Rogier van der Weydens Bladelin-Altar - Zusammenhänge und Bedeutungen

von Gerhard Ringshausen

 

Der Einsatz der Anbetung des Kindes vom Bladelin-Altar Rogier van der Weydens* setzt Informationen über das Bildwerk und seinen Künstler voraus, aber der Altar enthält über die Ziele des Unterrichts hinaus Inhalte und Motive, die für sein Verständnis aufschlussreich sind und von den Schüler/innen beobachtet und nachgefragt werden können. Ob dabei ihre Fragen und Vermutungen immer im Sinne der historisch gewordenen Ikonographie des Spätmittelalters zu beantworten sind, ist von dem/r Lehrer/in zu entscheiden.

 

1. Zur Person des Malers

Gegen oder im Jahr 1400 wird Rogier de la Pasture in dem damals zu Frankreich gehörenden Tournai geboren und beginnt dort 1427 die Lehre bei dem Maler Robert Campin (vor 1380-1444), den die Kunstgeschichte mit dem "Meister von Flémalle" identifiziert hat. Die Gründe für die späte Ausbildung des wahrscheinlich bereits verheirateten Mannes sind unbekannt, aber seine späteren Werke lassen deutlich Campins Einfluss neben der Wirkung Jan van Eycks erkennen.

Nach fünfjähriger Lehre wird er 1432 als Freimeister in die Malerzunft von Tournai aufgenommen, zieht aber wohl bald nach Brüssel, der Heimat seiner Frau, wo er mit der flämischen Form seines Namens erstmals1435 als Rogier van der Weyden (= Wiese) erwähnt wird. Bereits 1436 ist er als Stadtmaler von Brüssel bezeugt, 1445 als "meester Rogieren van der Weyden, portraiteur der stadt van Brussele". Im Unterschied zu Jan van Eyck wird er nie Hofmaler der burgundischen Herzöge, wenn er auch Aufträge des Hofes und bedeutender Persönlichkeiten aus seinem Umkreis für Portraits und Altäre annimmt. Als ein wohlhabender Grund- und Hausbesitzer kann er fromme Stiftungen und Darlehen vergeben. Zum Heiligen Jahr 1450 reist er – erstaunlich für einen Maler seiner Zeit – nach Italien, wo er große Anerkennung findet. Am 16. oder 18. Juni 1464 stirbt er in Brüssel. Nach Jan van Eyck († 1441), der Gründergestalt der "altniederländischen Malerei", ist van der Weyden der herausragende Maler der zweiten Generation; bis ins 16. Jahrhundert wirkt seine Kunst stilbildend für die Kunst nördlich der Alpen.

Rogiers urkundlich bezeugte Werke sind vernichtet, von den ihm zugeschriebenen Bildern ist keines signiert und datiert. Den Ansatzpunkt für die Rekon-struktion seines Oeuvres auf dem Wege der Stilkritik bilden zwei Tafeln im Escorial, die in einem bald nach ihrer Überführung nach Spanien verfassten Inventar 1574 als Arbeiten von "Rugier" bezeichnet werden: Kreuzigung und Kreuzabnahme (heute Prado, Madrid). Als Ergebnis der Forschung gelten knapp vierzig Werke als Schöpfungen Rogier van der Weydens, wobei seine stilistische Entwicklung auch dann annähernde Datierungen erlaubt, wenn sich keine Überlieferungen mit den Bildern verbinden lassen.

 

2. Der Bladelin-Altar (Berlin, Staatliche Museen)

Die Festtagsseite des Flügelaltars (91 x 89 cm) gilt als "eines der glücklichsten, einen hohen Grad der Vollkommenheit erreichenden Werke Rogier van der Weydens"1 aus der ersten Hälfte der fünfziger Jahre2, während die Außenseiten der Flügel mit der Verkündigung an Maria von einem mittelmäßigen Nachfolger stammen. Mehrere Argumente sprechen dafür, dass das Triptychon ursprünglich in Middelburg stand, allerdings wohl nicht auf dem Hauptaltar der 1452 begonnenen und 1460 geweihten Kirche, sondern entsprechend seiner Thematik und Größe diente es der privaten Andacht. Diese kleine, im 2. Weltkrieg zerstörte Stadt nordöstlich von Brügge haben um 1444 Pierre (Pieter) Bladelin (um 1410-1472) und seine Gattin Margerite van de Vageviere († 1476) gegründet und in den folgenden beiden Jahrzehnten errichten lassen. Seine erfolgreiche Karriere führte Bladelin vom Steuereinnehmer Brügges zum Finanzmann, Ratgeber und Diplomat des burgundischen Herzogs Philipp des Guten und machte ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit. Diese außergewöhnliche Erscheinung einer an faszinierenden Persönlichkeiten reichen Zeit ist vermutlich als Stifter auf dem Altar dargestellt. Die imperiale Thematik der Altarflügel passt gut zu diesem Politiker.

