Das Alte Testament "historisch-kritisch" erschließen?

von Marc Wischnowsky 

 

Vom ‚richtigen‘ Verstehen biblischer Texte. Eine Erwiderung

Christina Kalloch und Bettina Kruhöffer setzen sich mit der bibeldidaktischen Konzeption Baldermanns auseinander.1 Sie messen Baldermanns Ansatz abschließend am Ziel eines Religionsunterrichtes, der einerseits "die Lebenswirklichkeit und die Lernwege seiner Schülerinnen und Schüler kennt und zum Ausgangspunkt von Lernprozessen macht" und andererseits "die Botschaft alttestamentlicher Texte angemessen zur Sprache bringen will". Baldermanns Konzeption werde diesem Ziel nur "begrenzt gerecht".2 In drei Durchgängen möchte ich ihrer Kritik nachgehen. Dabei richte ich den Blick zunächst auf die Lernenden, dann auf die Sache und schließlich auf mögliche Methoden zeitgemäßen Bibelunterrichtes.

 

1. "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ..."

Baldermann hat als Zielgruppe den Bereich der Grundschule im Blick. In diesem Kontext sieht er die Aufgabe des Religionsunterrichtes darin, den Kindern die Relevanz biblischer Texte ganz elementar zu erschließen. "Es scheint mir weder gestattet, selbstverständlich vorauszusetzen, daß mit dem Wort Gott schon etwas halbwegs Richtiges und Wichtiges gemeint sei, noch aber – das ist wohl eher die Gefahr des Religionsunterrichtes an unseren Schulen in der Bundesrepublik – das Reden von Gott ganz auszusparen. Aber es hat wenig Sinn, mit theologischen Argumenten den Kindern zu sagen, wie man von Gott nicht denken dürfe und wie man dagegen von ihm reden müsse. Geht es um einen selbständigen Zugang zur Bibel und zu der von ihr gemeinten Wirklichkeit Gottes, dann muss dieser Zugang auf eine ganz elementare Weise gewonnen werden."3

Kalloch und Kruhöffer betonen demgegenüber, dass biblischer Unterricht vor allem eine korrigierende Aufgabe habe: "Die Grundschule sollte im Hinblick auf alttestamentliche Didaktik die Hauptaufgabe haben, das positive Gottesbild, das die o.g. narrativen Textzusammenhänge [sc. Jona-, Rut- oder Josefs-Geschichte] entfalten, zu erschließen."4 Kinder sollten Gott als "Führenden, Bewahrenden, Begleitenden" kennen lernen, weil der Religionsunterricht – so die Autorinnen im Anschluss an F. Schweitzer – "behutsam korrigierend eingreifen muss, um angstbesetzte oder auch legalistisch verengte Gottesbilder von Kindern durch positive biblische Bilder von Gott zu ergänzen bzw. zu ersetzen".5 Am ehesten geeignet seien Texte der weisheitlichen Tradition, "da diese auch bei mangelnden Verstehensvoraussetzungen ein im o.g. Sinne ‚eindeutiges‘ Gottesbild vermitteln".6 Zur ‚Eindeutigkeit‘ des biblischen Gottesbildes muss im zweiten Teil noch etwas gesagt werden. Im folgenden wird es zunächst um die "mangelnden Verstehensvoraussetzungen" gehen müssen. Welche Voraussetzungen bringen Kinder denn mit?

