I. Der Problem-Horizont des Projekts
Für die Forschungsfrage erfassen wir das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft in drei Punkten:
- Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft
- Ortsverlagerung: Geänderte Verbreitungskanäle für elementare biblisch-sprachliche Vorstellungen
- Konfessionell getragene Religion im öffentlichen Schulwesen des säkularen Staates
Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft
- Liebe Deine Gäste wie Dich selbst (und spendiere ihnen einen teuren Whisky)’ - das versteht heute jeder. Und jeder weiß, welche intensiv-freigiebige Freundlichkeit des Miteinander-Teilens hiermit auch (!) zum Ausdruck kommen soll. Aber die meisten halten es einfach für ein ‚anständiges Verhalten‘ - ein Verhalten, das mit der Bibel vielleicht, aber mit ‚Kirche‘ doch wohl kaum was zu tun habe.
- Mit anderen Worten: Auch weiterhin wirken christlich-biblische Orientierungs- und Handlungsnormen in der Gesellschaft - wenn auch häufig verdeckt und nicht ‚als solche‘ wahrgenommen. Diese Normen sind besonders im Bereich der Strafrechtskultur nachweisbar. Wir finden sie aber auch in vielen Äußerungsgestalten in der Kunst und Literatur. Vor allem aber auch - und gerade! - in der Popkultur.
- Zugleich aber gilt: Viele sehen ‚die Kirche‘ nicht mehr als den Hauptrepräsentanten dieser Kultur an, sondern als eine Größe, die sich vornehmlich mit sich selbst beschäftigt und für’s Dabeisein eigentlich ein ‚Insider-Verhalten‘ erfordert.
Ortsverlagerung: Neue Verbreitungskanäle für elementare biblisch-sprachliche Vorstellungen
- Diese Verlagerung geschieht von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und wird in der Kirche kaum zur Kenntnis genommen: Wenn insgesamt in unserer Gesellschaft das ‚Christlich-Religiöse‘ zum expliziten Thema wird, dann geschieht das heute mehrheitlich nicht mehr in kirchlich organisierten und geprägten Veranstaltungen. Vielmehr geschieht es zum größeren Anteil im Religionsunterricht des öffentlichen Schulwesens: Er ist es hauptsächlich, der die Vermittlung religiöser Wissens- und Sprach-Elemente leistet, auf die dann auch die Werbung so überaus erfolgreich zurückgreifen kann.
- Diese Elemente beinhalten biblische Erzählfiguren für die exemplarische Erfassung existentieller Lebenssituationen: "Kain und Abel" - "Sodom und Gomorrha" - "David und Goliath" - "Die Speisung der 5000" - "Vom Saulus zum Paulus" usw usw...
- Sie umfassen auch moralische und ethische Problemstellungen - Stichworte: "Abtreibung" und "Gentechnik".
- Und sie beschäftigen sich mit theologischen Deutungsfiguren für kontroverse Handlungssituationen: Stichwort: "Friedensethik der Bergpredigt".
- Ihre schulische Vermittlung geschieht durch Lehrerinnen und Lehrer - d.h. solche Personen, die als ‚schulisch‘ ( = ‚nicht-kirchlich‘) identifiziert werden. Und insoweit erscheinen sie den Schülerinnen und Schülern im Blick auf die Kirche als ‚neutral‘.
- Fazit: Ein sehr großer Teil des faktischen religiösen Tradierens in Deutschland vollzieht sich - mengenmäßig betrachtet – heute im Religionsunterricht der öffentlichen Schule. Dieser Unterricht wird inhaltlich zwar von der Kirche mitverantwortet. Aber in seiner Realisation bleibt er auf den Raum der Schule und damit auf deren spezifischen Bedingungen des Lernens verwiesen.
Konfessionell getragene ‚Religion‘ im öffentlichen Schulwesen des säkularen Staates
- Durch unser Grundgesetz, Art. 7.3 ist der konfessionelle Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen der Bundesrepublik Deutschland verfassungsmäßig verankert.
- Andererseits zeigt uns der Umstand, dass in Deutschland vor dem Bundesverfassungsgericht über das Fach ‚LER‘ ("Lebenskunde - Ethik - Religionskunde") verhandelt wird, dass die bisherige Regelung fragwürdig geworden ist.
