfrei zur Konfliktlösung beitragen, bei Seelsorgegesprächen im zwischenmenschlichen Bereich wie in weltpolitischen Konfliktsituationen. In einem Vortrag an der Humboldt-Universität Berlin umriss Bischof Huber die Rolle der Kirche als intermediäre Institution mit folgenden Worten: „Die Kirche ist aus ihrer staatsanalogen Stellung herausgetreten und hat sich neben dem Staat zu einem eigenständigen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt. In dieser Veränderung liegt auch eine Chance. Die Kirche kann sich neu als intermediäre Institution verstehen. Damit ist folgendes gemeint: Für die einzelnen leistet sie einen Dienst der Vermittlung zwischen der geglaubten und erfahrenen Wirklichkeit. Sie bietet einen Deutungshorizont an, der die verschiedenen Felder persönlichen und gesellschaftlichen Lebens in einem inneren Zusammenhang erkennen lässt. Als Interpretationsgemeinschaft ermöglicht sie es den einzelnen, selbst die Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mitzuprägen und an der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Sinnmuster mitzuarbeiten. So schafft sie Verbindungen zwischen den einzelnen und vermittelt zwischen ihnen und dem Leben der Gesellschaft, ja im Kosmos. In diesem - durchaus anspruchsvollen - Sinn kann man die Kirche als „intermediäre Institution“ bezeichnen.“ 22
Weiterführende Literatur:
Handbuch der Kirchenpädagogik
Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen
Hartmut Rupp, Hg.
Calwer Verlag Stuttgart 2006
Der Religion Raum geben
Eine kirchenpädagogische Praxishilfe
Christiane-B. Julius, Tessen v. Kameke, Thomas Klie, Anita Schürmann-Menzel
RPI Loccum 1999, ISBN 3-925258-75-2
Lea fragt Kazim nach Gott
Grundschulkinder erkunden das religiöse Leben rund um Moschee und Kirche
Christlich-muslimische Begegnung in den Klassen 2-6, Buch und CD-Rom
Karlo Meyer
Göttingen 2006
Antisemitismus - Wir haben etwas dagegen!
Broschüre, herausgegeben vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2006
Zu beziehen über das Kirchenamt der EKD: versand@ekd.de
„Ihr Ende schaut an…“
Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts
Harald Schultze/Andreas Kurschat (Hg.)
Leipzig 2006
Anmerkungen
- Fulbert Steffensky: Der Seele Raum geben. Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung, Texte zum Sachthema der 10. Synode der EKD Hannover 2003
- Fulbert Steffensky: Mission ist die gewaltlose Werbung für die Schönheit eines Lebenskonzepts, in: Chrismon plus 05/2006, S. 74
- M. Bachmann, Der Hebräerbrief, in: K.-W. Niebuhr (Hg.) Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2003, S. 297
- Vergl.: Eva Kesting: Ecclesia und Synagoge – Zum Verhältnis von Christentum und Judentum, Faltblatt des kath. Doms St. Marien, Erfurt 2005
- Sigrid Lekebusch: Christen jüdischer Herkunft- Glaubenszeugen? In: Harald Schultze/Andreas Kurschat (Hg.): „Ihr Ende schaut an…“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006, S. 197
- Kundgebung der 9. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer 5. Tagung zu „Christen und Juden – 50 Jahre Erklärung von Weißensee“ in: Kundgebungen der Synode der EKD, Band 5, Hannover 2002, S. 395
- „Antisemitismus-Wir haben etwas dagegen!“ Broschüre, herausgegeben vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2007, erhältlich unter versand@ekd.de.
- Sabine Wehking: Das Inschriftenbuch der Stadt Hannover, Wiesbaden 1993, S. 72
- Hans Otte (Hg.): Hanns Lilje - Im finstern Tal. Rückblicke auf eine Haft, Hannover 1999, S. 72
- Harald Schultze/Andreas Kurschat (Hg.): „Ihr Ende schaut an…“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006
- Hans Otte (Hg.): Hanns Lilje – Im finstern Tal. Hannover 1999
- Vgl.: Kurt Kramer: Klänge zwischen Zeit und Ewigkeit, Kevelaer 2006
- A.a.O. S. 16
- 20. 8. 2003, Vortrag Prof. Christian Pfeiffer „Das Böse und wir“, Marktkirche Hannover
- Tafel mit chronikalen Notizen im Besitz der Marktkirche, in: Sabine Wehking: Das Inschriftenbuch der Stadt Hannover, Wiesbaden 1993, S. 149
- Friedensgebet, in: Evangelisches Gesangbuch, Hannover 1994, Nr. 825
- A. a. O.
- Wolfgang Huber: Ziel christlichen Handelns ist der Friede – Predigt im Ökumenischen Vespergottesdienst zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, Berliner Dom, 25. März 2007, in: http://www.ekd.de/predigten/huber/54000.html, eingesehen am 15. 6. 2007
- Versöhnungsweg – eine ökumenische grenzüberschreitende Initiative - kostenlose Broschüre erhältlich unter 07851-74040 bei Kehler Kirchen, Führungen Pfarrer Alban Meier, Tel. 07851-484456
- Monika Ebertowski: Projekt Stolpersteine, in: Pädagogik, Juni 2006, S. 14-17
- Peter C. Bloth: zum Begriff Versöhnung, in: Ulrike Braun: Versöhnungskirche – Kapelle der Versöhnung in Berlin, Berlin 2003, S. 23
- Wolfgang Huber: Die Rolle der Kirchen als intermediärer Institutionen in der Gesellschaft, 14. September 2000, Humboldt-Universität Berlin, Symposion „Die Zukunft des Sozialen“, in: www.ekd.de/gesellschaft/huber-v5.html, eingesehen am 16. 7. 2006