1. Medien‑Alltag im Religionsunterricht
Beispiel 1: Schüler einer Grundschulklasse kleben mehrere Heftseiten oder größere Blätter Papier aneinander und befestigen an den Enden zwei Rundhölzer oder Stöcke. Sie basteln sich eine einfache Schriftrolle nach antikem Vorbild. Diese Rolle begleitet sie über einige Zeit durch den Religionsunterricht. Mal schreiben sie den Text eines Psalms, ein Jesus‑Wort oder eine Gleichnisgeschichte hinein, ein andermal das Vaterunser oder ein Weihnachtslied oder einfach eine andere kurze Geschichte, die sie im Unterricht behandelt haben. Dazu dekorieren sie sie mit Ornamenten, malen kleine Bilder hinein ‑ und wenn der Platz nicht reicht, kleben sie noch ein paar Blätter dazwischen. Sie führen die Rolle fort, solange ihnen der Umgang mit diesem Medium Spaß macht. Die Kinder haben ein altes Medium wiederentdeckt, das sie eine Zeitlang durch den Unterricht begleitet und das sie vielseitig nutzen. Sie haben damit ein wenig Medienkunde und Medienerziehunq zugleich erlebt.
Beispiel 2: Schüler im Religionsunterricht der Grundschule malen viel ‑ Bilder zu biblischen Stoffen des Alten und des Neuen Testamentes, zum Leben in einem palästinensischen Dorf zur Zeit Jesu, zu eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, zu Motiven ihrer Phantasie, ihrer Hoffnungen, Freuden und Ängste. Manchmal fertigen sie auch einzeln und in Gruppen Collagen an zu Alltagsthemen und zu Glaubenssätzen, aus Zeitungsausrissen, alten lllustrierten und den verschiedensten anderen "Medien" ihres Alltags. Jedes dieser Bilder und jede Collage erzählt eine Geschichte, die gemischt ist aus dem, was die Schüler gehört, gesehen und gelernt haben, was sie im Unterricht und anderswo an Fragen, Aussagen, Überlieferungen und Lehrsätzen "rezipiert" haben, und aus dem, was sie mit ihren individuellen Möglichkeiten innerlich daraus gemacht haben im Kontext ihrer Bedürfnisse und Motive, ihrer Wünsche und Sehnsüchte, ihrer Vorstellungen und Befürchtungen. Jedes dieser Bilder formuliert eine Aussage bzw. enthält eine vielschichtige Bedeutung, die man wieder in einer neuen Geschichte erzählen könnte. Die Kinder haben nicht nur ein eigenes Medium gestaltet, sondern zugleich einen eigenen "Text" geschaffen, in dem sie ihre Sicht der Dinge und ihre Eindrücke zu einer sinnvollen Aussage "formuliert" haben. Die Schüler artikulieren sich ständig "Media", teilen sich über "sprachliche" Medien mit und kommunizieren über sie, so wie es auch uns im alltäglichen Umgang vertraut ist.
Beispiel 3: Kinder malen auf einer Rolle Projektorfolie fortlaufend lllustrationen zu einer erlebten oder phantastischen Geschichte ‑ eine Bilderfolge entsteht, die mit ihrer eigenen, vorher besprochenen oder auch spontan sich ergebenden Dramaturgie ein Motiv, ein Problem oder ein Thema so entfaltet, wie die Schüler es gerade erfassen und artikulieren können. Die Schüler malen einen "Comic", dieser wird zum neuen Medium für die Interaktion in der Lern‑Lehr‑Gruppe.
Beispiel 4: Schüler im Religionsunterricht der Grundschule, aber auch der Sekundarstufe I, lernen früh, im Rollenspiel eigene Erlebnisse und Gefühle, aber auch Themen und Probleme aus der christlichen Überlieferung sowie soziale und ethische Konflikte zu thematisieren, zu durchdenken und in diesen Spielhandlungen Lösungsmöglichkeiten auszuprobieren. Sie üben sich darin, für sie persönlich und für das Zusammenleben wichtige Themen und Probleme zu erschließen und anzueignen. Gelegentlich regen Lehrer ihre Schüler an, solche "Geschichten" weiter durchzuarbeiten, indem sie sie zum Hörspiel ausgestalten oder als szenisches Spiel inszenieren und möglicherweise mit der Videokamera aufzeichnen. Auch Puppenspiele ‑ mit Hand‑ oder einfachen, selbstgefertigte Stabpuppen ‑ werden gelegentlich mit der Kamera dokumentiert oder planmäßig zu einem kleinen Videofilm weiterentwickelt. So produzieren die Schüler in einfacher Form ein modernes, audiovisuelles Medium, ihren eigenen Film oder ihre "Sendung", die sie auf einem Elternabend oder bei einem Schulfest ihrem "Publikum" vorführen.