- Fragen: Hat das Auswirkungen auf das pädagogische, das kirchliche und das verfassungsrechtliche Selbstverständnis des schulischen Religionsunterrichts? Ist der ‚Reli‘ = "Kirche in der Schule"? Wem schulden die ReligionslehrerInnen (mehr) Loyalität? Wie stehen sie zu einem Unterricht, der Konfessions- oder gar Religionsgrenzen überschreiten will?
- Kurz und generell: Mit welcher Religion müssen wir heute bei Religionslehrerinnen und -lehrern eigentlich rechnen, wenn sie es sind, die zum großen Teil das ‚Traditionsgeschäft‘ besorgen?
II. Das Projekt: Kombination aus zwei methodischen Bausteinen
Das Forschungsprojekt wurde geleitet und durchgeführt von:
Prof. Dr. Andreas Feige, Institut für Sozialwissenschaften, TU Braunschweig
in Zusammenarbeit mit:
Dr. Bernhard Dressler und dem Kollegium des Religionspädagogischen Instituts Loccum
Prof. Dr. Wolfgang Lukatis, Pastoralsoziologisches Institut, Ev. Fachhochschule, Hannover
Dr. Albrecht Schöll, Comenius-Institut der EKD, Münster
Der erste Baustein: Fragebogenumfrage
- Die Fragebogen-Umfrage erfolgte niedersachsenweit und ist statistisch repräsentativ.
- Die Stichprobe umfasst insgesamt 2.109 evangelische Religionslehrerinnen und -lehrer.
- Sie kommen aus allen Schulformen des Landes Niedersachsen.
- Diese über 2.000 Lehrerinnen und Lehrer haben sich im Frühjahr 1999 sehr geduldig und diszipliniert mit den fast 300 Beurteilungspunkten des Fragebogens beschäftigt. Der war ihnen mit organisatorischer Unterstützung des Nds. Kultusministeriums zugegangen. Sie haben ihn strikt anonym ausgefüllt und ebenso anonym zurückgeschickt.
Der zweite ‚Baustein‘: 17 berufsbiographische narrative Interviews und ausführliche Fallanalysen
- Die jeweils mehrstündig geführten Interviews sind mit außerordentlich aufwendigen, sog. ‚strukturhermeneutischen‘ Methoden durch ein Experten-Team von 6 Wissenschaftlern ausgewertet worden (Dr. Bernhard Dressler, Prof. Dr. Feige, Dietlind Fischer M.A., Dr. Thomas Klie, Dr. Thomas Stahlberg, Dr. Albrecht Schöll).
- Die komplette Auswertung allein eines Interviews benötigte insgesamt etwa 60 Stunden: Somit ist die Zahl von 17 solcher Auswertungen als außerordentlich hoch zu bezeichnen. Im Bereich der biographisch-pädagogischen Forschung ist das erstmalig in diesem Umfang geschehen.
- Die 17 Fallbearbeitungen sind in ihren inhaltlichen Strukturierungen synchron analysiert worden: Sie haben 4 Formen eines ‚Unterrichts-Habitus‘ zum Vorschein bringen können. Ein ‚Unterrichts-Habitus‘ beschreibt die ‚typische‘ Art und Weise, wie das Fach Religion unterrichtet wird bzw. aus welchen Ressourcen sich das Unterrichten speist.
- Die Interviews beeinflussten bereits die Konzeption des Fragebogens. So können die Daten beider Forschungstechniken unmittelbar aufeinander bezogen werden. Sie treffen damit zuverlässige Feststellungen über das, worüber es bis jetzt nur Vermutungen und subjektive Eindrücke gibt.
Die methodische Besonderheit des Projekts besteht also in der sehr engen Verflechtung von sog. ‚qualitativen‘ mit ‚quantitativen‘ Forschungsmethoden bzw. ‚Bausteinen‘. Diese Verknüpfung ist bisher einmalig für das religionspädagogische Forschungsfeld in Deutschland. Auch die hohe Zahl der ‚qualitativen‘ Analysen ist in diesem großen Umfang in den Sozialwissenschaften sehr selten.
III. Die Ergebnisse
Die Ergebnisse sind relevant für ...
– die Kulturpolitik und Verfassungsdiskussion
– die Analyse der Unterrichtsverhältnisse und die religionspädagogische Aus- und Weiterbildung
– die religionssoziologische und -pädagogische Praxis und Theoriebildung.