Der von den Autorinnen als Gewährsmann in Anspruch genommene Schweitzer etwa pointiert die einführende Aufgabe des Bibelunterrichts heute noch sehr viel deutlicher als Baldermann zu seiner Zeit: "Angesichts des Wandels der religiösen Sozialisation im Zeichen der religiösen Pluralisierung und Individualisierung kann nicht mehr damit gerechnet werden, dass Kinder eine Bekanntschaft oder gar Vertrautheit mit biblischen Geschichten zu einem großen Teil bereits in den Bibelunterricht mitbringen. Ein Reflexionsmodell von Religionsunterricht, das diesen Unterricht zur reflektierten Klärung eines vor und außerhalb der Schule vermittelten Bibelverständnisses oder -glaubens nutzen will, läuft damit ins Leere. ... In dieser Situation liegt die erste Aufgabe des Bibelunterrichts darin, Erfahrungen mit der Bibel und einen auf Vertrautheit zielenden Umgang mit ihr zu ermöglichen."7 Auch die Grundschule wird bei Kindern oft gar kein fest umrissenes Gottesbild mehr voraussetzen können. Viele Kinder haben kaum einen Bezug zu biblischen Texten und verfügen damit einhergehend auch nicht über die Sprache, religiöse Erfahrungen – die sie ja dennoch machen – zu artikulieren. "In diesem Sinne wird der Bibelunterricht auch zur biblischen Sprachschule – nicht allerdings gegenüber einer manchmal fälschlicherweise angenommenen vollständigen religiösen Ahnungslosigkeit oder einem abschätzig sogenannten religiösen Analphabetentum, sondern in Aufnahme und Reinterpretation der (potentiell) religiösen Erfahrungen der Kinder, die nach wie vor vorhanden sind."8 Baldermanns methodischer Ansatz trifft vermutlich gerade deshalb auf große Resonanz unter Lehrern und Lehrerinnen, weil er in seiner "Unmittelbarkeit" verspricht, mit dem historischen Graben zwischen heute und den damals entstandenen Texten auch den existentiellen Graben zwischen den bibelfernen Kindern und dem fremden Text zu überspringen. Muss das an "mangelnden Verstehensvoraussetzungen" auf Seiten der Kinder scheitern?

Kinder sind ja durchaus in der Lage, in der Fantasie zwischen verschiedenen Welten und Zeiten zu wechseln und dennoch Gleichzeitigkeit zwischen einem Text und der eigenen Erfahrung herzustellen. Anders wäre z.B. der anhaltende Erfolg der Geschichten Astrid Lindgrens kaum zu erklären. Die strotzen von zeitgebundenen Topoi und Klischees und ebenso unzeitgemäßen Vorstellungen wie sprachlichen Eigenheiten. Dennoch machen die meisten von uns die Erfahrung, dass Kinder diese Texte nach wie vor lesen, verstehen und sich mit den angebotenen Figuren identifizieren – auch ohne historische Wegweiser. Natürlich gilt dieser Vergleich wegen der größeren historischen und kulturellen Ferne biblischer Texte nur eingeschränkt, aber er weist trotzdem darauf hin, dass wir Kinder in dieser Hinsicht nicht unterschätzen sollten. Fremdheit allein wird Kinder nicht daran hindern, sich auf Bilder, Texte und Geschichten aus der Bibel einzulassen. Und wenn Schüler/innen etwas nicht verstehen, können wir wohl darauf vertrauen, dass sie fragen. Und indem der Religionsunterricht sich an diesen Fragen – Fragen der Kinder nicht der Lehrkraft! – abarbeitet, wird er auch hermeneutisch produktiv sein. Denn gerade aus der Spannung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten entspringen die Neugierde und der Drang zu lernen. Dass hier der Bogen auch nicht überspannt werden darf, liegt auf der Hand: die Auswahl der Texte hat großes Gewicht. Und dass biblischer Unterricht zwischen Phasen der Aneignung von Texten und solchen der Distanzierung und Infragestellung wechseln muss, wird schon an dieser Stelle deutlich.