Diese Beispiele medialen Lernens und Lehrens im Religionsunterricht lassen sich beliebig vermehren. Sie sind in mehrfacher Hinsicht interessant
religionsdidaktisch, weil sie alle im Religionsunterricht inszeniert wurden, um den Schülern die Inhalte des RU zu vermitteln. Sie sind methodisch und didaktisch eingesetzt worden, um die Auseinandersetzung der Schüler mit und die Aneignung von christlicher Überlieferung, von existentiellen (Grund Fragen und Problemen der Sinn‑ und Wertorientierung zu befördern;
mediendidaktisch, weil sie unterschiedliche Medien und verschiedene Formen medialen Gestaltens nutzen, um den Religionsunterricht anschaulich, konkret und so weit wie möglich erlebnishaft zu gestalten;
medienpädagogisch, weil sie alle ganz selbstverständlich Formen medialen Gestaltens und medialen Mitteilens im Unterricht praktizieren, die uns aus unserem alltäglichen Umgang miteinander und mit unserer Lebenswelt vertraut sind.
Es lohnt sich also darauf zu achten, daß wir im Unterricht selbstverständlich Medien benutzen, die uns aus dem alltäglichen Umgang vertraut sind. Vielleicht mag nicht jeder Lehrer mit einer Videokamera arbeiten, aber viele tun es genauso selbstverständlich wie andere fotografieren, und die technischen Voraussetzungen sind ähnlich leicht zu schaffen. Ob Malen oder Fotografieren, ob Tonband oder Videoaufzeichnung ‑ jeder macht seine Bilder, sein Medium, das ihm zur Information oder Interpretation dient, Eindrücke wiedergibt und Befindlichkeiten ausdrückt ‑ ein Medium, von dem er meint, daß es den Unterricht bereichert und seinen Schülern nützt. Daß wir im Religionsunterricht selbstverständlich Alltagsmedien nutzen, ist nicht verwunderlich, denn christliche Überlieferung ist ebenso auf mediale Vermittlung angewiesen wie die Schüler anschaulich konkrete Medien brauchen, um sich ihre Lebenswelt, ihre Situation und sich selbst zu vergegenwärtigen und begreifbar zu machen.
2. Medien vermitteln Überlieferung und Erfahrung
2.1 Medien erschließen Tradition und Bekenntnis
Das Zeugnis vom "Wort Gottes" wird in Texten und Bildern konkret und anschaulich. "Glaube, wie er leibt und lebt" hat Yorik Spiegel (1984) seinen Traktat über die Sinnbilder genannt, an denen wir uns täglich orientieren, mit denen wir uns schützen, stärken und trösten, die uns aber auch einengen und unfrei machen können. Er hat uns damit unmißverständlich daran erinnert, daß christlicher Glaube zwar aus dem Hören des Wort Gottes kommt, aber sich nicht allein in Form von Glaubenssätzen und Begriffen in unserem Bewußtsein konkretisiert. Glaube wird erst lebendig und "wirklich", wenn er in unserem Leben, Verhalten und Handeln Gestalt gewinnt
Die theologische Bevorzugung des "Wortes" in der reformatorischen Theologie und das Bilderverbot der jüdisch‑christlichen Tradition werden deshalb mißverstanden, wenn sie gegen den Einsatz von Bildern und anderen Medien im Religionsunterricht ins Feld geführt werden. Auch die oft zu hörende Bemerkung engagierter Lehrer: "Am besten läuft mein Unterricht, wenn ich mit den Schülern mal so richtig rede!", geht kurzsichtig über Wert und Nutzen der medialen Kommunikationshelfer hinweg. Denn das Vermittlungsgeschehen im Religionsunterricht ist in jedem Fall auf mediale Vermittlung angewiesen.
