Wer nur gelegentlich eine Kirche besichtigt, spürt mitunter Fremdheit, Ehrfurcht oder Unsicherheit. Das geht vor allem Schüler*innen so, die bislang wenig Berührungen mit Religion und Glauben hatten. Kirchenpädagogik hilft im wahrsten Sinne des Wortes über die Schwelle. Im Interview verrät Matthias Hülsmann, Dozent für Kirchenpädagogik und theologische Fortbildung am Religionspädagogischen Institut Loccum, wie das geht.
Warum ist Kirchenpädagogik sinnvoll und wichtig?
Das sind ja eigentlich zwei Fragen. Kirchenpädagogik ist wichtig, weil sie uns mit einer fremden Welt bekannt macht, die man riechen, hören, sehen und anfassen kann. Und Kirchenpädagogik ist sinnvoll, weil sie uns vor die entscheidenden Lebensfragen stellt: Gibt es etwas in deinem Leben, das dir wichtiger ist als du selbst?
Wie geschieht das?
Kirchenpädagogik lebt davon, dass wir eine Kirche mit allen Sinnen wahrnehmen und erfahren. Das fängt schon damit an, dass wir meistens eine Schwelle überschreiten müssen, wenn wir in eine Kirche wollen. Dann müssen wir eine schwere Tür aufmachen. Die Tür fällt ins Schloss und plötzlich ist es still.
Und was ist daran so besonders?
Naja, für Menschen, die sehr viel Zeit mit dem Wischen auf einem Smartphone zubringen und die Welt zunehmend zweidimensional wahrnehmen, ist dieser Gegensatz schon deutlich spürbar. Auf der einen Seite die hektische laute Welt da draußen, und auf der anderen Seite die Stille und Langsamkeit in einer Kirche.
Aber das kann ich in einem Museum doch auch erleben.
Ja, das stimmt. Und gleichzeitig wird in dem Vergleich mit einem Museum das „Mehr“ einer Kirche deutlich, ihr „Überschuss“. Natürlich kann ich in jede Kirche wie ein Museumsbesucher reingehen. Dann informiere ich mich zum Beispiel über Stilepochen und Lebensdaten von Baumeistern.
Und das finden Sie eher langweilig?
Nein, gar nicht. Aber die Kirchenpädagogik geht noch eine Ebene tiefer. Was hat die Menschen damals eigentlich dazu gebracht, jahrzehntelang eine Kirche zu bauen, die sie niemals fertig erleben würden? Und deshalb ist Kirchenpädagogik im wahrsten Sinne des Wortes „sinnvoll“. In jedem Kirchengebäude wird etwas sichtbar von dem Glauben der Menschen und von ihrer Hoffnung, von ihrer Lebenseinstellung und vom Sinn ihres Lebens. Die Kirchenpädagogik möchte die Menschen mit dieser religiösen Dimension in Kontakt bringen. Mit allen Sinnen. Ich höre die Stille. Ich höre die jahrhundertealten Glocken. Ich betaste den abgewetzten Taufstein und sehe die Freudentränen glücklicher Eltern vor mir. Und vielleicht bringt der Kirchenraum mich zu der Frage: Was ist für mich dieses Größere, für das es sich zu leben lohnt?
Wie erleben Sie Kinder und Jugendliche, die sich in einer Kirche umschauen? Was interessiert sie am meisten?
Ich habe mit Schüler*innen die Erfahrung gemacht: Wenn es gelingt, schon vor der Kirchentür das Tempo rauszunehmen, langsam und achtsam zu werden, sich in Ruhe einen Lieblingsplatz zu suchen, dort eine Weile sitzen zu bleiben und das alles auf sich wirken zu lassen – dann beginnt der Kirchenraum seine eigene Wirksamkeit zu entfalten. Er „macht etwas“ mit den Schüler*innen.
Was ist dabei die Rolle der Kirchenpädagog*innen?
Es geht erstens um Verlangsamung und zweitens darum, selbst aktiv zu werden, um so möglicherweise eine eigene spirituelle Erfahrung zu ermöglichen. Die Kirchenpädagog*innen halten also keine historischen Vorträge, sondern sie geben aktivierende Impulse, die mich mit dem Kirchenraum in Kontakt bringen können. Welcher Ort zieht mich am meisten an? Welcher Ort stößt mich am meisten ab? Wie wirkt das Licht auf mich oder der Geruch oder der Bodenbelag, wenn ich auf Socken und mit geschlossenen Augen durch die Kirche geführt werde? Was fühle ich, wenn ich auf die Kanzel gehe und den anderen in den Kirchenbänken einen Bibelvers vorlese? Kirchenpädagogik hat ganz viel mit Wahrnehmen und Hinspüren zu tun!
Trotzdem ist das doch für viele Schüler*innen alles sehr fremd. Was sagen Sie, wenn Ihnen jemand sagt, dass er mit Kirchengebäuden oder den Kreuzen in den Kirchen nicht viel anfangen kann?
Dann bin ich auch schon mal provokativ. Kirchen sind nicht nur alt und ehrwürdig, sondern sie zeigen auch noch etwas ganz anderes, nämlich: Das Christentum ist eine Religion für Versager. Der Stifter des Christentums war ein durch und durch guter Mensch, aber er ist kläglich gescheitert. Die Kranken hat er geheilt. Mit den Kriminellen und Sexarbeiterinnen hat er sich zum Essen an einen Tisch gesetzt. Und er hat ihnen gesagt, dass Gott sie bedingungslos liebt, so wie ein Vater seinen Sohn, der alles falsch gemacht hat. Das hat den religiösen Funktionären gar nicht gefallen, denn so kann man keine Institution leiten. Deshalb wollten sie ihn loswerden. Aber Gott kann auch mit Verlierern etwas anfangen: Er hat Jesus nach drei Tagen auferweckt.
Wer unter Versagensängsten leidet, der ist im christlichen Glauben gut aufgehoben. Und er befindet sich in guter Gesellschaft. Paulus zum Beispiel hat sich selbst als Schwächling bezeichnet, Petrus war ein ungehobelter Klotz und hat Jesus verleugnet. Trotzdem hat Gott etwas aus ihnen gemacht. Also brauchen Christenmenschen vorm Scheitern keine Angst zu haben. Gut, dass einem Kirchengebäude das immer wieder vor Augen führen.
Die Fragen stellte Dr. Michaela Veit-Engelmann, am RPI Loccum zuständig für Öffentlichkeitsarbeit.