Dennoch wird man festhalten dürfen, dass Kinder einer historischen Einbettung der Texte als nötiger Verstehenshilfe nicht bedürfen – keine mangelnden Voraussetzungen also in dieser Hinsicht. Schwerer wiegt deshalb der Einwand von Kalloch und Kruhöffer, dass Distanz und historische Aufarbeitung biblischer Texte vor allem für ein richtiges Verständnis unabdingbar sind. "Das richtige Verstehen – auch biblisch überlieferter Rede – setzt die Kenntnis über geschichtliche Situationen bzw. narrative Zusammenhänge, in denen sie überliefert werden, voraus."9 Mehr noch habe die Wirkungsgeschichte biblischer Texte gezeigt, dass "zahlreiche Texte, die ein ambivalentes Gottesbild spiegeln, aufgrund mangelnder Verständnisvoraussetzungen der Botschaft des Alten Testaments abträglich waren und zu einer Diffamierung des ersten Testaments der Christen führten".10 Es kann in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden, inwieweit historisch-kritische Exegese vor antijudaistischen Auslegungen zu bewahren vermag – doch mir scheint, dass unter den "mangelnden Verständnisvoraussetzungen" weniger das historische Vorwissen der RezipientInnen zu bedenken wäre als vielmehr deren gesellschaftliches, politisches und kulturelles Vorverständnis und die darin wirksamen Wertmaßstäbe. Es handelte sich dann aber weniger um einen Mangel als um ein Vorurteil, dem unterrichtlich daher auch ganz anders zu begegnen wäre. Aber selbst wenn man annimmt, dass historische Wissenschaft vor literarischen Fehldeutungen zu bewahren vermöchte, wäre bibeldidaktisch doch zunächst zu fragen, ob von der Sache – also dem Alten Testament – her ein eindeutiges Gottesbild überhaupt zu gewinnen ist.

 

2. Worin ist die Bibel ‚eindeutig‘?

Kalloch und Kruhöffer selbst scheinen unter der Ambivalenz biblischer Gottesbilder zu leiden. Sie erklären: "Geschichtliche Ereignisse als Ursprungssituationen biblischen Glaubens führen vor Augen, dass Israel kaum Herr seiner Geschichte war, Geschichte mehr erlitten als gestaltet hat, die kurze Zeit der Eigenstaatlichkeit ausgenommen. Aus der Situation permanenter Unterdrückung und Bedrohung, aus Erfahrungen der Gewalt heraus zeichnet das Alte Testament – im Einklang mit den religiösen Vorstellungen seiner Zeit – häufig ein grausames, gewalttätiges Bild von seinem Gott. Dass dieser Gott zugleich als der Rettende, Befreiende, Schützende und Tröstende erfahren wird, steht in keinem Widerspruch dazu."11 Es ist, als ob die ‚bösen‘ Anteile Gottes unter Hinweis auf die religösen Zeitvorstellungen quasi ‚entschuldigt‘, die ‚lieben‘ Anteile dagegen hervorgehoben und zum Proprium biblischer Gottesrede erklärt werden sollen. Wird hier nicht unter der Hand eine neutestamentlich-christlich vermittelte Vorstellung vom ‚lieben Gott‘ zum hermeneutischen Schlüssel für das Alte Testament, das ja, wie die Autorinnen nicht müde werden zu betonen, so eindeutig eben nicht ist?

Es sind nämlich die Texte des Alten Testamentes widersprüchlich und ihre Gottes- und Menschenbilder ambivalent und mehrdeutig. Darin liegt eben ihre Stärke, denn sie liefern so Identifikations-, Verständigungs- und Glaubensmuster für Menschen in den verschiedensten historischen Situationen und individuellen Lebenslagen. Die Texte der hebräischen Bibel überliefern uns einen ganzen Chor von verschiedensten Stimmen verschiedener Interpreten zu verschiedenen Zeiten. Sie überliefern Geschichte und Geschichten von Unterdrückten, aber eben auch die von Herrschenden, von Sklaven und Königen, von Frauen und Männern, von Alten und Jungen. Eine zentrale Aufgabe gerade der historisch-kritischen Wissenschaft liegt darin, diese Vieldeutigkeit zu bewahren bzw. überhaupt erst herauszuarbeiten. Natürlich geschieht dies in historischer Hinsicht. Aber wir sind exegetisch inzwischen doch weit darüber hinaus, diese Texte mit Blick auf den historischen Kontext ‚entschuldigen‘ zu wollen, um sie von zeitgenössischen Vorstellungen zu ‚reinigen‘ und solcherart dogmatisch zu ‚entschärfen‘. Die biblischen Gottesbilder sind so verschieden wie die Erfahrungen, aus denen heraus die Menschen von ihrem Gott sprechen. Das herauszustellen und zu beschreiben ist Aufgabe der historischen Kritik an der Bibel.