Thema des Middelburger oder Bladelin-Altars ist die Menschwerdung Christi, deren Verehrung durch die Herrscher dieser Welt die Flügel dokumentieren. Der linke Flügel zeigt die Vision des Kaisers Augustus nach der Ara-Coeli-Legende, die im Spätmittelalter besonders durch die weit verbreitete Legenda Aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine (ca. 1230-1298) bekannt war; die Tiburtinische Sybille weist den knienden Kaiser auf die himmlische Erscheinung der Gottesmutter hin, auf deren Schoß das Christuskind thront. Der rechte Flügel lässt die hl. Drei Könige den Stern sehen, in dem – wiederum entsprechend der Legenda Aurea – das Christuskind erscheint.

Für die Deutung des Mittelbildes ergeben sich aus den Flügeln zwei wichtige Hinweise. Einerseits geht es nicht einfach um die Historie, sondern um die Anbetung der Menschwerdung Christi. Den Personen der Mitteltafel entsprechen die knienden Beter der Flügel, deren bogenförmige Anordnung das flache Dreieck der Hauptpersonen optisch umschließt. Durch die Andacht der dargestellten Personen soll augenscheinlich auch der Betrachter zum Gebet angeleitet werden, was der Entstehung des Andachtsbildes aus dem Geist der deutschen Mystik seit Anfang des 14. Jahrhunderts entspricht. Andererseits beschränken sich die Altarbilder wie vielfach im (Spät-)Mittelalter nicht auf biblische Inhalte, sondern wurzeln in vielfältigen Traditionen besonders der Andachtsliteratur und setzen entsprechende Kenntnisse und Einstellungen beim Betrachter voraus. Es mag dabei offen bleiben, in welchem Maße die symbolischen Bezüge von dem Auftraggeber veranlasst oder von dem Künstler gewählt wurden. Nicht immer ist mit bewusster Wahl zu rechnen, da vielfach ikonographische Typen verwendet und Vorbilder übernommen wurden.

Die Mitteltafel scheint auf den ersten Blick nur die Geburt Christi im Stall von Bethlehem mit Stifter darzustellen. Entsprechend den Flügeln geht es aber nicht um das Ereignis der Heiligen Nacht, sondern um die Anbetung des Kindes, zu der sich zwei Engel-Gruppen gesellen. Zentrale Gestalt ist Mariaals demütige Magd, deren betende Hände sich wie der in stiller Intimität leicht geneigte Kopf dem nackten Jesuskind zuwenden – ein von Rogier erfundenes Motiv. Während Jesus auf ihrem blauen Mantel auf der Erde liegt, trägt sie wie bei der auch für andere Motive als Vorbild dienenden "Geburt Christi" von Robert Campin ein weißes Gewand; seine Farbe verweist auf ihre Jungfräulichkeit. Im Unterschied zu den mit einem Strahlennimbus ausgezeichneten Personen Mariens und Jesu erscheinen Josef und der sonst meist deutlich durch Größe und räumliche Anordnung abgesetzte Stifter als gleichrangige Assistenzfiguren. Gestik und Ausdruck Bladelins betonen seine Andacht, aber das schwarze, pelzverbrämte Gewand lässt ihn als Mitglied des Hofes erkennen, da Philipp der Gute sich und seine Gefolge schwarz kleidete. Die spitzen "Schnabelschuhe", deren Leder durch eine hölzerne Trippe vor dem Straßenschmutz geschützt wird, zeugen von höfischer Eleganz, wobei sich die Länge der Spitze nach Rang und Reichtum des Trägers richtete. In einem wohl auf seine königlich-davidische Abstammung hinweisenden weinroten Mantel kniet Josef nieder; wie üblich erscheint er als älterer Mann von etwa 60 Jahren. Er hält seine rechte Hand schützend über die Kerze in seiner linken.