– Die kultur- und verfassungspolitische Bedeutung der Ergebnisse
Im Vorfeld des anstehenden Urteils des BVerfG zum Thema LER in Brandenburg ("Lebenskunde - Ethik - Religionskunde") werden Vermutungen in der Öffentlichkeit geäußert, es sei besonders der evangelische Religionsunterricht an den Schulen, der heute vielfach die konfessionsneutrale LER-Konzeption vorwegnehme. Sein evangelisches Profil sei ohnehin schon verschwunden und die Kirche völlig ‚außen vor‘ gelassen.
Mit dieser methodisch mehrdimensionalen sowie sorgfältig durchgeführten Untersuchung zur ‚Religion‘ der Religionslehrerinnen und -lehrer können diese pauschalisierenden Vermutungen zurückgewiesen werden
Stattdessen kann die Studie zeigen, dass das ‚Thema Religion‘ dort am lebendigsten behandelt wird, wo der Unterricht und dessen Ziele von einer Spannung zwischen ‚gelebter‘ und ‚gelehrter‘ Religion der Religionslehrerinnen und -lehrer getragen wird und nicht von einer konturlosen Übereinstimmung oder einer totalen Distanz.
Die ‚Quintessenz‘ der kultur- und verfassungspolitisch relevanten Interpretationen aller Daten lautet:
- Erster Ansatzpunkt: Nahezu allen Religionslehrerinnen und -lehrern kommt es darauf an, ihre Schülerinnen und Schüler bei der Religiosität abzuholen, die diese von sich aus in den Unterricht mitbringen - wie immer die auch aussehen mag.
- Keine Indoktrination: Diese ‚mitgebrachte‘ Religiosität versuchen sie zu entwickeln und zu fördern, ohne aber die Schülerinnen und Schüler zu indoktrinieren und in ein Korsett aus dogmatisch-konfessionalistischen Konstruktionen zu zwingen.
- Gegründet in christlich-jüdischer Tradition: Für ihr Hauptziel - den einzelnen Schülerinnen und Schülern zur der ihnen je angemessenen persönlichen Religiosität zu verhelfen, d.h. sie ‚religiös zu emanzipieren‘ - greifen sie ausdrücklich auf die biblisch gegründeten christlich-jüdischen Traditionen zurück und reflektieren sie theologisch-protestantisch: Den Lehrenden geht es darum, dass ihre Schülerinnen und Schüler ‚Religion‘ als Kraft begreifen, die - sei es auf der individuellen wie auf der gesellschaftlichen Ebene, sei es in Reflexion und Feier - dem Transzendenzbedürfnis des Menschen eine in der christlichen Tradition verbürgte Gestalt anbietet. Es ist eine Gestalt, die den Menschen "zur Freiheit befreit", statt ihn zum autonomieunfähigen Spielball okkulter Kräfte zu machen.
- Kirche: ‚Religiöser Resonanzraum‘: Für diese ‚Schulische Gestalt von Religion‘ nimmt der größte Teil der ReligionslehrerInnenschaft die (ev.) Kirche als ‚religiösen Resonanzraum‘ auf die verschiedensten Weisen in Anspruch und in den praktischen Gebrauch. Sie tut das auf der Basis didaktisch eigener, primär schülerorientierter Entscheidungen:
– durch intellektuell-kognitive ebenso wie durch rituell-gestalthafte Reflexion;
– am Gymnasium ebenso wie in der Sonderschule;
– direkt im Rahmen des Unterrichts oder durch Fortbildungen.
- Verhältnis Kirche - Schule: Von wenigen Ausnahmen abgesehen gilt die Diagnose: Im Spiegel der Zielvorstellungen und der unterrichtlichen Gestaltungsvarianten ist der schulische Religionsunterricht an niedersächsischen Schulen heute keine ‚Kirche in der Schule‘.
Aber er ist auch keine ‚Religion ohne Kirche‘.