Selbst die von den Autorinnen erwähnten Narrationen der Bücher Jona, Rut oder die Josefsgeschichte zeigen ja keineswegs nur ein ‚positives‘ Gottesbild. Sowohl von seinen Inhalten als auch seinen Formen und Intentionen her gibt nahezu jeder alttestamentliche Text ein so vielschichtiges, mehrdeutiges, oft auch widersprüchliches Gebilde ab, dass jede Festlegung auf eineDeutung unzureichend erscheinen muss. Psalmen sind genauso Spiegel existentiellen Gebetes wie liturgische Kompositionen, genauso religiöse Gebrauchstexte wie höchst kunstvoll gefertigte literarische Buchtexte. Die Prophetenbücher beinhalten kurze mündliche Sprüche ebenso wie redaktionell gestaltete Reden, Narrationen, Predigten und historische Darstellungen. Die Tora ist ein erstaunlich komplexes Gebilde verschiedenster Groß- und Kleingattungen mündlicher und schriftlicher Art und nur der kleinste Teil davon ist ‚Weisung‘ im Sinne ethischer Gebote – das meiste ist ‚Weisung‘ in einem wesentlich freieren und umfassenderen Sinn. Literar- und redaktionskritische Arbeit an den Texten zeigt, wie die hebräische Bibel gewachsen ist und wie immer wieder neue Deutungen des Textes ihrerseits zu heiligem Text wurden, der weitere Auslegungen freisetzte. Dabei können die Absichten späterer die Absichten früherer sehr wohl überlagern, genauso wie ein Text in seinem aktuellen literarischen Kontext eine andere Funktion haben kann als er vielleicht ursprünglich hatte. Auch ein dem "sensus historicus" als "norma normans" kirchlicher Lehre sich verpflichtet wissender Exeget wie H.C. Schmitt kommt deshalb nicht umhin einzuräumen, dass "schon der ‚historische Sinn‘ des Bibeltextes mehrere – allerdings aufeinander bezogene – Aussageintentionen enthält und dabei ein Großteil der heutigen Auslegungsprobleme bereits im biblischen Text reflektiert ist."12 Das ist nicht zu beklagen, sondern Anlass zur Bewunderung: Welches Vertrauen in diesen Gott und sein Wort hat die biblischen Autoren getragen, dass sie fähig waren, diesen Reichtum gerade in seiner Widersprüchlichkeit und Spannung weiterzugeben! ‚Eindeutig‘ sind biblische Texte nur in ihrem Bezug auf menschliche Erfahrungen mit diesem einen Gott. Darin liegt ihr Zentrum und ihr Movens und damit auch das des Bibelunterrichtes.

 

