„Die Zuschreibung Jugendlicher als Krisenkinder darf nicht zum Stigma werden!“
Ein weitgehend von Corona geprägtes Schuljahr geht zu Ende. Wie blicken Sie darauf zurück?
Silke Leonhard: Leben heißt: mit Spannungen lernen; Lernen heißt: mit Spannungen leben. Das war auch in diesem Schuljahr so. Jahrgänge mit Schüler:innen, die jetzt im 2., im 6. oder im 12. Jahrgang sind, haben ihren Beginn in Schule, ihren Schulwechsel oder ihren Eintritt in die Oberstufe komplett unter Corona-Bedingungen erlebt. Das zieht ja an niemandem spurlos vorbei! Jugendstudien dokumentieren die Nachwirkungen von Einsamkeit und sozialen Abkoppelungen, aber auch Verlangsamung beim inhaltlichen Lernen. Andere Kinder und Jugendliche haben in der Abgeschiedenheit aber auch Eigenes entwickelt oder sind ernsthafter geworden.
Das Schulsystem war deshalb permanent gefordert, flexibel zu sein. Lehrkräfte und Schulleitungen haben sehr viel Kraft einsetzen müssen, um diese hohe Verunsicherung pädagogisch und didaktisch aufzufangen. Und das in einer Situation wachsenden Lehrkräftemangels. Nicht alle sind dabei gesund geblieben. Doch allen gebührt allerhöchste Anerkennung für diesen Einsatz!
Welche Themen liegen für Schüler:innen obenauf? Krieg, Corona, Klimakrise? Oder noch etwas anderes?
Silke Leonhard: Ja, diese Themen sind bei vielen Schüler:innen präsent, das liegt auch an der gesteigerten Mediennutzung. Näher liegt vielen jedoch die eigene Zukunft. Corona hat nochmal deutlich gemacht, was für Kinder und Jugendliche essenziell ist: zusammen lernen, Klassen- und Kursfahrten, feiern, soziales Leben, Beteiligtsein und Engagement. Doch für manche zeigt sich am Ende dieses Schuljahres: Die Lernherausforderungen waren so, dass der Wunschabschluss nicht erreicht werden konnte, dass eigene Zukunftspläne ins Wanken geraten. Dann sind die Sorgen berechtigt hoch.
Klaus Hurrelmann hat gesagt, es handele sich bei der gegenwärtigen Generation der jungen Menschen um „Krisenkinder“. Das stimmt, wenn man damit verbindet, dass sie krisenerprobt und anpassungsfähig sind. Doch es trifft nicht zu, wenn es zu einem zynischen Stigma wird.
Wie kann das Religionspädagogische Institut Loccum auf all das reagieren?
Silke Leonhard: Ein Sprichwort sagt: Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muss man es aber vorwärts. Im RPI blicken wir aus ganz vielen Perspektiven auf dieses Geschehen: So wollen wir zum Beispiel überhaupt erstmal verstehen, was die globale Situation lokal im Kontext Schule macht. Dazu gehört es auch zu fragen: Was glauben, woran zweifeln, worauf vertrauen Schüler:innen und auch Kolleg:innen? Je nach Schulform fallen die Antworten darauf ganz unterschiedlich aus. Das alles greifen wir in unseren Angeboten auf: Wir haben Schwerpunktthemen wie Frieden oder Nachhaltigkeit; wir arbeiten zu digitalen Tools und widmen uns zukünftig auch dem Religionsunterricht in iPad-Klassen. Schulseelsorger:innen werden darin bestärkt, Empowerment und Seelsorge zusammenzudenken.
In unseren schulischen und gemeindlichen Arbeitsfeldern geht es uns um die Ermutigung derjeniger, die Kinder und Jugendliche begleiten. Wir öffnen Loccum auch als spirituellen Ort, für die Gelegenheit zu Austausch und Rekreation. Biblisch mit Jesaja gesprochen, setzen wir mit unseren Angeboten auf die Gabe neuer Kraft, dass die Profis in Schule und Kita auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Die Fragen stellte Michaela Veit-Engelmann.