Sensibilität für die Medien als Sensibilisierung für menschliches Leben –Medienpädagogisches Handeln im Religionsunterricht

von Eckart Gottwald

 

1. Medien‑Alltag im Religionsunterricht

Beispiel 1: Schüler einer Grundschulklasse kleben mehre­re Heftseiten oder größere Blätter Papier an­einander und befestigen an den Enden zwei Rundhölzer oder Stöcke. Sie basteln sich eine einfache Schriftrolle nach antikem Vorbild. Diese Rolle begleitet sie über einige Zeit durch den Religionsunterricht. Mal schreiben sie den Text eines Psalms, ein Jesus‑Wort oder eine Gleichnisgeschichte hinein, ein andermal das Vaterunser oder ein Weihnachtslied oder einfach eine andere kurze Geschichte, die sie im Unterricht behandelt haben. Dazu dekorie­ren sie sie mit Ornamenten, malen kleine Bil­der hinein ‑ und wenn der Platz nicht reicht, kleben sie noch ein paar Blätter dazwischen. Sie führen die Rolle fort, solange ihnen der Umgang mit diesem Medium Spaß macht. Die Kinder haben ein altes Medium wieder­entdeckt, das sie eine Zeitlang durch den Un­terricht begleitet und das sie vielseitig nutzen. Sie haben damit ein wenig Medienkunde und Medienerziehunq zugleich erlebt.

Beispiel 2: Schüler im Religionsunterricht der Grundschu­le malen viel ‑ Bilder zu biblischen Stoffen des Alten und des Neuen Testamentes, zum Le­ben in einem palästinensischen Dorf zur Zeit Jesu, zu eigenen Erlebnissen und Erfahrun­gen, zu Motiven ihrer Phantasie, ihrer Hoff­nungen, Freuden und Ängste. Manchmal fer­tigen sie auch einzeln und in Gruppen Collagen an zu Alltagsthemen und zu Glau­benssätzen, aus Zeitungsausrissen, alten lllu­strierten und den verschiedensten anderen "Medien" ihres Alltags. Jedes dieser Bilder und jede Collage erzählt eine Geschichte, die gemischt ist aus dem, was die Schüler gehört, gesehen und gelernt haben, was sie im Unter­richt und anderswo an Fragen, Aussagen, Überlieferungen und Lehrsätzen "rezipiert" haben, und aus dem, was sie mit ihren indivi­duellen Möglichkeiten innerlich daraus ge­macht haben im Kontext ihrer Bedürfnisse und Motive, ihrer Wünsche und Sehnsüchte, ihrer Vorstellungen und Befürchtungen. Jedes dieser Bilder formuliert eine Aussage bzw. enthält eine vielschichtige Bedeutung, die man wieder in einer neuen Geschichte erzäh­len könnte. Die Kinder haben nicht nur ein ei­genes Medium gestaltet, sondern zugleich ei­nen eigenen "Text" geschaffen, in dem sie ihre Sicht der Dinge und ihre Eindrücke zu ei­ner sinnvollen Aussage "formuliert" haben. Die Schüler artikulieren sich ständig "Media", teilen sich über "sprachliche" Medien mit und kommunizieren über sie, so wie es auch uns im alltäglichen Umgang vertraut ist.

Beispiel 3: Kinder malen auf einer Rolle Projektorfolie fortlaufend lllustrationen zu einer erlebten oder phantastischen Geschichte ‑ eine Bilder­folge entsteht, die mit ihrer eigenen, vorher besprochenen oder auch spontan sich erge­benden Dramaturgie ein Motiv, ein Problem oder ein Thema so entfaltet, wie die Schüler es gerade erfassen und artikulieren können. Die Schüler malen einen "Comic", dieser wird zum neuen Medium für die Interaktion in der Lern‑Lehr‑Gruppe.