Und in den meisten Fällen versucht er eine ‚religiös konturlose Ethik bloßen bürgerlichen Wohlverhaltens‘ zu vermeiden. - Strukturen ‚volkskirchlicher Verbundenheit‘: Fast jeder zweite Lehrende des Faches Religion (46%) an niedersächsischen Schulen unterrichtet das Fach nicht auf der Basis einer förmlich erworbenen Lehrbefähigung (‚Fakultas‘) und damit ohne Hilfe einer professionell-spezifischen Vorbereitung. Diese Lehrenden tun das vielmehr (a) aus ‚freien Stücken‘ und (b) auf der Grundlage von Kenntnissen und Interessen, die ihnen auf andere, vermutlich in vielen Fällen ‚volkskirchliche‘ Weise zugewachsen sind.
- Große Verbreitung: Die ‚volkskirchlichen Verhältnisse‘ zeigen sich insbesondere in den Primarstufen der allgemeinbildenden Schulen des Landes - also dem Bereich, der nahezu alle Kinder erfasst.
- Erfahren, was ‚christlich-religiös‘ heißt: Besonders die Primarstufenlehrerinnen und -lehrer greifen gern auf Unterrichtsgestaltungen zurück, die eine eher ‚(spirituell-) kirchlich traditionelle‘ Prägung aufweisen. Das bedeutet:
– Schülerinnen und Schüler im Altersbereich der Primarstufe machen im Raum der öffentlichen Schule kognitive und emotionale Kommunikationserfahrungen, die ihnen von den Unterrichtenden als Thema und Eigenschaft von ‚christlicher Religion‘ bzw. des ‚Religiösen‘ vermittelt werden.
– Damit wird gleichsam auf ‚gesamtgesellschaftlicher‘ Ebene eine Begegnung mit Religion/dem Religiösen inszeniert, bei der auch solche Dimensionen unterrichtlicher Gestaltung ihren Platz haben, deren eher kirchlich-traditionelle Spiritualität deutlich erkennbar ist.
- Fazit: Diese ‚brückenbauende Offenheit‘ vieler ReligionslehrerInnen ist von hoher Bedeutung für den Prozess, überhaupt die "christlich-religiöse Erinnerungsfähigkeit (in) unserer Gesellschaft" flächendeckend zu tradieren.
Der Beitrag der Studie zur Analyse der Unterrichtsverhältnisse und der religionspädagogischen Aus- und Weiterbildung
Die faktorenanalytischen Verfahren der Studie zeigen folgende Ergebnisse:
- Gesamtkennzeichnung der Ziele: Die ‚Religion‘ in den Unterrichtszielen der Religionslehrerinnen und -lehrer ist in außergewöhnlich klaren Konturen als ein ‚Raum‘ zu beschreiben. In dem Raum soll es insgesamt und gleichzeitig - freilich bei den einzelnen Lehrerinnen und Lehren in je unterschiedlich-individueller Mischung - um folgendes gehen:
– um die Entfaltung der ‚Identität‘ der SchülerInnen als Ausdruck des prinzipiell Religiösen menschlicher Existenz;
– um ein vorrangig konfessionsübergreifendes ‚Christentum für alle‘;
– um eine Orientierung an diakonisch-protestantischem Christentum;
– um die Erschließung der theologischen Dimension des Denkens und
– um die Sensibilisierung für eine ‚anschaulich-gestalthafte Religionspraxis‘.
- Eigene Gestalt mit kirchlichen Wurzeln: Religionsunterricht in der Schule hat im Hinblick auf seine Ziele und seine Inszenierung seine eigene Gestalt. Aber seine kirchliche Wurzeln und Quellen werden nicht geleugnet.
- Offenes Kooperationsinteresse: Das Verhältnis der großen Mehrheit der niedersächsischen ReligionslehrerInnenschaft zu ihrer evangelischen Kirche ist von einem offenen Kooperationsinteresse getragen. Die kirchliche Unterstützung vor allem in Form intensiver Fortbildung wird deutlich gefordert und gern in Anspruch genommen. Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass die Entscheidungssouveränität der Religionslehrerinnen und -lehrer im Rahmen der Richtlinien nicht in Frage steht.
- Über die Grenzen des Klassenraums hinaus: 61 % halten es in ihrer Eigenschaft als Religionslehrerin und Religionslehrer mehr oder weniger für möglich, religiös-ästhetische Gestaltungselemente auch zu allgemeinen schulischen Feieranlässen als ein dazugehöriges atmosphärisches und damit auch christentumskulturelles Moment mit zur Geltung zu bringen. Das wird zumindest nicht als ‚schulkulturfremd‘ dementiert.