Die spezifischen Inhalte des Religionsunterrichts, die jüdisch‑christliche Tradition und das kirchliche Glaubenszeugnis, werden nur in "erzählten" Bildern und "anschaulichen" Geschichten konkret und lebendig. Das Wort Gottes selbst ist anschaulich, die Botschaft von der Nähe seiner Herrschaft, die Verheißung von Rechtfertigung, Zukunft und Leben, bleibe jedoch abstrakt, wenn sie sich nicht des "Verbum externum" (Luther), des menschlichen Wortes und der Sakramente bediente, um gehört und angenommen zu werden‑ der konkreten geschichtlichen Gestalten und der anschaulichen Geschichten des biblischen Zeugnisses von Bund und Schöpfung, von Vätern und Propheten, von Königen und Volk, letztlich der Geschichten vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth. Die biblischen Gleichnisse. die kirchlichen Altarbilder, die frommen Heiligenlegenden und die Werke der religiösen Kunst leben von der Kraft ihrer elementaren Bilder, sie "sprechen" uns "an", durch sie können wir uns mit ihrer Bedeutung identifizieren oder doch wenigstens auseinandersetzen. Nicht Lehrsätze aus dem Katechismus und nicht die vernünftige Einsicht in die außerordentliche Bedeutung der christlichen Tradition erschließen uns den persönlichen Zugang zum biblischen Zeugnis, sondern das Sich-Wiederfinden in den Erfahrungen und Überzeugungen der Menschen, deren Leben und Glauben uns die christliche Tradition so anschaulich übermittelt. Das Bilderverbot entstammt der Abwehr eines magisch‑mythischen Denkens, es richtete sich ursprünglich gegen das allzu menschliche Bedürfnis, den lebendigen, unfaßbaren Gott des Alten Bundes in ein menschliches Bild zu fassen und ihn im Bilderkult verfügbar und beherrschbar zu machen. Es steht zugleich als Protest gegen alle Kulte und Kultbilder konkurrierender Gottheiten außer und neben Jahwe. Die religiösen Bilder aber sind nach protestantischer Auffassung "weder gut noch böse", man kann sie didaktisch nutzen (Luther), ihr Wert hängt allein davon ab, ob wir sie im Geist de Glaubens oder des Unglaubens nutzen (Schwebel 1980, S. 5ff). Was sie bedeuten und wirken, hängt neben ihrer kulturellen Herkunft allein von unserer Wertung und Deutung ab.
2.2 Medien erschließen Wirklichkeit und Erfahrung
Bildhaftanschauliches Wahrnehmen und Vorstellen bildet einen ursprünglichen Zugang des Menschen zur Wirklichkeit. Bilder vermitteln zwischen der Realität und unseren Vorstellungen, zwischen Tatsachen und Phantasien, zwischen Äußeren Eindrücken und inneren Empfindungen. In Bildern und Medien artikulieren wir unsere Erfahrungen und tauschen sie untereinander aus
Audiovisuelle Medien werden heute bewußt als kommunikative Mittler genutzt. Sie verkörpern nicht die Macht des in ihnen dargestellten Gottes oder Herrschers und lassen sich auch nicht mit vermeintlich magischer Kraft gegen die abgebildeten Personen oder Sachen verwenden. Sie dienen vielmehr instrumentell dazu, einen Sachverhalt "mittelbar" durch Information und Anschauung zu vergegenwärtigen, sie sind deshalb immer zu gleich auch "Text" mit einem Inhalt, mit eigener Struktur und Aussage. Bildmedien z.B. vermitteln uns Kenntnisse und Anschauungen über die Wirklichkeit, die wir um uns herum wahrnehmen, sie geben aber auch unseren inneren Empfindungen und Gefühlen Ausdruck: In Bildern artikulieren wir Eindrücke und unbewußte Vorgänge unserer Seele, in Bildern drücken wir uns aus, wenn wir uns etwas vorstellen, etwas darstellen oder in "anschaulichen" Worten erzählen und beschreiben; durch Bilder eignen wir uns Anschauungen an, die andere Menschen sich erworben haben. Deshalb ist es für den Religionsunterricht wichtig, nicht nur Bilder mit religiösen Inhalten zu behandeln, also