Beispiel 4: Schüler im Religionsunterricht der Grundschu­le, aber auch der Sekundarstufe I, lernen früh, im Rollenspiel eigene Erlebnisse und Ge­fühle, aber auch Themen und Probleme aus der christlichen Überlieferung sowie soziale und ethische Konflikte zu thematisieren, zu durchdenken und in diesen Spielhandlungen Lösungsmöglichkeiten auszuprobieren. Sie üben sich darin, für sie persönlich und für das Zusammenleben wichtige Themen und Pro­bleme zu erschließen und anzueignen. Gele­gentlich regen Lehrer ihre Schüler an, solche "Geschichten" weiter durchzuarbeiten, in­dem sie sie zum Hörspiel ausgestalten oder als szenisches Spiel inszenieren und mögli­cherweise mit der Videokamera aufzeichnen. Auch Puppenspiele ‑ mit Hand‑ oder einfa­chen, selbstgefertigte Stabpuppen ‑ werden gelegentlich mit der Kamera dokumentiert oder planmäßig zu einem kleinen Videofilm weiterentwickelt. So produzieren die Schüler in einfacher Form ein modernes, audiovisuel­les Medium, ihren eigenen Film oder ihre "Sendung", die sie auf einem Elternabend oder bei einem Schulfest ihrem "Publikum" vorführen.

Diese Beispiele medialen Lernens und Lehrens im Religionsunterricht lassen sich beliebig ver­mehren. Sie sind in mehrfacher Hinsicht interessant

religionsdidaktisch, weil sie alle im Religi­onsunterricht inszeniert wurden, um den Schülern die Inhalte des RU zu vermitteln. Sie sind methodisch und didaktisch einge­setzt worden, um die Auseinandersetzung der Schüler mit und die Aneignung von christlicher Überlieferung, von existentiel­len (Grund Fragen und Problemen der Sinn‑ und Wertorientierung zu befördern;

mediendidaktisch, weil sie unterschiedliche Medien und verschiedene Formen media­len Gestaltens nutzen, um den Religions­unterricht anschaulich, konkret und so weit wie möglich erlebnishaft zu gestalten;

medienpädagogisch, weil sie alle ganz selbstverständlich Formen medialen Ge­staltens und medialen Mitteilens im Unter­richt praktizieren, die uns aus unserem all­täglichen Umgang miteinander und mit unserer Lebenswelt vertraut sind.

Es lohnt sich also darauf zu achten, daß wir im Unterricht selbstverständlich Medien be­nutzen, die uns aus dem alltäglichen Umgang vertraut sind. Vielleicht mag nicht jeder Leh­rer mit einer Videokamera arbeiten, aber vie­le tun es genauso selbstverständlich wie an­dere fotografieren, und die technischen Vor­aussetzungen sind ähnlich leicht zu schaffen. Ob Malen oder Fotografieren, ob Tonband oder Videoaufzeichnung ‑ jeder macht seine Bilder, sein Medium, das ihm zur Information oder Interpretation dient, Eindrücke wieder­gibt und Befindlichkeiten ausdrückt ‑ ein Medium, von dem er meint, daß es den Un­terricht bereichert und seinen Schülern nützt. Daß wir im Religionsunterricht selbst­verständlich Alltagsmedien nutzen, ist nicht verwunderlich, denn christliche Überlieferung ist ebenso auf mediale Vermittlung angewiesen wie die Schüler anschaulich konkrete Medien brauchen, um sich ihre Lebenswelt, ihre Situation und sich selbst zu vergegenwärtigen und begreifbar zu machen.