3. Wie verstehen Schüler/innen die Bibel?

Aufgabe historisch-kritischer Exegese ist es nicht, ein wie auch immer dogmatisch oder pädagogisch gewünschtes Vorverständnis am Text zu verifizieren, sondern den historischen und literarischen Textsinn möglichst getreu zu entschlüsseln. Dies geschieht um den Preis der Distanzierung zwischen Rezipient und Text. "Diese historische Einsicht hat natürlich ihren Preis", meint O.H. Steck: "Auch was so für die Bibel als Teil einer Verbindung und gemeinsamen Ebene von damals und heute gewonnen wird, ist dem Wortlaut nach ... eine Nähe zu Leben nicht heute, sondern zu Leben damals und somit für uns heute trotz verbindendem Blickwinkel der Größe Tradition ... und trotz Lebensumständen und Lebensmustern von einer gewissen Konstanz im Allgemeinmenschlich-Individuellen durch die Zeiten immer auch Ferne. Und diese Ferne wächst, je näher man hinschaut und je mehr man weiß."13 Den von Kalloch und Kruhöffer in den Blick genommenen Dialog zwischen Situation und Tradition14 leistet historische Wissenschaft von daher nur in einem sehr beschränkten Sinne. Historisch-kritische Exegese ist zwar in der Lage, sehr genau aufzuzeigen, inwiefern biblische Texte danach drängen ausgelegt zu werden und auf vorfindliche geschichtliche Gegenwart angewendet zu werden. (Biblische Textproduktion verdankt sich wie gesagt in weiten Teilen genau diesem Impuls und spiegelt als Literar- und Redaktionsgeschichte eben diese fortwährende Vermittlung von Tradition und Situation in Form von schriftgelehrter Auslegung, die als Fortschreibung und Redaktion ihrerseits wieder zur Tradition wurde.) In sich selbst kann historische Exegese jedoch nur Bedingungen der Auslegung die Textgemäßheit betreffend formulieren. Die schöpferische Auslegung der Texte in die Gegenwart hinein gehört nicht mehr zu ihren Aufgaben. Deshalb kann der Exeget Steck sagen: "Die biblische Überlieferung braucht auf ihrem Weiterweg ins Heute Wachstum, sie braucht nicht Auslegung im strengen Sinn des Wortes, als sei schon in den biblischen Formulierungen alles weitere enthalten. Sie braucht statt sogenannter exegetischer Auslegung, die näherhin nur die Klärung der Ursprungssinngebung zu biblischer Zeit ist, und statt systematisch-theologischer Schriftanwendung ... genauer gesagt Wachstum in einem besonderen Sinn: Wachstum nämlich durch fortgehende, geschichtlich-vielfältige Lebensanwendung des Grundlegenden, das die Bibel als ganze trotz zeitbedingter sprachlicher Erfassung maßgeblich in sich hat. Die biblische Überlieferung braucht damit Veränderung im Wortlaut, Veränderungen in geistigen Aneignungen, in Konkretionen, weil sich Zeiten, Sprachen, Erfahrungen, Kenntnisse und Herausforderungen ändern und sich der biblische Gott in späteren Zeiten bis hin zu unseren Bereichen in verändertem Rahmen zeigt."15

Wenn es die Aufgabe der biblischen Wissenschaft ist, die vielfältigen, zeit- und kontextgebundenen Intentionen der Texte und ihrer Verfasser herauszuarbeiten, so ist es Aufgabe des biblischen Unterrichtes, die exegetisch herausgearbeiteten Intentionen zu vermitteln und Schüler/innen zu erschließen. Historische Exegese gehört damit zwar zu den unverzichtbaren Voraussetzungendes biblischen Unterrichtes, nicht aber zwangsläufig zu seinen Inhalten. Methoden historischer Exegese sind Aufgaben der Unterrichtsvorbereitung, nicht aber notwendig Aufgaben von SchülerInnen im Unterricht selbst. Ob literarische oder historische Methoden der Vermittlung des jeweiligen Bibeltextes zu- oder abträglich sind, ist vielmehr von den Unterrichtszielen her zu bestimmen. Geht es um eine historische Information, wähle ich Methoden historischer Wissenschaft. Geht es um existentielle Zugänge zu den Texten, werde ich andere Methoden einführen müssen. Sachangemessen ist eine Methodik, die sich an den exegetisch erhobenen Intentionen des Textes messen lässt – wozu ich neben historischen Vorüberlegungen ausdrücklich auch formale und gattungsspezifische Erwägungen zum ‚Sitz im Leben‘, zur Entstehungssituation und zur literarischen Einbettung zähle.