Bibelillustrationen oder Darstellungen zur Kirchengeschichte oder aus dem Gottesdienst und dem Gemeindeleben, sondern auch die Medien unseres Alltags einzubeziehen und interpretierend zu behandeln. Denn wie sich in den einen das überlieferte Zeugnis vom Reden Gottes artikuliert, so in den anderen user "weltliches" Erfahren und Erleben. Die alltäglichen Bilder sind wirkliches Element unserer Lebenswelt und teilen immer auch etwas über diese und über die Motive, Empfindungen und Absichten derer mit, die sie herstellen oder benutzen. Die Kirchen haben sich in ihrer Verkündigung und Unterweisung immer anschaulicher Bilder und bildhafter Geschichten bedient und so didaktisch zwischen dem "Wort Gottes", dem Grund ihres Zeugnisses, und den Hörern mit ihren Erfahrungen "vermittelt". Der Religionslehrer verfährt nicht anders. Er muß aber, wie die Kirchen heute auch, bewußt auf die weltlichen Bilder achten, sie als Ausdruck der Erfahrungen und Empfindungen der Menschen heute verstehen und sie genauso sorgfältig "lesen" und interpretieren, wie er selbstverständlich die traditionellen Texte der christlichen Überlieferung existiert und interpretiert, um nicht an der Realität der Schüler, an ihren Alltagserfahrungen vorbei zu unterrichten. Er braucht die Medien, mit denen die Schüler alltäglich spielen, sich unterhalten und lernen, um seine fachspezifischen Inhalte und den Alltag der Schüler zu vermitteln. Der wachsende Einfluß der Medien auf die Schüler und der vermehrte "Nutzen", den sie daraus ziehen, verstärkt diese Notwendigkeit.
3. Das Medien‑Handeln der Kinder als religionspädagogische Herausforderung
Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit im Umgang mit Medien, die "Mediatisierung" vieler Alltagsbereiche schreitet kontinuierlich voran. Was das für die Kinder qualitativ bedeutet, wurde bisher nur vereinzelt untersucht. Dennoch sind dauerhafte und womöglich tiefgreifende Veränderungen für das Alltagsleben der Kinder und ihr Verhältnis zur Umwelt abzusehen; sie berühren auch die Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts: (1) Der Alltag der Kinder wird zunehmend von "Medienerfahrungen bestimmt und durchsetzt", er wird dadurch komplizierter und differenzierter. Die Kinder müssen sich mit den Medien‑ und Konsumangeboten auseinandersetzen und "neue Formen der Aneignung von Welt" und Wirklichkeit entwickeln. Das betrifft sowohl ihr praktisches Verhalten als auch das symbolische Aneignen und Verstehen der Wirklichkeit und ihrer selbst. (vgl. z.B Barthelmes 1986, S. 8) (2)Auch inhaltliche Aspekte des Sinnaufbaus und des Verstehens von Alltag und Lebenswelt wandeln sich unter dem Einfluß der Medien:
- Normen und Werte, also auch die Orientierungen für das Handeln und die Zielvorstellungen junger Menschen etwa für ihre Lebensplanung, orientieren sich nicht mehr allein an dem, was in Gesellschaft und Kultur allgemein "gilt", sondern verstärkt auch an den künstlichen Leitbildern, die die Medienprogramme unter den Bedingungen von Aktualität, Faszination und Attraktivität entwerfen. Eigene mediale Leitbilder entstehen.
- Sinngebungen für die Erlebnisverarbeitung unterliegen der Einwirkung der trivialen oder tragischen, phantastischen wie wirklichen Geschichten von Gut und Böse der Fernsehunterhaltung oder der Video und Computerspiel.
- Alltagsroutine wird durch den Medienbetrieb "reglementiert": Während der Hauptnachrichten ruft man niemanden an, während großer Sportübertragungen finden keine Gruppenveranstaltungen statt.
- Vorstellungen über Zeit, Raum und Gegenstände verändern sich, die Medien vermitteln das Gefühl, unbegrenzt überall und jederzeit dabei zu sein, der subjektive Aktionsradius weitet sich aus.