Für das Motiv der brennenden Kerze, die auch bei der "Geburt Christi" von Robert Campin und ohne die schützende Hand bei der "Darbietung im Tempel" des Columba-Altars Rogier van der Weydens begegnet, hat man mehrere Erklärungen überlegt. Der Deutung als Hinweis auf die Nacht der Geburt widerspricht, dass man nicht nur damals auch Nachtbilder malte, sondern auch – vor der hell erleuchteten Landschaft – die Kerze den Schatten auf der Säule kaum aufhellen kann. Eher überzeugend scheint demgegenüber der Hinweis auf die damals sehr bekannten "Revelationes" (Offenbarungen) der hl. Birgitta von Schweden (um 1302-1373). Danach hat Josef bei der Geburt Jesu eine brennende Kerze gebracht, aber ihr materielles Licht wurde durch die himmlische Ausstrahlung des Kindes in den Schatten gestellt. Besonders bei Campin, aber auch bei van der Weyden wird diese Deutung jedoch nicht durch die Lichtführung gedeckt. Da die Kerze besonders bei Campin und dem Columba-Altar wie ein Attribut Josefs erscheint, legt sich folgende Überlegung nahe, die einen Einfluss der "Visionen" nicht auszuschließen braucht. Die Kerze ist mit ihrem Licht ein häufiges Symbol Christi als Licht der Welt, entsprechend verweist ein Kerzenleuchter vielfach auf Maria als Mutter Gottes. Josef ist aber nur der schützende Ziehvater, so dass seine Handhaltung wiederum die Jungfräulichkeit Mariens verdeutlicht.

Ochs und Esel gehören seit dem 4. Jahrhundert zum Weihnachtsbild als Auslegung von Jes 1,3: "Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn," in Verbindung mit der griechischen Überlieferung von Hab 3,2 (LXX): "Inmitten zweier Tiere tust du dich kund." Vielfach begegnet auch eine bedeutungsmäßige Unterscheidung der beiden Tiere, hier indem der Ochse den Esel weitgehend verdeckt. Während Gregor von Nyssa im 4. Jahrhundert den Esel die Last des Götzendienstes tragen und den Ochsen an das Gesetz gebunden sein lässt, wird später der Esel zum Symbol des Judentums unter dem Gesetz und der Ochse zum Vertreter des (Heiden-)Christentums, so dass sich angesichts der Krippe die Trennung von Glaube und Unglaube vollzieht. Nur der Ochse kann das Heil sehen, während es dem Esel in wörtlichem und übertragenem Sinne unsichtbar ist.

Die heilsgeschichtliche Perspektive bestimmt auch die Darstellung des Stalles als der verfallenen "Hütte Davids" (Am 9,11; Apg 15,16), deren romanische Fenster auf die nun abgeschlossene Zeit des Alten Bundes verweisen, zumal diese altertümlichen Formen wie beim Gebäude im Hintergrund (s.u.) als orientalisch galten. Von dem ruinösen Gemäuer hebt sich die Säuledurch Form und Material ab. Aus biblischem Sprachgebrauch ergibt sich Festigkeit und Stärke als Symbolgehalt von Säule, wobei das Hellgrün des Marmors als Farbe des Paradieses und damit der Hoffnung auf Unsterblichkeit gilt. Eine speziellere Erklärung erlauben die weit verbreiteten, irrtümlich Bonaventura zugeschriebenen "Meditationen über das Leben Christi" (um 1300), die wohl auch die Bodenlage des Jesuskindes – wie seine Nacktheit Zeichen der Niedrigkeit – veranlassten: "Die Stunde der Geburt ereignete sich an einem Sonntag um Mitternacht. Maria, die sich noch nicht niedergelegt hatte, lehnte sich an eine Säule, die sich dort befand. […] Da trat auf einmal, ohne dass sie Schmerzen oder Verletzungen erlitt, aus dem Herzen Marias der Sohn des Ewigen Gottes hervor; als hätte er sich im Herzen seiner Mutter befunden, war er jetzt außerhalb desselben, auf dem Stroh, zu Füßen der Mutter. […] Die Mutter beugte die Knie und versank in Anbetung." Damit steht die Säule für die jungfräuliche Geburt durch Maria als semper virgo (immer Jungfrau; ante partum, in partu et post partum = vor, bei und nach der Geburt), wozu die zunächst genannten Bedeutungen nicht in Widerspruch stehen.