 

2. Medien vermitteln Überlieferung und Erfahrung

2.1 Medien erschließen Tradition und Bekenntnis

Das Zeugnis vom "Wort Gottes" wird in Tex­ten und Bildern konkret und anschaulich. "Glaube, wie er leibt und lebt" hat Yorik Spiegel (1984) seinen Traktat über die Sinn­bilder genannt, an denen wir uns täglich ori­entieren, mit denen wir uns schützen, stär­ken und trösten, die uns aber auch einengen und unfrei machen können. Er hat uns damit unmißverständlich daran erinnert, daß christ­licher Glaube zwar aus dem Hören des Wort Gottes kommt, aber sich nicht allein in Form von Glaubenssätzen und Begriffen in unse­rem Bewußtsein konkretisiert. Glaube wird erst lebendig und "wirklich", wenn er in un­serem Leben, Verhalten und Handeln Gestalt gewinnt

Die theologische Bevorzugung des "Wortes" in der reformatorischen Theologie und das Bilderverbot der jüdisch‑christlichen Tradition werden deshalb mißverstanden, wenn sie gegen den Einsatz von Bildern und anderen Medien im Religionsunterricht ins Feld geführt werden. Auch die oft zu hörende Be­merkung engagierter Lehrer: "Am besten läuft mein Unterricht, wenn ich mit den Schülern mal so richtig rede!", geht kurz­sichtig über Wert und Nutzen der medialen Kommunikationshelfer hinweg. Denn das Vermittlungsgeschehen im Religionsunter­richt ist in jedem Fall auf mediale Vermitt­lung angewiesen.

Die spezifischen Inhalte des Religionsunterrichts, die jüdisch‑christliche Tradition und das kirchliche Glaubenszeugnis, werden nur in "erzählten" Bildern und "anschaulichen" Geschichten konkret und lebendig. Das Wort Gottes selbst ist anschaulich, die Botschaft von der Nähe seiner Herrschaft, die Verhei­ßung von Rechtfertigung, Zukunft und Leben, bleibe jedoch abstrakt, wenn sie sich nicht des "Verbum externum" (Luther), des menschlichen Wortes und der Sakramente bediente, um gehört und angenommen zu werden‑ der konkreten geschichtlichen Ge­stalten und der anschaulichen Geschichten des biblischen Zeugnisses von Bund und Schöpfung, von Vätern und Propheten, von Königen und Volk, letztlich der Geschichten vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth. Die biblischen Gleichnisse. die kirchlichen Altarbilder, die frommen Heiligen­legenden und die Werke der religiösen Kunst leben von der Kraft ihrer elementaren Bilder, sie "sprechen" uns "an", durch sie können wir uns mit ihrer Bedeutung identifizieren oder doch wenigstens auseinandersetzen. Nicht Lehrsätze aus dem Katechismus und nicht die vernünftige Einsicht in die außeror­dentliche Bedeutung der christlichen Tradition erschließen uns den persönlichen Zugang zum biblischen Zeugnis, sondern das Sich-Wiederfinden in den Erfahrungen und Über­zeugungen der Menschen, deren Leben und Glauben uns die christliche Tradition so an­schaulich übermittelt. Das Bilderverbot ent­stammt der Abwehr eines magisch‑mythi­schen Denkens, es richtete sich ursprünglich gegen das allzu menschliche Bedürfnis, den lebendigen, unfaßbaren Gott des Alten Bundes in ein menschliches Bild zu fassen und ihn im Bilderkult verfügbar und beherrschbar zu machen. Es steht zugleich als Protest gegen alle Kulte und Kultbilder konkurrierender Gottheiten außer und neben Jahwe. Die reli­giösen Bilder aber sind nach protestantischer Auffassung "weder gut noch böse", man kann sie didaktisch nutzen (Luther), ihr Wert hängt allein davon ab, ob wir sie im Geist de Glaubens oder des Unglaubens nutzen (Schwebel 1980, S. 5ff). Was sie bedeuten und wirken, hängt neben ihrer kulturellen Herkunft allein von unserer Wertung und Deutung ab.