Der wachsende Einfluß der Medien bzw. die "Sozialisation durch Medien" tritt in Konkurrenz zu den traditionellen Sozialisationsinstanzen wie Familie und Schule bzw. drängt deren Einfluß weiter zurück (ebd., S. 7) Das gilt auch für religiöse Erziehung und Religionsunterricht. (3)Abzusehen ist auch, daß Kinder und Jugendliche nicht nur Objekte der Medienwirkung sind, sondern sich auch als deren Subjekte verhalten: Sie nutzen das alltägliche Medienensemble aktiv als Spiel‑ und Experimentierfeld nach ihren Bedürfnissen: Sie sehen selektiv, auch wenn die Programme kontinuierlich durchlaufen, sie handeln als Zuschauer "aktiv" und greifen sich thematische Aspekte heraus, die den aktuellen Themen korrespondieren, mit denen sie von ihrer inneren Entwicklung und ihrem äußeren Umfeld her gerade beschäftigt sind. Sie nutzen das Fernsehen zur alltäglichen "Lebensbewältigung" (vgl. Charlton/Neumann 1986) und machen aus ihrer Beschäftigung mit Video und Computerprogrammen "eine Art Baustelle für die eigene Identitätsarbeit"; zwar liefern ihnen die Medien keine "zusammenhängende(n) Bilder der Wirklichkeit" und keine "umfassende(n), dauerhaften und detaillierte(n) Identifikationsangebote", bieten aber doch immerhin "eine Fülle von Fragmenten, Sinnsplittern und reizstarken Eindrücken. Die Kinder sind also gezwungen (bzw. haben auch die Chance), die Synthesen, die Selbstentwürfe und Weltinterpretationen immer wieder in ihrem Tun und in ihren Köpfen selbst herzustellen". (Hengst 1984, S. 25)
Allerdings müssen sie sich auf die "Sprache der Medien einlassen. Sie hören und sehen in den Bildern und Codes, in den Zeichen und Symbolen, die ihnen die Massenmedien bzw. die von ihnen bevorzugt genutzten Medien vorgeben. Sie eigenständig zu deuten und kritisch zu nutzen, braucht eine eigene, kritische Sprachlehre. Die "audiovisuelle Alphabetisierung" ist deshalb als Kern einer kritischen Medienkunde und Medienerziehung zu begreifen und bildet für die Schüler den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur eigenen kommunikativen Kompetenz.
Die weitgreifenden persönlichkeitsbildenden und Weltbild‑konstituierenden Folgen der ausgedehnten Mediennutzung können auch die Religionslehrerinnen nicht übersehen und nicht übergehen. Denn auch im RU muß der Schüler mit seiner konkreten Individualität, mit seiner persönlichen Biographie und Lebenspraxis im Mittelpunkt stehen, das gilt in der neueren Religionspädagogik als "allgemein anerkanntes Postulat" (Fraas 1986, S. 77). Medienalltag und Medienbiographie der Schüler sind deshalb nicht nur als Voraussetzung für den am Schüler orientierten Religionsunterricht zu berücksichtigen, sondern müssen auch im Unterricht thematisiert werden. Dabei kommt es allerdings auch hier wie bei den religiösen Bildern in der Reformationszeit auf den "Geist" an, mit dem wir an die Medien herangehen; ob wir sie als unabänderliche, die Kinder sich ihrer selbst entfremdende, manipulative Mechanismen betrachten, ob wir sie als religionspädagogisch neutral übergehen oder aber sie als theologisch und pädagogisch positive Herausforderung begreifen, je nach unserer Einschätzung werden wir pädagogisch anders handeln. Handeln aber müssen wir.
4. Sensibilisierung für die Medien als Weg zur Sensibilität für das Leben
Im Medienensemble unseres Alltags und in unserem Umgang mit ihm artikulieren und realisieren sich wichtige Aspekte der Lebenswirklichkeit der Schüler. Sensibilisierung für den Medienalltag von Kindern und Jugendlichen bedeutet deshalb einen Schritt zur Sensibilisierung für das konkrete Leben der Schüler und für unser Zusammenleben insgesamt ein Anliegen, in dem sich Medienpädagogik und Religionspädagogik begegnen. "Sensibilität" meint einen "ganzheitlichen Akt", der nach der lateinischen Grundbedeutung des Wortes das "Fühlen", das "Empfinden" und genauso das "Wahrnehmen" umfaßt; "Sensibilität für das Leben" ist also zu verstehen als ganzheitliche, umfassende "Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen für den Menschen" und seine Lebensbedürfnisse (Lämmermann-Kuhn 1988, S. llf). In der Befähigung zu dieser grundlegenden Sensibilität verbinden sich anthropologische, pädagogische und theologische Bemühungen um den Menschen.