Unmittelbar unterhalb der Säule findet sich ein vergitterter "Keller", dem rechts ein aufgebrochenes Gewölbeentspricht. Vielfach sieht man darin einen Hinweis auf die in der orthodoxen Tradition gemäß Jes 33, 16 (LXX) und neutestamentlichen Apokryphen übliche Geburtsgrotte, die zugleich als Höhle von Christi Höllenfahrt galt. Wegen der Zusammengehörigkeit der beiden Öffnungen ist diese Interpretation aber zu erweitern. Auch im Blick auf die grüne Säule liegt eine Deutung im Blick auf den vielfach belegten und beispielsweise durch eine leere Marmor-Krippe gestalteten Zusammenhang von Geburt und Auferstehung Christi näher, durch die das vergitterte Reich des Todes aufgesprengt wurde. Nicht zufällig würde sich dann der Blick des betenden Stifters auf die Öffnung vor ihm richten. Die betont gezeigte verschlossene Höhle kann zudem in Verbindung mit der Jungfräulichkeit Mariens gesehen werden, zumal seit Augustin ihr verschlossener Schoß mit dem Grab Christi verglichen wurde, dessen Siegel bei der Auferstehung nicht verletzt wurde.

Im Hintergrund sind links gemäß Lk 2 die Verkündigung an die Hirten und rechts Bethlehem als mittelalterliche Stadt zu sehen. Antonius Sanderus "Flandria Illustrata" zeigt 1641 in einem Kupferstich den turmartigen Palast – eindeutig als Wiedergabe des Altars – als Middelburger Kastell im Besitz von Pierre Bladelin. Ob der Autor dabei eine glaubwürdige Tradition benützt, erscheint aber fraglich, da das Gebäude einerseits kaum ein Werk des 15. Jahrhunderts ist und andererseits von Rogier van der Weyden auf dem Columba-Altar im Hintergrund der Anbetung der Könige in ein anderes Stadtbild eingefügt wurde. Er wählte den hellen Turm für beide Altäre wohl weniger aus topographischen als aus ikonographischen Gründen, die sich der seit Ambrosius üblichen mariologischen Deutung des Hohenliedes verdanken. Die als Maria bzw. Kirche gedeutete Gestalt der Braut des Bräutigams Christus wird wegen ihrer Schönheit und Keuschheit als "Turm aus Elfenbein" (Cant 7,4) bezeichnet. Dazu passt der durch eine hohe Mauer eingeschlossene Garten (hortus conclusus, Cant 4,12), der auf die unbefleckte Jungfräulichkeit Mariens verweist, also auf einen von Rogier van der Weyden entsprechend der Frömmigkeit seiner Zeit mehrfach betonten Bedeutungszusammenhang.

 

3. Bedeutungsgehalt und unterrichtliche Verwendung

Das Mittelbild des Altars wurde von den Studierenden ausgewählt, weil es in heilsgeschichtlicher Gleichzeitigkeit die Anbetung des Christuskindes im Stall zeigt. Entscheidend war damit der Charakter des Gemäldes als Andachtsbild, das zum Einstimmen in die gezeigte Verehrung des neugeborenen Heilands einlädt. In diesen christologischen Zusammenhang lassen sich auch Ochs und Esel einordnen, die den Schüler/innen von Weihnachtskrippen und -bildern bekannt, aber als Auslegung des Alten Testamentes unbekannt sein dürften.

Entsprechend der Theologie und Frömmigkeit seiner Zeit ist die Christologie des Bladelin-Altars entfaltet und ergänzt durch die Mariologie, besonders durch Hinweise auf die jungfräuliche Empfängnis und Geburt durch Maria. Gemäß dem Thema begegnen keine reformatorischem Glaubensverständnis anstößigen Motive wie die der Miterlöserschaft Mariens (Corredemptrix), die Rogier van der Weyden bei der "Kreuzabnahme" in Madrid zeigt. Aber auch dem neutestamentlichen Zeugnis (Mt 1,16.22 [Erfüllungszitat von Jes 7,14 LXX], Lk 1,26 ff.) entsprechende Bezüge dürften heutigen Schüler/innen unverständlich sein.

Über die Definition Mariens als Gottesmutter durch das Konzil von Ephesus (431) hinaus zeigen besonders Synoden- und Konzilsbeschlüsse des 6. und 7. Jahrhunderts ein mariologisches Interesse, das in der mittelalterlichen Theologie breit entfaltet und erweitert wird. An den biblischen und altkirchlichen Grundlagen hält auch Luther fest, der jedoch den christologischen Sinn der Aussagen über Maria betont. Erst im 17. und 18. Jahrhundert setzt sich auf evangelischer Seite eine immer stärker werdende Zurückhaltung gegenüber der Marienverehrung durch, wobei sich besonders die Kritik an Mariens unbefleckter Empfängnis durch Anna, ihre entsprechende Sündlosigkeit und ihre Himmelfahrt antikatholisch verschärft. Den entscheidenden Abschied vom neutestamentlichen Bild der Jungfrau Maria bringt die historische Kritik des 19. und 20. Jahrhunderts, wobei erst in den letzten 50 Jahren die auch im Apostolikum bekannte Jungfrauengeburt aus dem Blick gerät. Die katholische Frömmigkeit zeigt in vielen Ländern eine Krise der Marienverehrung. Nicht nur im evangelischen Grundschul-RU hat der "historische" Jesus Maria und Josef als Eltern.

