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„Religion hilft Kindern, das Leben zu entdecken“

Nachricht Loccum, 17. August 2021
Dozent Gert Liebenehm Hochformat

Wie kirchlich darf, soll, muss eine evangelische Kita in einer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft sein? Der Pastor Gert Liebenehm-Degenhard, Dozent für Religionspädagogik im Elementarbereich am Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI), plädiert im Interview für „Erkennbarkeit und Offenheit“.

Eltern entscheiden sich meist für die nächstgelegene Kita an ihrem Wohnort, egal wer der Träger ist. Wie ausgeprägt kirchlich darf eine evangelische Kita da sein?
Eltern wünschen sich aus nachvollziehbaren Gründen eine Kita, die gut erreichbar ist. Sie wünschen sich aber ebenso eine Kita, in der sich ihr Kind gut entwickeln kann. Und Kinder suchen nach dem, was dem eigenen Leben Halt gibt. Sie brauchen und erproben Maßstäbe und Regeln, die dem Zusammenleben dienen. Und sie fragen nach dem, was gerecht ist und was hinter den Dingen steckt. Kinder klammern diese religiöse Dimension aus dem Leben nicht aus. Sie staunen über Kellerasseln, sie fragen, wer nachts die Sonne ausknipst, wundern sich über die faltige Haut vom Opa. Sie suchen nach Antworten, wo die Toten wohnen und warum es böse Menschen gibt. Sie haben daher ein Recht auf religiöse Bildung, auf Begleitung und Unterstützung, um einen eigenen Standpunkt in Bezug auf Glauben und Religion zu entwickeln.

Sie werben also für ein klares religiöses Profil?
Ja. Religion hilft Kindern, das Leben zu entdecken. Darum sieht der Orientierungsplan des Landes Niedersachsen für jede Kita vor, dass religiöse und ethische Themen genauso zur elementaren Bildung gehören wie die Bereiche Sprache, soziales Lernen oder Natur. Eine evangelische Kita schafft vielfältige Möglichkeiten, christlichen Lebensstil und Glauben kennenzulernen. Kinder erleben biblische Geschichten mit allen Sinnen, finden sich und ihre Bedürfnisse in Liedern und Ritualen wieder, probieren aus, wie Freude, Sorgen und Wünsche durch das Beten in Worte gefasst werden können. Dabei können Kinder Zuversicht gewinnen und stark werden, um auch an den Brüchen ihres Lebens zu wachsen. Sie erhalten Ideen für eine Welt, für die sich der Einsatz lohnt, und bekommen dazu Stoff und Farben aus der Schatzkammer der biblischen Erfahrungsräume.

Wie geschieht das in der Praxis?
Das Evangelische einer Kita beschränkt sich nicht auf die Weitergabe von Glaubensinhalten, sondern vermittelt eine grundlegende Einstellung zum Leben und zur Welt insgesamt. Das beginnt mit Grunderfahrungen von Angenommen-Sein und Geborgenheit. Erfahrungen von geteilter Freude und Schutz gehören zum Alltag genauso wie der Umgang mit Angst, Fremdsein oder Traurigkeit. Darum zeigt sich ein evangelisches Profil ebenso in der Atmosphäre des Hauses, in der Struktur des Tagesablaufs, in der Einrichtung der Räume, im Umgang mit Regeln, genauso wie im Klima des Miteinanders – zu erkennen unter anderem an einer Fehlerfreundlichkeit, Zutrauen, Freiheit und Hilfsbereitschaft. Kindgemäße religiöse Bildung nimmt die wirklichen Fragen und Anliegen der Kinder zum Ausgangspunkt. Ausgehend von der evangelischen Grundidee eines allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, werden die Ideen und Konstruktionen der Kinder ernst und wichtig genommen. Kinder können in den christlichen Glauben hineinwachsen, wenn sie möchten, und werden darin begleitet. Sie können sich davon auch distanzieren und andere Sichtweisen einbringen.

Welche Erwartungen im Blick auf religiöse Erziehung bringen Eltern mit?
Empirische Untersuchen zeigen, dass immer weniger Kinder in ihrer Familie mit religiösen Traditionen aufwachsen. Es gibt Familien, die sich freuen, dass die Kita hier einspringt. In anderen Familien spielt Religion überhaupt keine Rolle und religiöse Fragen werden eher vermieden. Die Zusammenarbeit mit den Eltern im Blick auf die religiöse Bildung in der Kita ist darum sehr wichtig. Die Erfahrungen zeigen: Dort, wo Eltern sich gut informiert fühlen über die Ausrichtung und Gestaltung der religionspädagogischen Arbeit, dort, wo transparent wird, wozu und wie religiöses Lernen passiert, wächst die Akzeptanz und bei einem Teil der Eltern auch die Bereitschaft, sich – wo es ihnen möglich ist – zu beteiligen.

Längst besuchen auch viele Kinder anderer Religionen evangelische Kitas. Wie schmal ist der Grat zwischen Rücksichtnahme auf Andersgläubige und Aufgabe des eigenen Profils?
Ich würde es etwas anders formulieren. Ein evangelisches Profil umfasst beides: den christlichen Glauben erlebbar machen und andere religiöse Traditionen der Kinder und Familien in der Kita kennenlernen. Erkennbarkeit und Offenheit sind Leitwerte, die je nach Situation der Kita zu berücksichtigen sind. Zum evangelischen Profil gehört es, dass jedes Kind und seine Familie willkommen ist. Das Miteinander von unterschiedlichen Menschen und religiösen und kulturellen Traditionen regt zum Lernen an. Gemeinsamkeiten können entdeckt werden. Unterschiede werden gewürdigt. Das kann anstrengend sein und zu Kontroversen führen. Das ist zugleich eine große Chance für die Kinder: Sie lernen, sich in der Vielfalt zurechtzufinden. Zum Beispiel wenn ihre muslimischen Freunde erzählen, wie und warum sie im Ramadan fasten oder wie ein muslimisches Tischgebet klingt. Oder wenn auch nicht-christliche Kinder in die Welt der christlichen Feste eintauchen. Damit leisten die Kitas zugleich einen wichtigen Beitrag für das Miteinander in unserer Gesellschaft. Sie können Orte sein, in denen Vorurteilen und Diskriminierungen begegnet wird und Unterschiede respektiert werden. Dafür wäre es allerdings wünschenswert, wenn auch Mitarbeitende mit anderen religiösen Traditionen in evangelischen Kitas beschäftigt werden.

In den Schulen soll der evangelische und katholische bald in einem christlichen Religionsunterricht aufgehen. Ein Modell auch für Kitas?
Der Ansatz, vom gemeinsamen christlichen Lebensstil auszugehen, wird der pluralen Situation der Kitas gerecht. In der evangelischen und katholischen Religionspädagogik für den Kita-Bereich gibt es sehr große Schnittmengen. In vielen evangelischen Kitas arbeiten mittlerweile katholische Fachkräfte, die die religionspädagogische Arbeit bereichern. Zugleich bleibt für jede evangelische Kita die Zusammenarbeit mit der eigenen Kirchengemeinde wichtig. Die Vernetzung mit gemeindlichen Angeboten, die kirchenpädagogische Erkundung der Kirche, die Kontakte zum Pastor oder zur Pastorin prägen das Kennenlernen und Erleben des christlichen Glaubens – in evangelischer Perspektive.

Die Fragen stellte Dr. Michaela Veit-Engelmann, Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit am RPI Loccum.

Foto von Gert Liebenehm: Lothar Veit

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