Der Religionsunterricht kann sich jedoch nicht einfach die Aufgaben der Medienkunde und Medienerziehung zu eigen machen, aber er kann ‑ und muß ‑ in dieser Perspektive mit der Medienpädagogik kooperieren und darüber hinaus seine speziellen Zielsetzungen verfolgen.
Baacke hat kürzlich die Strategien Medien pädagogische Handelns mit den Begriffen "Bewahren ", "Aufklären ", "Wahrnehmen " und "Handeln" charakterisiert (GMK 1989, S 8ff) . Alle vier Strategien lassen sich auch produktiv den Intentionen des Religionsunterrichts zuordnen:
4.1 "Bewahren" ‑ durch Thematisieren des Medienumgangs im Religionsunterricht
"Bewahren" meint medienpädagogisch, daß vor allem jüngere Kinder vor sie überfordernden, sie möglicherweise gefährdenden Medieneinflüssen geschützt werden müssen, ohne daß ihnen dadurch allmählich wachsende Teilhabe an medialer Kommunikation und persönliche Mündigkeit unmöglich gemacht werden. Diese "bewahrpädagogische" Position ist nur zu rechtfertigen, wenn sie produktiv gewendet werden kann: Nicht der Schonraum jenseits aller Gefährdungen, sondern die Sensibilisierung diesen gegenüber und die Notwendigkeit und Chance, ihnen einen Tages verantwortlich handelnd zu begegnen, begründen hier ein medien‑ wie religionspädagogisch zu vertretendes Handeln. Dieses kann nur darin bestehen, auch jüngere Kinder allmählich und vorsichtig an Formen und Inhalte medialer Kommunikation heranzuführen, denen sie früher oder später nicht mehr ausweichen können und die sie dann aus eigener Kompetenz beurteilen, ablehnen oder verändern müssen
"Bewahren" im theologischen bzw. religionspädapogischen Sinne wie im ökomenischen Programm von der "Bewahrung der Schöpfung" betont ebenfalls einen Entwicklungs- und Zukunftsaspekt: Nicht die restaurative Wiederherstellung einer‑symbolisch gesprochen ‑ " paradiesischen " Lebenswelt ohne alle Gefährdungen kann das Ziel sein ‑ das "Paradies" hat es nie gegeben ‑, sondern nur die Förderung der Kritik‑ und Entscheidungsfäbigkeit der jungen Menschen, eine menschenwürdige Lebenswelt zu planen und zu entwickeln und dabei auch die Chancen der modernen technischen Möglichkeiten zu nutzen. Deshalb sollte auch in der religiösen Unterweisung in der Vor‑ und Grundschule der Umgang mit den Alltagsmedien thematisiert und in Maßen geübt werden, um die Wahrnehmungs‑ und Handlungsfähigkeit der Schüler zu "bilden" ‑ sie also schon hier ansatzweise zu sensibilisieren für die Chancen und für die Grenzen medialer Kommunikation als eines Aspektes ihres wirklichen Lebens und ihrer Zukunft. (...)
4.2 "Aufklären" ‑ durch medienpädagogisches Arbeiten an Unterrichtsmedien
"Aufklären" als Unterstützung, Kinder und Jugendliche zum selbständigen Denken und Handeln zu befähigen, zielt darauf, sie auch im Umgang mit den Medien zu "mündigen Bürgern" zu machen, d.h. sich selbst über Medien und mediale Öffentlichkeit aufzuklären und so "erworbenes Wissen und gewonnene neue Einsicht in kommunikatives Handeln" umzusetzen (GMK 1989, S. 1 1).
Aufklärerische Medienkunde und Medienerziehung trifft ein zentrales Anliegen auch des Religionsunterrichts, denn dieser setzt wie jeder andere Unterricht den "rationalen Umgang mit Selbst und Welt" voraus (Schmidt 1982, S. 93). Er praktiziert Aufklärung im Umgang mit Religion, Theologie und Frömmigkeitspraxis und leitet die Schüler an, unsere konkreten Lebensverhältnisse und deren Krisenerscheinungen kritisch‑rationell zu beurteilen. Religionsunterricht ist der Rationalität auch dann verpflichtet, wenn er die christliche Hoffnung auf neue Gemeinschaft und "gelingendes" Leben interpretiert und konkretisiert. (...)
