Zusammenhang zwischen Lehrkräftemangel und zunehmender Einsamkeit Jugendlicher
Würde er an seiner Schule Gleichaltrige fragen, wüsste niemand, was der Landesschüler*innenrat ist. So wie diesem Schülervertreter ergeht es vielen jungen Menschen, die sich jugendpolitisch engagieren. Dennoch tun sie es. Während ihre Altersgenossen Party machen, treffen sie sich in Vorständen oder Ausschüssen und diskutieren, wie sie die Situation an ihrer Schule oder gleich das ganze Schulsystem verbessern können.
Regelmäßig treffen sich die Mitglieder des Landesschüler*innenrates in Loccum. Das Religionspädagogische Institut Loccum (RPI) stellt die Räume und organisiert den Rahmen, in dem die Schülerinnen und Schüler eigenverantwortlich tagen können. Die evangelische Kirche finanziert die Treffen. Warum? „Die Kirche hat ein besonderes Interesse an Bildung“, erklärt Dorothea Otte, Referentin in der Konföderation der evangelischen Kirchen in Niedersachsen. Es gehe darum, gemeinsam die Gesellschaft zu gestalten. Schon Martin Luthers Ansatz lautete: Bildung für alle. Dabei galt sein besonderes Interesse der religiösen Bildung, jeder sollte die Bibel lesen können. Ihrer Zeit in diesem Punkt weit voraus, sorgten die Reformatoren sogar für die Gründung von Mädchenschulen. „Ein Geschenk der Reformation“, sagt Otte.
Dieses Geschenk haben viele in der Pandemie neu zu schätzen gelernt. „Ein großes Thema für uns ist Einsamkeit bei Schüler*innen“, berichtet Malte Kern, Vorsitzender des Landesschüler*innenrates. In der Zeit, in der Jugendliche auf sich allein gestellt waren, hätten antidemokratische Tendenzen zugenommen. Das zurzeit alles beherrschende Thema ist der Lehrkräftemangel. „Wir können planen und machen, was wir wollen, am Ende brauchen wir dafür Lehrer*innen. Der Lehrkräftemangel bremst uns aus“, sagt der 18-Jährige. Anderthalb Stunden hört Dorothea Otte aufmerksam zu, berichtet von ihren eigenen Erfahrungen als Lehrerin und Mitglied der Schulleitung. „Der Zusammenhang zwischen Lehrkräftemangel, zunehmender Einsamkeit von Jugendlichen und der daraus teilweise resultierenden antidemokratischen Einstellung war mir bisher so nicht bewusst“, sagt sie. Doch es klingt plausibel.
Die Mitglieder des Landesschüler*innenrates, in dem alle Schulformen vertreten sind, sind bis ins Detail informiert. Sie verfolgen die landespolitischen Entwicklungen, kennen beispielhafte Schulsysteme im europäischen Ausland und zeigen Expertise selbst bei frühkindlicher Bildung. Sie sind sich einig, dass an den Schulen zu früh Leistungs- und Konkurrenzdruck entsteht. „Warum werden Schülerinnen und Schüler schon nach der 4. Klasse getrennt?“, fragt Malte Kern. „Es wäre für eine Gesellschaft gesünder, wenn sie bis in die 8. oder am liebsten bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet würden.“ Er hält die Integrierte Gesamtschule für ein gutes Konzept, doch selbst die Grünen-Kultusministerin in Niedersachsen sage, dass diese flächendeckend nicht durchzusetzen sei. Der Gymnasiast Kern spricht von einer „Gymnasiastenlobby“.
„Welchen Wert sprechen wir welchem Bildungsausschuss zu?“, fragt auch Tim Bense aus Vechta, der öfter mit den dortigen Lehramtsstudierenden zu tun hat. Was ihn bedrückt: „Manchen wird schon im Studium die Motivation genommen, etwas verändern zu können.“ Bei diesem Thema hakt Dorothea Otte gern ein: „Landesschüler*innenrat und evangelische Kirche teilen das Menschenbild.“ Man dürfe Bildung nicht nur verzwecken, nach dem Motto: Welche Menschen braucht die Industrie? Kinder sollten nicht möglichst schnell funktionieren müssen. Und ihr Wert mache sich nicht an Noten fest. „Es ist wichtiger, dass ein Kind lacht, spielt und glücklich ist“, findet Otte. Im Übrigen sei der Drang zum Gymnasium und später ins Studium längst kein Garant mehr für ein gutes Auskommen. „Ein Meister im Handwerk kann mehr verdienen als ein verkrachter Sozialpädagoge.“