2.2 Medien erschließen Wirklichkeit und Erfahrung

Bildhaftanschauliches Wahrnehmen und Vorstellen bildet einen ursprünglichen Zugang des Menschen zur Wirklichkeit. Bilder vermitteln zwischen der Realität und unseren Vor­stellungen, zwischen Tatsachen und Phantasien, zwischen Äußeren Eindrücken und inneren Empfindungen. In Bildern und Medi­en artikulieren wir unsere Erfahrungen und tauschen sie untereinander aus

Audiovisuelle Medien werden heute bewußt als kommunikative Mittler genutzt. Sie ver­körpern nicht die Macht des in ihnen darge­stellten Gottes oder Herrschers und lassen sich auch nicht mit vermeintlich magischer Kraft gegen die abgebildeten Personen oder Sachen verwenden. Sie dienen vielmehr in­strumentell dazu, einen Sachverhalt "mittel­bar" durch Information und Anschauung zu vergegenwärtigen, sie sind deshalb immer zu gleich auch "Text" mit einem Inhalt, mit eigener Struktur und Aussage. Bildmedien z.B. vermitteln uns Kenntnisse und Anschauungen über die Wirklichkeit, die wir um uns herum wahrnehmen, sie geben aber auch unseren inneren Empfindungen und Gefühlen Aus­druck: In Bildern artikulieren wir Eindrücke und unbewußte Vorgänge unserer Seele, in Bildern drücken wir uns aus, wenn wir uns etwas vorstellen, etwas darstellen oder in "anschaulichen" Worten erzählen und be­schreiben; durch Bilder eignen wir uns An­schauungen an, die andere Menschen sich erworben haben. Deshalb ist es für den Reli­gionsunterricht wichtig, nicht nur Bilder mit religiösen Inhalten zu behandeln, also Bibel­illustrationen oder Darstellungen zur Kirchen­geschichte oder aus dem Gottesdienst und dem Gemeindeleben, sondern auch die Medien unseres Alltags einzubeziehen und inter­pretierend zu behandeln. Denn wie sich in den einen das überlieferte Zeugnis vom Re­den Gottes artikuliert, so in den anderen user "weltliches" Erfahren und Erleben. Die all­täglichen Bilder sind wirkliches Element unserer Lebenswelt und teilen immer auch et­was über diese und über die Motive, Empfin­dungen und Absichten derer mit, die sie her­stellen oder benutzen. Die Kirchen haben sich in ihrer Verkündigung und Unterweisung im­mer anschaulicher Bilder und bildhafter Ge­schichten bedient und so didaktisch zwischen dem "Wort Gottes", dem Grund ihres Zeugnisses, und den Hörern mit ihren Erfahrungen "vermittelt". Der Religionslehrer verfährt nicht anders. Er muß aber, wie die Kirchen heute auch, bewußt auf die weltlichen Bilder achten, sie als Ausdruck der Erfahrungen und Empfindungen der Menschen heute verste­hen und sie genauso sorgfältig "lesen" und interpretieren, wie er selbstverständlich die traditionellen Texte der christlichen Überlieferung existiert und interpretiert, um nicht an der Realität der Schüler, an ihren Alltags­erfahrungen vorbei zu unterrichten. Er braucht die Medien, mit denen die Schüler alltäglich spielen, sich unterhalten und lernen, um seine fachspezifischen Inhalte und den Alltag der Schüler zu vermitteln. Der wach­sende Einfluß der Medien auf die Schüler und der vermehrte "Nutzen", den sie daraus zie­hen, verstärkt diese Notwendigkeit.
 