Angesichts dieser Lage kann eine Erschließung der verlorenen Dimensionen neutestamentlicher Christologie nicht die Aufgabe der Orientierungsstufe sein, sondern allenfalls mit der entsprechenden Textarbeit in der Sekundarstufe II versucht werden. Deshalb bleiben auch wesentliche Elemente christlicher, besonders mittelalterlicher Kunst nicht nur evangelischen Schüler/innen verschlossen. Das gilt auch für den Bladelin-Altar, der mariologische Aussagen in symbolischer Form darstellt, aber keine Hilfen zu ihrer Entschlüsselung bietet. Man wird deshalb fragen müssen, ob trotzdem seine Betrachtung im Unterricht zu vertreten ist oder eine illegitime Verkürzung seines Bedeutungsreichtums bedeutet. Dabei ist zu bedenken, dass der Unterricht auch bei Texten – schon aus hermeneutischen Gründen, die auch für die Bildbetrachtung gelten – keine "vollständige" Interpretation erreichen kann und will, sondern den Verständnishorizont der Schüler/innen beachten und die Relation zwischen Textintentionen und Lernzielen reflektieren muss. Beides ist auch bei Bildwerken nötig.

Für die Verwendung des Bildes als Medium in der Unterrichtseinheit "Jesus Christus" ist deshalb der Stellenwert der mariologischen Motive zu prüfen. Ihre Identifikation und Interpretation lässt deutlich erkennen, dass sie entsprechend neutestamentlicher Bezeugung und altkirchlicher Tradition der Christologie dienen, die heute auch von der katholischen Theologie als Maßstab der Mariologie betont wird. Dass sie keine davon abgehobene Bedeutung haben, wird besonders an der Gestalt der Maria selbst deutlich. Sie ist zwar durch Haltung und Gebetsgestus von den anderen Personen auf der Mitteltafel und den Flügeln unterschieden, aber dadurch nur als Mutter Christi und reine Magd und zugleich als Vorbild des Glaubens (exemplum fidei) dargestellt. Vom christologischen Zentrum des Glaubens aus ist die Betonung ihrer Jungfräulichkeit eine sachgemäße Entfaltung, die aber antike weltbildliche (mythologische), für heutige Betrachter fremde Voraussetzungen enthält. Ihre intentionale Angemessenheit lässt sich nur von der Christologie her erschließen, während der Unterricht zunächst Zugänge zu dieser selbst eröffnen soll. Deshalb kann und darf der Bedeutungsreichtum des Bildes nur verkürzt im Unterricht zur Sprache kommen.

Als Andachtsbild weist es ein in die Regel: lex orandi – lex credendi, das Gesetz des Betens muss dem des Glaubens entsprechen und umgekehrt. Eine Christologie, die nur als Lehre tradiert wird, bleibt nicht nur für Schüler/innen "uninteressant". Jenseits aller mit dem Fest verbundenen Romantik feiert die Christenheit an Weihnachten die "heute" erschienene Nähe Christi, die das Bild anschaulich werden lässt, zu der es einlädt.

 

Anmerkungen

  1. H.Th. Musper, Altniederländische Malerei von Van Eyck bis Bosch, Köln 1968, S. 80.
  2. Diese Datierung und ihre – wohl unzutreffende – Präzisierung auf 1452 gemäß dem Beginn des Kirchenbaus in Middelburg wird neuerdings aufgrund der dendrochronologischen Bestimmung des Bildträgers – die Eiche wurde 1434 gefällt – in Zweifel gezogen; eine Ansetzung um 1444 widerspric

 

Literatur

  • Erwin Panofsky, Early Netherlandish Painting. Its Origins and Character, Cambridge (Mass.) 1953.
  • Martin Davies, Rogier van der Weyden. Ein Essay. Mit einem kritischen Katalog aller ihm und Robert Campin zugeschriebenen Werke, München 1972.
  • Odele Delenda, Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, Stuttgart-Zürich 1997.
  • Dirk de Vos, Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, München 1999.
  • Engelbert Kirschbaum / Wolfgang Braunfels (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, 8 Bände, Freiburg 1968-76.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2002

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