4.3 "Wahrnehmen" ‑ als Sensibilisierung für Wirklichkeit und Mitmensch
"Alles, was wir wahrnehmen, hat Zeichencharakter"; angesichts der vielfältigen Wahrnehmungsangebote des Medienalltags müssen wir auch unsere Wahrnehmung "bilden", um die Fülle von Reizen und Zeichen zu entschlüsseln und ihre Bedeutung im Zusammenhang der eigenen Interessen und Bedürfnissen zu buchstabieren. Durch geschulte Wahrnehmung lernen wir, uns selbst und die Würde der anderen unter den Bedingungen medialer Kommunikation wahrzunehmen und zu achten. "Wahrnehmung ist die Brükke, die Produzenten und Rezipienten verbindet‑ im gemeinsamen Schaffen eines ästhetischen Kanons, in dem sich die politische Kultur eines Landes abbildet" (GMK 1989, S. 11).
"Wahrnehmung" bildet in diesem Sinne einen Grundpfeiler ganzheitlichen, kommunikativen Handelns und Sensibilität für kommunikative Prozesse die Grundlage für unsere Kommunikationskultur. Als medienpädagogische Strategie zielt sie ab auf die Kompetenz, mediale Angebote differenziert und reflektiert aufzunehmen, sich kritisch anzueignen und in eigenes Handeln umzusetzen. Angestrebt wird die Fähigkeit, der Wirklichkeit als ganzer, der Umwelt und den Mitmenschen "sensibel" zu begegnen. Diesem generellen pädagogischen Ziel sind auch die religiöse Bildung und Erziehung verpflichtet. Der Religionsunterricht kann diese Zieldimension nur schrittweise realisieren, wenn er seinerseits mit den Schülern exemplarisch überprüft, welche Bedingungen und welche Möglichkeiten der Selbst‑ und Fremdwahrnehmung sie in ihrem täglichen Medienumgang erfahren oder entwickeln können. Er kann dies zugleich bei der Arbeit mit Unterrichtsmedien exemplarisch verdeutlichen und so den Schülern zur Verbesserung ihrer Wahrnehmungskompetenz verhelfen. (...)
4.4 "Handeln" ‑ Mediengestaltung als praktische Teilhabe an der Kommunikationsgemeinschaft
Mündiger Umgang mit Medien gründet in der Befähigung, "nicht zufällig partikular" auf deren Angebote zu reagieren, sondern sie im Zusammenhang ganzheitlicher Lebensvollzüge instrumentell und intentional zu nutzen. Das schließt ein, mit Hilfe selbstproduzierter Medien eigene Anliegen zu artikulieren. Auditive und visuelle "Alphabetisierung" kommt dann durch eigenes Kommunikations‑Handeln zustande und führt die Lernenden, konsequent eingeübt, zur praktischen Teilnahme an der öffentlichen Kommunikation (GMK 1 989, S. 1 1 ).
Handeln ist auch theologisch gesehen eine grundlegende Kategorie. Handelnd gewinnt der Mensch seine Identität und erfüllt oder verfehlt seine Bestimmung von Gott her. Handelnd vergewissert er sich seiner Identität und lernt, sein Tun als eigenes wahrzunehmen und anzuerkennen, handelnd sucht er nach Orientierunq und billigt Werte und Normen.
Nur so kann er auch Verantwortung tragen (Pannenberg 1983, S. 110) und sich in Familie, Gruppe und Gesellschaft integrieren. Die evangelische Kirche hat zuletzt bei der Diskussion der neuen Informations‑ und Kommunikationstechniken anthropologisch, theologisch und ethisch festgestellt: "Personsein gründet ... in der wechselseitigen Kommunikation mit anderen, eingebunden in die Reichhaltigkeit der geschöpflichen Bezüge"; (EKD 1985, S. 23f) sie hat sich dabei am Leitbild "vom mündigen Christen und der mündigen Gemeinde" orientiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Kommunikationsmedien" in den Dienst einer mündigen Gesellschaft und in den Dienst mündiger Bürger gestellt werden", damit wie "schon in der Reformation" "gebildete bzw. informierte Bürger das Geschehen verantwortlich mitbestimmen" (ebd., S. 27). Denn das Ziel aller medien‑ und religionspädagogischer Aktionen muß bleiben, über Grenzen und Generationen hinweg eine gemeinsame lebendig Kommunikationsgemeinschaft zu praktizieren.