3. Das Medien‑Handeln der Kinder als religionspädagogische Herausforde­rung

Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit im Umgang mit Medien, die "Mediatisie­rung" vieler Alltagsbereiche schreitet kontinu­ierlich voran. Was das für die Kinder qualitativ bedeutet, wurde bisher nur vereinzelt unter­sucht. Dennoch sind dauerhafte und womög­lich tiefgreifende Veränderungen für das Alltagsleben der Kinder und ihr Verhältnis zur Umwelt abzusehen; sie berühren auch die Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts: (1) Der Alltag der Kinder wird zunehmend von "Medienerfahrungen bestimmt und durch­setzt", er wird dadurch komplizierter und dif­ferenzierter. Die Kinder müssen sich mit den Medien‑ und Konsumangeboten auseinan­dersetzen und "neue Formen der Aneignung von Welt" und Wirklichkeit entwickeln. Das betrifft sowohl ihr praktisches Verhalten als auch das symbolische Aneignen und Verste­hen der Wirklichkeit und ihrer selbst. (vgl. z.B Barthelmes 1986, S. 8) (2)Auch inhaltliche Aspekte des Sinnaufbaus und des Verstehens von Alltag und Lebenswelt wandeln sich unter dem Einfluß der Me­dien:

  • Normen und Werte, also auch die Orien­tierungen für das Handeln und die Zielvor­stellungen junger Menschen etwa für ihre Lebensplanung, orientieren sich nicht mehr allein an dem, was in Gesellschaft und Kultur allgemein "gilt", sondern ver­stärkt auch an den künstlichen Leitbildern, die die Medienprogramme unter den Be­dingungen von Aktualität, Faszination und Attraktivität entwerfen. Eigene mediale Leitbilder entstehen.
  • Sinngebungen für die Erlebnisverarbeitung unterliegen der Einwirkung der trivialen oder tragischen, phantastischen wie wirkli­chen Geschichten von Gut und Böse der Fernsehunterhaltung oder der Video und Computerspiel.
  • Alltagsroutine wird durch den Medien­betrieb "reglementiert": Während der Hauptnachrichten ruft man niemanden an, während großer Sportübertragungen fin­den keine Gruppenveranstaltungen statt.
  • Vorstellungen über Zeit, Raum und Gegen­stände verändern sich, die Medien vermit­teln das Gefühl, unbegrenzt überall und jederzeit dabei zu sein, der subjektive Akti­onsradius weitet sich aus.
     

Der wachsende Einfluß der Medien bzw. die "Sozialisation durch Medien" tritt in Konkur­renz zu den traditionellen Sozialisations­instanzen wie Familie und Schule bzw. drängt deren Einfluß weiter zurück (ebd., S. 7) Das gilt auch für religiöse Erziehung und Religi­onsunterricht. (3)Abzusehen ist auch, daß Kinder und Ju­gendliche nicht nur Objekte der Medien­wirkung sind, sondern sich auch als deren Subjekte verhalten: Sie nutzen das alltägliche Medienensemble aktiv als Spiel‑ und Experi­mentierfeld nach ihren Bedürfnissen: Sie se­hen selektiv, auch wenn die Programme kon­tinuierlich durchlaufen, sie handeln als Zuschauer "aktiv" und greifen sich themati­sche Aspekte heraus, die den aktuellen The­men korrespondieren, mit denen sie von ihrer inneren Entwicklung und ihrem äußeren Um­feld her gerade beschäftigt sind. Sie nutzen das Fernsehen zur alltäglichen "Lebensbewäl­tigung" (vgl. Charlton/Neumann 1986) und machen aus ihrer Beschäftigung mit Video und Computerprogrammen "eine Art Bau­stelle für die eigene Identitätsarbeit"; zwar liefern ihnen die Medien keine "zusammen­hängende(n) Bilder der Wirklichkeit" und keine "umfassende(n), dauerhaften und detaillierte(n) Identifikationsangebote", bie­ten aber doch immerhin "eine Fülle von Frag­menten, Sinnsplittern und reizstarken Eindrücken. Die Kinder sind also gezwungen (bzw. haben auch die Chance), die Synthe­sen, die Selbstentwürfe und Welt­interpretationen immer wieder in ihrem Tun und in ihren Köpfen selbst herzustellen". (Hengst 1984, S. 25)

Allerdings müssen sie sich auf die "Spra­che der Medien einlassen. Sie hören und se­hen in den Bildern und Codes, in den Zeichen und Symbolen, die ihnen die Massenmedien bzw. die von ihnen bevorzugt genutzten Me­dien vorgeben. Sie eigenständig zu deuten und kritisch zu nutzen, braucht eine eigene, kritische Sprachlehre. Die "audiovisuelle Alphabetisierung" ist deshalb als Kern einer kritischen Medienkunde und Mediener­ziehung zu begreifen und bildet für die Schü­ler den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur eigenen kommunikativen Kompetenz.