- Insgesamt hohe Identifikation mit dem Fach:
– 58 % können sich sogar noch eine Steigerung ihres Stunden-Deputats im Fach Religion vorstellen.
– Nur 23 % wären freiwillig bereit, auf die Erteilung von RU dann zu verzichten, wenn in den anderen Fächern Unterrichtsausfall zu erwarten ist.
– Aber 54% müssen davon berichten, dass sie auf den Religionsunterricht aus Gründen verzichten mussten, die nicht in ihrer Person gelegen haben.
– Der objektiv nicht bestreitbare Ausfall von Religionsunterrichtsstunden im Lande Niedersachsen darf nicht als Folge ‚fahnenflüchtiger‘ Beliebigkeitsentscheidungen von Landesbediensteten im Schulwesen ausgegeben werden.
- Ökumene in der Schule: Faktisch unterrichtet in Niedersachsen etwa die Hälfte derer, die Religionsunterricht erteilen, bereits aus "organisatorischen Gründen Schülerinnen und Schüler beider Konfessionen gemeinsam" und ebenso viele tun es "aus inhaltlicher Überzeugung" (Fragebogen-Text).
– 94 % bejahen "grundsätzlich" eine "weitergehende Kooperation mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Konfession".
– 52 % der Lehrkräfte können sich echtes und noch arbeitsintensiveres ‚team-teaching‘ von Lehrenden beider Konfessionen vorstellen.
– In Regionen mit katholischer Dominanz finden sich bei evangelischen Religionslehrerinnen und -lehrern Signale, die für eine eher pragmatisch-vorsichtige Weiterentwicklung ökumenisch-konfessioneller Kooperation sprechen. Sie wollen das Fundament der eigenen konfessionell-biographischen, protestantischen Herkunft nicht aus den Augen verlieren.
Der Beitrag der Studie zur religionssoziologischen und -pädagogischen Praxis und Theoriebildung
- Gelebte‘ und ‚gelehrte‘ Religion: In der qualitativ-hermeneutischen Analyse der 17 Interviews kann die Untersuchung deutlich machen, dass allererst in der ‚gelebten‘ Religion der Lehrenden jene Anhaltspunkte und Motive aufgehoben sind, die für sie die Religion erst lehrbar machten.
- Gefahr eines ‚Fehlschlusses‘: Mitunter wird gefordert, dass im Interesse größtmöglicher ‚Wirksamkeit‘ eine "personale Zeugenschaftsrolle" eingenommen und nahezu bruchlos in die Unterrichtssituation eingetragen werden soll. Hier nötigt uns die Untersuchung zu einer Präzisierung: Der Zugriff vollzieht sich nicht unvermittelt, sondern - empirisch mehr oder weniger deutlich ausgeprägt - über individuell geleistete Reflexionsprozesse.
- Nötige Distanz: Diese Reflexionsprozesse bewirken eine Distanz zwischen gelehrter und gelebter Religion, denn man muss als Unterrichtender didaktisch fragen:
– ‚Welche biographischen Anteile bringe ich auf welche Art und Weise in meinen Unterricht ein (und welche nicht)?‘
– ‚Wie kann ich meine an spezifischen Orten praktizierte individuelle Religiosität auf den spezifischen ‚Lernort Schule‘ beziehen?’
Erst der distanzierende Bezug der Lehrenden zur eigenen Religion erschließt für die Schülerinnen und Schüler Reflexionspotenzial. Und erst das eröffnet ihnen die Chance zur Integration der religiösen Deutungsangebote in ihr eigenes, persönliches Selbstkonzept.
- Erfolgsbedingungen: Je weniger die Lehrenden sich dem Leitbild der Trennung zwischen ‚gelehrter‘ und ‚gelebter‘ Religion oder dem der Identität beider Religiositätsgestalten verpflichtet fühlen, desto ‚entspannter‘ können sie im Unterricht das Verhältnis zwischen Tradition, Theologie und Kirche bestimmen.
