ANGST VOR ZEUGNISSEN

14. Juni 2024

Ein Interview mit Bettina Wittmann-Stasch, Dozentin für Schulseelsorge

Frage: Hunderttausende Schüler*innen bekommen in den nächsten Tagen und Wochen ihre Zeugnisse. Manche freuen sich darauf, weil dann die Ferien beginnen. Für andere aber ist schon jetzt klar, dass es nicht gut lief. 
Bettina Wittmann-Stasch: Ja, auch wenn heute viel früher bereits über die zu erwartenden Noten gesprochen wird in der Schule: Es ist nicht einfach, wenn man am Ende eines Schuljahres merken muss, dass es nicht so geworden ist wie erhofft.
Es ist deshalb gut, auch von schulischer Seite die Kinder im Blick zu behalten, die ggf. zuhause mit Enttäuschung oder Ärger, vielleicht sogar mit Wut rechnen. 
„Was kann man tun?“, werde ich oft gefragt in dieser Jahreszeit. Man kann z.B. durch einen Aushang auf die Nummer gegen Kummer hinweisen: Das ist das Kinder- und Jugendtelefon, das kostenlos und anonym gerade in der Zeit der Zeugnisse für die Ängste von Kindern erreichbar ist. Oder man kann auf den Jugendberatungs-Chat hinweisen, der u.a. auch von der Landeskirche Hannovers unterstützt wird www.schreibenstattschweigen.de - ein niedrigschwelliges Angebot, um junge Menschen qualifiziert zu beraten und zu begleiten. Angesprochen werden damit alle zwischen 14 und 27 Jahren. Ein Team von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, langjährig erfahren und qualifiziert in der Jugendberatung, steht  für diese Themen ein, die Jugendliche beschäftigen. Dabei geht es letztlich darum, Selbstaktivierung bei der Suche nach einer Lösung anzuregen. Das ist im Kontext von Zeugnissen eine wichtige Idee!

Ich weiß aber auch von einer Schulseelsorgerin, die regelmäßig vor den Zeugnissen Briefe an alle Eltern schreibt und um Verständnis für die Schüler*innen, die Kinder, wirbt. 
Sie schreibt ihnen, dass z.B. Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologen Eltern empfiehlt, am Tag der Vergabe gemeinsam mit ihren Kindern etwas Schönes zu unternehmen – unabhängig davon, ob das Zeugnis gut oder schlecht ist. Und sie schreibt Eltern auch, dass Noten sehr unterschiedlich zu bewerten sind: Dreien oder Vieren können eine riesige Leistung sein – oder eben auch Ausdruck von zu wenig schulischem Engagement. 
Ich bin überzeugt: Schulisches Engagement braucht vor allem die Unterstützung, dass Andere dem Schüler oder der Schülerin zeigen: „Ich trau dir das zu!“ – gerade in den Fächern, in denen sich der Erfolg nicht so leicht einstellt. Gemeinsam zu überlegen, was anders laufen sollte im kommenden Schuljahr, damit es besser wird, ist wichtig! Nur eben nicht als Vorwurf, sondern als gemeinsame Suche.

Frage: Was können Eltern noch tun?
Bettina Wittmann-Stasch: Leider gibt es das, dass auch gut mit ihren Kindern verbundene Eltern selbst nicht merken, wieviel Angst der eigene Sohn, die eigene Tochter vor diesem „Tag der Wahrheit“ haben. Oft hängt diese Angst damit zusammen, dass die Eltern nun mitbekommen, wie es eigentlich so steht, und erfahren, dass das, was ein Kind, ein Jugendlicher selbst nicht wahrhaben will, nun doch schwarz auf weiß nachzulesen ist. 
Ich kenne das von mir selbst. Manchmal habe ich als Schülerin auch diese Idee gehabt: „Wenn ich nicht drüber rede…“. Ich hab nicht wirklich gedacht: „…dann ist diese 5 in Physik nicht ganz so wahr“, aber ich habe mich so verhalten. Menschen machen sowas – auch wenn sie aus den Kinderschuhen rausgewachsen sind … Wenn Eltern also an ihre eigene Schulzeit und ihr eigenes, vielleicht auch manchmal merkwürdiges Schülerinnenverhalten denken, dann kann vielleicht ist all diesem Gefühlswust auch ein Lächeln gelingen. Aus den Eltern ist – um diesen Satz mal aufzugreifen – ja „auch noch was geworden“!

Und noch ein etztes: Wenn Eltern stark verärgert oder enttäuscht sind, dann ist dies auch ein Hinweis, dass das Zusammenwirken zwischen ihnen und dem Kind im Laufe des Schuljahres eher schwierig war und keine gemeinsamen Lösungen gefunden worden sind.
Manchmal zeigt das auch, wie schön es gewesen wäre, wenn doch nun das eigene Kind Träume verwirklicht, die man selbst leider beerdigen musste. Das zu erkennen, kann schon Berge versetzen und Vertrauen neu ermöglichen zwischen Eltern und Kind und Kind und Eltern.
Es tut wirklich weh zu merken, dass das eigene Kind keine stolperfreie Schullaufbahn vor sich liegen hat. Doch Kinder brauchen in ihren Eltern Unterstützende – und das heißt auch: Eltern sollten ihren Kindern dabei helfen, Frustrationstoleranz zu entwickeln, denn zum Leben gehören Misserfolge und Kränkungen dazu. Gute Begleitung zeigt sich darin, nicht alle Steine aus dem Weg zu räumen, aber gemeinsam Wege zu suchen, wie man dennoch weitergehen kann – auch wenn etwas nicht (so) gelingt wie erhofft.

Bianca Reineke, Öffentlichkeitsarbeit im RPI