Die weitgreifenden persönlichkeitsbilden­den und Weltbild‑konstituierenden Folgen der ausgedehnten Mediennutzung können auch die Religionslehrerinnen nicht übersehen und nicht übergehen. Denn auch im RU muß der Schüler mit seiner konkreten Individuali­tät, mit seiner persönlichen Biographie und Lebenspraxis im Mittelpunkt stehen, das gilt in der neueren Religionspädagogik als "allge­mein anerkanntes Postulat" (Fraas 1986, S. 77). Medienalltag und Medienbiographie der Schüler sind deshalb nicht nur als Vorausset­zung für den am Schüler orientierten Religi­onsunterricht zu berücksichtigen, sondern müssen auch im Unterricht thematisiert wer­den. Dabei kommt es allerdings auch hier wie bei den religiösen Bildern in der Reformati­onszeit auf den "Geist" an, mit dem wir an die Medien herangehen; ob wir sie als unab­änderliche, die Kinder sich ihrer selbst ent­fremdende, manipulative Mechanismen betrachten, ob wir sie als religionspädagogisch neutral übergehen oder aber sie als theologisch und pädagogisch positive Herausforde­rung begreifen, je nach unserer Einschätzung werden wir pädagogisch anders handeln. Handeln aber müssen wir.

 

4. Sensibilisierung für die Medien als Weg zur Sensibilität für das Leben

Im Medienensemble unseres Alltags und in unserem Umgang mit ihm artikulieren und realisieren sich wichtige Aspekte der Lebens­wirklichkeit der Schüler. Sensibilisierung für den Medienalltag von Kindern und Jugendli­chen bedeutet deshalb einen Schritt zur Sen­sibilisierung für das konkrete Leben der Schü­ler und für unser Zusammenleben insgesamt ein Anliegen, in dem sich Medienpädagogik und Religionspädagogik begegnen. "Sensibili­tät" meint einen "ganzheitlichen Akt", der nach der lateinischen Grundbedeutung des Wortes das "Fühlen", das "Empfinden" und genauso das "Wahrnehmen" umfaßt; "Sensi­bilität für das Leben" ist also zu verstehen als ganzheitliche, umfassende "Wahrnehmungs­fähigkeit des Menschen für den Menschen" und seine Lebensbedürfnisse (Lämmermann-Kuhn 1988, S. llf). In der Befähigung zu die­ser grundlegenden Sensibilität verbinden sich anthropologische, pädagogische und theolo­gische Bemühungen um den Menschen.

Der Religionsunterricht kann sich jedoch nicht einfach die Aufgaben der Medienkunde und Medienerziehung zu eigen machen, aber er kann ‑ und muß ‑ in dieser Perspektive mit der Medienpädagogik kooperieren und dar­über hinaus seine speziellen Zielsetzungen verfolgen.

Baacke hat kürzlich die Strategien Medien pädagogische Handelns mit den Begriffen "Bewahren ", "Aufklären ", "Wahrnehmen " und "Handeln" charakterisiert (GMK 1989, S 8ff) . Alle vier Strategien lassen sich auch produktiv den Intentionen des Religionsunter­richts zuordnen:
 