- Bemerkenswerte Klarheit: Die Studie macht deutlich, wie stark in der ReligionslehrerInnenschaft ein ‚protestantisches Profil‘ ausgeprägt ist. Die Religionslehrerinnen und -lehrer, die in den 17 Berufsbiographien vorgestellt werden, greifen auf unterschiedliche Ressourcen protestantischer Tradition und Glaubensüberzeugungen didaktisch produktiv zu, ohne dass eine Ressource die andere völlig überformt.
IV. Das Fazit der Ergebnisse
Beide methodischen Zugänge zur niedersächsischen ReligionslehrerInnenschaft machen gemeinsam vor allem eines deutlich:
- Die für die moderne Religiosität kennzeichnende Reflexivität kommt den heutigen professionellen Zwängen des Bildungsberufes im Raum des öffentlichen Schulwesens sehr entgegen.
– Der zentrale Befund:
Religiöse Bildungsprozesse erscheinen den meisten Religionslehrerinnen und -lehrern ohne diese doppelte reflexive Distanz heute nicht mehr initiierbar - weder bei sich selbst noch gar bei den Schülerinnen und Schülern. Diese Distanz beruht (bei 87%) auf der Einsicht, "dass der Glaube ohne gedankliche Auseinandersetzung leer bleibt".
V. Konsequenzen ?
- Befund: Die ReligionslehrerInnenschaft in Deutschland ist zwar auch Symptom des Prozesses der Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft. Aber sie macht bzw. hält den Entkopplungsprozess im Spannungsfeld zwischen Schule und Kirche auch bearbeitbar, und zwar mit ihren besonderen professionellen Mitteln. Darin liegt in unserem Kulturraum die zentrale religionskulturell-gesellschaftliche Funktion der ‚Religion in der Schule‘ für das Verhältnis zwischen Individuum und Institution Kirche.
- Frage: Ist damit die Institution Kirche entlastet? Kann sie sich deshalb auf ihr ‚proprium‘ konzentrieren?
- Antwort aus der Sicht dieser Studie:
- Die Kirche kann auf Bildungsprozesse im außerkirchlichen Umfeld nur dann einwirken, wenn sie sich selbst in ihren internen Vollzügen und Lebensformen ‚bildungsfähiger‘ macht. Andernfalls verliert sie die Resonanzkraft, auf die die "Religion in der Schule" angewiesen ist. Die Kirche tut gut daran, das, was ihr auf der Grundlage dort vermittelten Wissens aus der Schule an immer noch beträchtlicher Aufmerksamkeit, Interesse und Orientierungsbedürfnis zuwächst, sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen und auch die Schulische Gestalt von ‚Bildungsreligion‘ nach allen Kräften zu fördern.
Die Kennzeichnung ‚protestantisches Profil‘ für die Mehrheit der befragten ev. Religionslehrerinnen und -lehrer ist aufgrund folgender Untersuchungsergebnisse angebracht:
Geleitet von dem ihre Didaktik und Methodik prägenden Wunsch, Aufmerksamkeit und Interesse der Schülerinnen und Schüler gewinnen zu können - Voraussetzung für den Beginn jeder religiösen Kommunikation und heute in den Schulen bekanntermaßen eine immer schwerer werdende Aufgabe - sehen sie sich frei vom Zwang zu einer möglichst ‚binnenkirchlich‘ klingenden Frömmigkeitssprache. Und sie fühlen sich nicht als institutionell-dogmatisch ferngesteuerte Traditionsagenten. So lassen sie sich auch nicht die Aufgabe einer ‚Weitergabe des Evangeliums‘ zuschreiben, wenn die nur dann als eine solche gelten soll, sofern sie "vollständig und unverkürzt" geschehe. Vielmehr begreifen sie sich - auf der Basis ihrer eigenen ‚gelebten‘ Religion und in je verschiedener unterrichtshabitueller Verarbeitung - als Traditionsagenten eines biblisch-christlich inspirierten kulturellen Gedächtnisses im öffentlichen Raum der Schule, die – mehr oder weniger erfolgreich wie in allen religiösen Kommunikationen – jene religiösen Bildungsprozesse initiieren wollen, die vom Primat der selbsttätigen Aneignung durch das sich bildende Subjekt ausgehen. Damit weisen sie im konfessionellen Vergleich ein deutliches Profil auf und unterscheiden sich mit ihrer christlich-biblischen Verankerung zugleich deutlich von dem Modell einer konfessions- und religionsneutralen ‚Informationsagentur‘.