Am 19. Mai 2021 haben die evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen das Modell eines gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterrichts vorgestellt, der den bisherigen evangelischen und katholischen Unterricht ablösen soll. Ein entsprechendes Positionspapier hat kontroverse Reaktionen ausgelöst. Im Interview ziehen Dr. Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, und Dr. Jörg-Dieter Wächter, Leiter der Hauptabteilung Bildung im Bistum Hildesheim, eine erste Zwischenbilanz.
Frau Gäfgen-Track, seit einem halben Jahr wird über den christlichen Religionsunterricht diskutiert. Entspricht die Diskussion Ihren Erwartungen?
Kerstin Gäfgen-Track: Ja. Wir haben uns erhofft, dass es eine kontroverse, engagierte Diskussion gibt, weil wir glauben, dass wir nur so den Weg finden können, wie es mit dem Religionsunterricht weitergeht.
Herr Wächter, hätten Sie mit mehr oder mit weniger Gegenwind gerechnet?
Jörg-Dieter Wächter: Ich habe mit einer kontroversen Diskussion gerechnet. Die ist eingetreten. Für die vielen, auch kritischen, Hinweise bin ich sehr dankbar, weil wir natürlich nicht alle Einwände in unserem Positionspapier vorwegnehmen konnten.
Warum wollen Sie ohne Not Abschied vom getrennten evangelischen und katholischen Religionsunterricht nehmen? Oder treibt Sie vielleicht doch irgendeine Not?
Wächter: Wir reagieren mit dem Konzept des christlichen Religionsunterrichts auf eine gesellschaftliche und demographische Entwicklung, die uns schon Sorgen bereitet. Wir glauben, dass das gemeinsame Voranschreiten im Bereich der religiösen Bildung zukunftsfest ist.
Demographische Entwicklung heißt in diesem Fall, es gibt immer weniger evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler?
Gäfgen-Track: Ja. Aber es gibt ein ungebrochenes Interesse am Religionsunterricht. Wir haben keine Not. Wir haben hier in Niedersachsen schon seit über 20 Jahren den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht und arbeiten gut zusammen. In dieser Zusammenarbeit liegt eine Stärkung des konfessionellen Religionsunterrichtes, deshalb wollen wir noch einen Schritt weitergehen. Wenn ich zum Beispiel nicht aus einem christlichen Elternhaus komme, woher soll ich dann wissen, ob ich evangelischen oder katholischen Religionsunterricht besuchen will? In unserem gemeinsamen Angebot kann ich beide Konfessionen kennenlernen.
Frau Gäfgen-Track, vor allem die katholische Kirche steht aktuell mit ernsten Themen in der Kritik: die mangelhafte Beteiligung von Frauen in Leitungsämtern, eine überkommene Sexualmoral, der unbefriedigende Umgang mit dem Thema Missbrauch, zuletzt Rücktrittsersuche von Kirchenoberen, die der Papst nicht annimmt. Warum wollen Sie mit dieser Institution enger zusammenarbeiten?
Gäfgen-Track: Es gibt nicht nur diese Seite der katholischen Kirche. Und es gibt auch auf Seiten der evangelischen Kirche große Probleme, die vielleicht momentan medial nicht so im Fokus stehen. Aber auch wir haben zum Beispiel erhebliche Probleme im Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Beide Kirchen stehen gegenwärtig unter Druck. Zugleich können wir immer weniger plausibel machen, warum es unterschiedliche Konfessionen gibt, wo wir uns doch alle zu dem einen Christus-Zeugnis bekennen. Es ist sinnvoll, auch im Religionsunterricht zu überlegen: Wo sind unsere Gemeinsamkeiten, wo haben wir Differenzen? Aber ich finde es nicht angebracht, mit dem Finger auf die andere Kirche zu zeigen.
Dennoch eine ähnliche Frage an Herrn Wächter: Der evangelischen Kirche werden oft eine gewisse theologische Beliebigkeit, ein Mangel an Feierlichkeit und eine links-grüne Grundtendenz in politischen Fragen vorgeworfen. Außerdem ist sie aus Sicht Roms gar keine Kirche im eigentlichen Sinne. Warum wollen Sie mit dieser Institution enger zusammenarbeiten?