4.1 "Bewahren" ‑ durch Thematisieren des Medienumgangs im Religionsunterricht

"Bewahren" meint medienpädagogisch, daß vor allem jüngere Kinder vor sie überfordern­den, sie möglicherweise gefährdenden Medieneinflüssen geschützt werden müssen, ohne daß ihnen dadurch allmählich wachsen­de Teilhabe an medialer Kommunikation und persönliche Mündigkeit unmöglich gemacht werden. Diese "bewahrpädagogische" Positi­on ist nur zu rechtfertigen, wenn sie produk­tiv gewendet werden kann: Nicht der Schon­raum jenseits aller Gefährdungen, sondern die Sensibilisierung diesen gegenüber und die Notwendigkeit und Chance, ihnen einen Ta­ges verantwortlich handelnd zu begegnen, begründen hier ein medien‑ wie religions­pädagogisch zu vertretendes Handeln. Dieses kann nur darin bestehen, auch jüngere Kinder allmählich und vorsichtig an Formen und In­halte medialer Kommunikation heranzufüh­ren, denen sie früher oder später nicht mehr ausweichen können und die sie dann aus ei­gener Kompetenz beurteilen, ablehnen oder verändern müssen

"Bewahren" im theologischen bzw. religions­pädapogischen Sinne wie im ökomenischen Programm von der "Bewahrung der Schöp­fung" betont ebenfalls einen Entwicklungs- und Zukunftsaspekt: Nicht die restaurative Wiederherstellung einer‑symbolisch gespro­chen ‑ " paradiesischen " Lebenswelt ohne alle Gefährdungen kann das Ziel sein ‑ das "Paradies" hat es nie gegeben ‑, sondern nur die Förderung der Kritik‑ und Entscheidungs­fäbigkeit der jungen Menschen, eine men­schenwürdige Lebenswelt zu planen und zu entwickeln und dabei auch die Chancen der modernen technischen Möglichkeiten zu nut­zen. Deshalb sollte auch in der religiösen Un­terweisung in der Vor‑ und Grundschule der Umgang mit den Alltagsmedien thematisiert und in Maßen geübt werden, um die Wahr­nehmungs‑ und Handlungsfähigkeit der Schüler zu "bilden" ‑ sie also schon hier an­satzweise zu sensibilisieren für die Chancen und für die Grenzen medialer Kommunikati­on als eines Aspektes ihres wirklichen Lebens und ihrer Zukunft. (...)
 

4.2 "Aufklären" ‑ durch medien­pädagogisches Arbeiten an Unterrichtsmedien

"Aufklären" als Unterstützung, Kinder und Jugendliche zum selbständigen Denken und Handeln zu befähigen, zielt darauf, sie auch im Umgang mit den Medien zu "mündigen Bürgern" zu machen, d.h. sich selbst über Medien und mediale Öffentlichkeit aufzuklä­ren und so "erworbenes Wissen und gewon­nene neue Einsicht in kommunikatives Han­deln" umzusetzen (GMK 1989, S. 1 1).

Aufklärerische Medienkunde und Medien­erziehung trifft ein zentrales Anliegen auch des Religionsunterrichts, denn dieser setzt wie jeder andere Unterricht den "rationalen Umgang mit Selbst und Welt" voraus (Schmidt 1982, S. 93). Er praktiziert Aufklä­rung im Umgang mit Religion, Theologie und Frömmigkeitspraxis und leitet die Schüler an, unsere konkreten Lebensverhältnisse und de­ren Krisenerscheinungen kritisch‑rationell zu beurteilen. Religionsunterricht ist der Rationa­lität auch dann verpflichtet, wenn er die christliche Hoffnung auf neue Gemeinschaft und "gelingendes" Leben interpretiert und konkretisiert. (...)
 

4.3 "Wahrnehmen" ‑ als Sensibilisierung für Wirklichkeit und Mitmensch

"Alles, was wir wahrnehmen, hat Zeichen­charakter"; angesichts der vielfältigen Wahr­nehmungsangebote des Medienalltags müs­sen wir auch unsere Wahrnehmung "bilden", um die Fülle von Reizen und Zeichen zu ent­schlüsseln und ihre Bedeutung im Zusammen­hang der eigenen Interessen und Bedürfnis­sen zu buchstabieren. Durch geschulte Wahrnehmung lernen wir, uns selbst und die Würde der anderen unter den Bedingungen medialer Kommunikation wahrzunehmen und zu achten. "Wahrnehmung ist die Brük­ke, die Produzenten und Rezipienten verbin­det‑ im gemeinsamen Schaffen eines ästheti­schen Kanons, in dem sich die politische Kultur eines Landes abbildet" (GMK 1989, S. 11).