Wächter: Wir haben jetzt seit über 20 Jahren richtig gute Erfahrungen in Niedersachsen in der Zusammenarbeit von Fachleuten gemacht. Hier arbeiten nicht in erster Linie Institutionen zusammen, sondern Männer und Frauen, denen eine religiöse Bildung an den Schulen wichtig ist. Wir sind der Auffassung, dass es sinnvoll ist, diese Erfahrungen auf eine neue Stufe zu stellen. Nämlich weg von der bloßen Beantwortung organisatorischer Fragen hin zu einem verstärkten In-den-Blick-nehmen inhaltlicher Fragen. Die großen Fragen, welche ekklesiologischen Grundlagen hier eine Rolle spielen könnten, haben wir offen gesagt in unserer konkreten Zusammenarbeit genau so wenig thematisiert, wie das unsere Gemeinden machen, wenn sie gemeinsam einen sozialen Mittagstisch anbieten oder sich in Projekten für benachteiligte Familien engagieren. Es geht uns um die praktische Organisation unseres christlichen Zeugnisses und nicht um die großen kirchenpolitischen Fragen.
Das kann man einfach ausblenden?
Gäfgen-Track: Nein, wir blenden das nicht aus. Aber beiden Konfessionen liegt es erstmal am Herzen, den Menschen die Botschaft des christlichen Glaubens weiterzusagen und aus dieser Botschaft heraus zu handeln. Da sind die Gemeinsamkeiten wirklich größer als das Trennende.
Wächter: Der Streit um die Frage, ob irgendjemand eine Kirche ist oder nicht, der interessiert uns für das gemeinsame Zeugnis nicht im Ansatz. Das sind sicher theologisch wichtige Fragen, die man erörtern kann, aber das interessiert die Menschen nicht, das interessiert die Schülerinnen und Schüler nicht und das interessiert uns im Hinblick auf die Organisation religiöser Bildung auch nicht.
Frau Gäfgen-Track, eine evangelische Lehrkraft könnte aber schon fragen: Muss ich jetzt den Papst gut finden? Muss sie?
Gäfgen-Track: Muss sie nicht.
Muss denn eine katholische Lehrkraft den Papst gut finden, Herr Wächter?
Wächter: Nein. Ich finde die Fragen kurios. Sie implizieren, dass es eine fraglose Zustimmung einer konfessionell gebundenen Lehrkraft zu all dem gibt, was innerhalb ihrer Konfession gedacht, gesagt und gelehrt wird. Wir haben innerhalb unserer beiden Kirchen viel mit Themen zu tun, die kontrovers verhandelt werden. Nichts anderes verlangt auch der Bildungsprozess. Natürlich wird in der Schule darüber zu diskutieren sein, wie das Amt des Papstes zu beurteilen ist.
Gäfgen-Track: Ich würde von jeder Religionslehrkraft erwarten, dass sie das, was kirchliche Lehre der jeweiligen Konfession ist, angemessen darstellt. Erst dann kann und soll sie sich dazu persönlich verhalten und beispielsweise sagen, das Papstamt sehe ich, so wie ich die Bibel verstehe, nicht als zwingend notwendig an. Was mich in diesem Prozess stark irritiert: Es kommen plötzlich Vorurteile hoch, von denen ich glaubte, dass sie längst überwunden sind. Mein großes Ziel ist mittlerweile, dass durch den gemeinsamen Religionsunterricht nochmal genau hingeschaut wird: Was ist die eigene kirchliche Lehre und was ist die Lehre der anderen Konfession?
Wächter: Viel interessanter als die Frage, ob ich den Papst gut finde, sind Fragen nach den unterschiedlichen Rahmenvoraussetzungen, die wir bislang noch für den Religionsunterricht haben. Über die Vokation und die Missio canonica gibt es unterschiedliche Zugangsbedingungen. Diese sollen für evangelische und katholische Religionslehrkräfte harmonisiert werden. Wir wollen die bisher mit der Missio canonica verbundenen relativ hohen Hürden, die formal immer noch gelten, modifizieren. Da sind wir im Gespräch, übrigens auch mit Rückendeckung der Bischöfe.
Die Vokation ist eine Unterrichtsbestätigung der evangelischen Kirche, die Missio canonica eine Unterrichtserlaubnis der katholischen Kirche. Können Sie noch etwas konkreter werden, was Sie modifizieren wollen?
Wächter: Im katholischen Verständnis sendet der Bischof die Religionslehrerinnen und -lehrer und erwartet von ihnen nach bisheriger Lesart, dass sie auch in ihrer persönlichen Lebensführung der Glaubenslehre der katholischen Kirche entsprechen. Das hat man in der Regel auf einige objektivierbare Sachverhalte enggeführt, nämlich auf die Fragen: Ist dein Ehepartner katholisch? Sind die Kinder katholisch getauft? Bist du selber katholisch verheiratet? Das scheint uns inhaltlich dem Sendungsgedanken nicht mehr angemessen Rechnung zu tragen. Deshalb wollen wir das modifizieren – übrigens bundesweit und unabhängig von der Frage, ob wir hier einen christlichen Religionsunterricht einführen.
Frau Gäfgen-Track, Sie sprachen Ihre Verwunderung über bestehende Vorurteile an. Muss auch die Ausbildung für das neue Unterrichtsfach nachjustiert werden?
Gäfgen-Track: Ja, sicher. Die Ausbildung muss die Studierenden noch einmal sehr viel stärker in die Grundüberzeugungen der jeweils anderen Konfession einführen. Es ist nicht mehr so, dass das Allgemeinwissen ist. Wir wissen aus vielen Untersuchungen zu Lehramtsstudierenden, dass nicht wenige sich auch in der eigenen Kirche nicht so gut auskennen, wie wir uns das wünschen würden – und wie es auch eine Voraussetzung für die Erteilung des Religionsunterrichtes sein sollte. Und sie kennen sich dann auch nicht in der anderen Konfession aus. Wir sind darüber in einem intensiven Gespräch mit den Universitäten und Hochschulen. Das sind wir auch unabhängig von der Einführung eines christlichen Religionsunterrichtes.
Während Ihr Modell für Gymnasien womöglich deutliche Veränderungen bedeuten würde, gibt es Religionslehrkräfte an Berufsbildenden Schulen, für die es längst Alltag ist, christliche, muslimische und konfessionslose Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu unterrichten. Ist das Ziel, später noch einen Schritt weiterzugehen und wie in Hamburg einen „Religionsunterricht für alle“ anzubieten?
Wächter: Nein, das ist nicht das Ziel. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, an der Bekenntnisbindung gemäß Artikel 7 Absatz 3 des Grundgesetzes festzuhalten. Wir sind hier in Niedersachsen etwas skeptisch, ob andere Versuche in Deutschland dieser Voraussetzung Genüge tun. Wir glauben, dass wir mit unserem Ansatz etwas gefunden haben, das religionspädagogisch vertretbar, rechtlich abgesichert und von der schulischen Praxis her erforderlich ist.
Am Ende muss ja auch das Land noch zustimmen. Bekommen Sie von dort Signale zu Ihrem Beratungsprozess?
Gäfgen-Track: Es besteht bei der Politik und den Ministerien eine große Bereitschaft, in ein vertieftes Gespräch einzutreten, wenn wir unseren Beratungsprozess abgeschlossen haben. Wir führen aber auch jetzt schon Gespräche mit Vertretern des Ministeriums oder der regionalen Landesämter für Schule und Bildung. Auf all diesen Ebenen nutzen wir Gesprächskontakte und laden auch Fachleute des Landes ein, an Veranstaltungen des Beratungsprozesses teilzunehmen.
Wann soll die erste Stunde christlicher Religionsunterricht erteilt werden? Oder ist es theoretisch auch denkbar, dass der Prozess scheitert?
Wächter: Theoretisch denkbar ist immer alles.
Gäfgen-Track: Genau.
Wächter: Aber wir gehen davon aus, dass wir frühestens im Schuljahr 2023/2024 mit dem christlichen Religionsunterricht an den Start gehen können. Das ist durchaus sportlich. Der bisherige sehr konstruktive Verlauf des Beratungsprozesses lässt mich persönlich sehr zuversichtlich sein, dass wir das hinkriegen. Im Grunde ist es begründungspflichtig, wenn wir Sachen getrennt machen. Und nicht, dass wir sie zusammen machen.
Gäfgen-Track: Ich bin genauso zuversichtlich. Ich halte es auch für sportlich, aber ich glaube, der Zug ist unumkehrbar. Und das ist auch gut so.
Die Fragen stellte Lothar Veit, Freier Journalist.