"Wahrnehmung" bildet in diesem Sinne einen Grundpfeiler ganzheitlichen, kommuni­kativen Handelns und Sensibilität für kommu­nikative Prozesse die Grundlage für unsere Kommunikationskultur. Als medienpädago­gische Strategie zielt sie ab auf die Kompe­tenz, mediale Angebote differenziert und reflektiert aufzunehmen, sich kritisch anzu­eignen und in eigenes Handeln umzusetzen. Angestrebt wird die Fähigkeit, der Wirklich­keit als ganzer, der Umwelt und den Mitmen­schen "sensibel" zu begegnen. Diesem gene­rellen pädagogischen Ziel sind auch die religiöse Bildung und Erziehung verpflichtet. Der Religionsunterricht kann diese Ziel­dimension nur schrittweise realisieren, wenn er seinerseits mit den Schülern exemplarisch überprüft, welche Bedingungen und welche Möglichkeiten der Selbst‑ und Fremdwahr­nehmung sie in ihrem täglichen Medienum­gang erfahren oder entwickeln können. Er kann dies zugleich bei der Arbeit mit Unter­richtsmedien exemplarisch verdeutlichen und so den Schülern zur Verbesserung ihrer Wahrnehmungskompetenz verhelfen. (...)
 

4.4 "Handeln" ‑ Mediengestaltung als praktische Teilhabe an der Kommunikationsgemeinschaft

Mündiger Umgang mit Medien gründet in der Befähigung, "nicht zufällig partikular" auf deren Angebote zu reagieren, sondern sie im Zusammenhang ganzheitlicher Lebensvoll­züge instrumentell und intentional zu nutzen. Das schließt ein, mit Hilfe selbstproduzierter Medien eigene Anliegen zu artikulieren. Audi­tive und visuelle "Alphabetisierung" kommt dann durch eigenes Kommunikations‑Han­deln zustande und führt die Lernenden, kon­sequent eingeübt, zur praktischen Teilnahme an der öffentlichen Kommunikation (GMK 1 989, S. 1 1 ).

Handeln ist auch theologisch gesehen eine grundlegende Kategorie. Handelnd gewinnt der Mensch seine Identität und erfüllt oder verfehlt seine Bestimmung von Gott her. Han­delnd vergewissert er sich seiner Identität und lernt, sein Tun als eigenes wahrzunehmen und anzuerkennen, handelnd sucht er nach Orientierunq und billigt Werte und Normen.

Nur so kann er auch Verantwortung tragen (Pannenberg 1983, S. 110) und sich in Familie, Gruppe und Gesellschaft integrieren. Die evangelische Kirche hat zuletzt bei der Dis­kussion der neuen Informations‑ und Kom­munikationstechniken anthropologisch, theologisch und ethisch festgestellt: "Personsein gründet ... in der wechselseitigen Kommunikation mit anderen, eingebunden in die Reichhaltigkeit der geschöpflichen Bezüge"; (EKD 1985, S. 23f) sie hat sich dabei am Leitbild "vom mündigen Christen und der mündigen Gemeinde" orientiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Kommunika­tionsmedien" in den Dienst einer mündigen Gesellschaft und in den Dienst mündiger Bürger gestellt werden", damit wie "schon in der Reformation" "gebildete bzw. informierte Bürger das Geschehen verantwortlich mitbestimmen" (ebd., S. 27). Denn das Ziel aller medien‑ und religionspädagogischer Aktio­nen muß bleiben, über Grenzen und Generationen hinweg eine gemeinsame lebendig Kommunikationsgemeinschaft zu praktizieren.