Wenn nun Baldermann das Ziel einer unmittelbaren, existentiellen Begegnung von Schüler/in und Bibeltext verfolgt, dann erscheint es auch von der Sache her angemessen, die kleineren, ehemals mündlich überlieferten Gattungen ins Zentrum des Unterrichtes zu stellen (Psalmenverse, Prophetensprüche, einzelne Weisungen und im NT etwa die Reich-Gottes-Gleichnisse). Hier spiegelt sich die individuelle religiöse Erfahrung gläubiger Menschen aus biblischer Zeit am ehesten wieder; in diesen Texten mögen Einzelne auch heute eigene Erfahrungen aufbewahrt oder sprachlich ausgedrückt finden. In eine Schieflage führt ein solcher Ansatz erst dann, wenn er sich auf solche vermeintlichen ‚Perlen‘ beschränkt. Dann geraten andere Texte der biblischen Überlieferung – in denen sich etwa kollektive, geschichtliche, auch politische Erfahrungen oder mythologische Inhalte widerspiegeln – aus dem Blick und aus dem Unterricht. Darin sehe ich in der Tat eine Gefahr des Baldermann´schen Ansatzes. Ihr lässt sich begegnen, indem man sich eben bewusst auch anderen Textgattungen zuwendet. Dabei ist Kalloch und Kruhöffer zuzustimmen, dass größere, literarisch konzipierte Textgattungen (wie die Exodus- oder die Josefsgeschichte, das Jona- oder das Danielbuch, die Davidslegenden oder auch das Deuterojesajabuch) nach anderer Methodik (etwa der Narration oder von Fall zu Fall auch der historischen Annäherung) verlangen können.

Methodisches Ziel ist es, die Texte so in den Unterricht einzubringen, dass ihre Aussageabsichten deutlich werden. Das aber wird in den meisten Fällen besser gelingen, wenn ich nicht über den Text (seine Entstehungsgeschichte, seine Form, seine Absicht) informiere, sondern ihn – angemessen – inszeniere. Wobei methodisch angemessen eben das ist, was die (exegetisch erhobene) Aussage des Textes am wirkungsvollsten (im Blick auf die Schüler/innen) und deutlichsten (im Blick auf die Sache) ‚rüberbringt‘. Dass Baldermanns Vorschläge hier nur einen Ausschnitt der möglichen Texte im Blick haben, wurde bereits gesagt; dass seine Methodik nicht auf jeden anderen Text übertragbar ist, ergibt sich daraus. Die didaktische Herausforderung liegt darin, auch andere Texte der biblischen Überlieferung auf eine Weise ins Unterrichtsgeschehen einzubringen, dass dies einerseits der Sache adäquat bleibt und andererseits die Schüler/innen so anspricht, dass sie sich auf das vom Text inspirierte ‚Deutungsspiel‘ einlassen.

Ein solcher Ansatz bietet Schüler/innen biblische Texte als Ausdrucksmaterial an in der Hoffnung darauf, dass sie eigene Erfahrungen in diesen Texten angesprochen finden. Wenn es gelingt, dass sie sich zumindest ansatz- und probeweise auf die Sprachwelt und Wirklichkeitssicht der Bibeltexte einlassen, kann ihnen das eine Möglichkeit bieten, Erfahrungen sprachlich zu erschließen, die oft jenseits alltagssprachlicher Kategorien liegen. Erfahrungen von Klage und Verheißung, Gericht und Gnade, Endlichkeit und Ewigkeit werden aussagbar und können auf diese Weise überhaupt erst zum Thema unterrichtlicher Diskurse werden. Möglicherweise erhalten eigene Erfahrungen im Licht der biblischen Texte eine neue Qualität, geraten Gewohnheiten und Gewissheiten ‚ins Rutschen‘, bekommen neue, fremde Geschichten eigentümliche Relevanz. Anders gesagt: die Schüler/innen werden in ein Spiel um Offenbarung und Bedeutung verwickelt; der Absolutheitsanspruch ihrer alltäglichen Deutung von Erfahrungen muss sich, soll sich, kann sich – wenn es denn gelingt, dass sie sich auf dieses ‚Spiel‘ einlassen – mit dem Anspruch der biblischen Texte messen. Gotteswirklichkeit und Schülerwirklichkeit überlagern sich komplementär und konkurrierend – auf Zeit und im geschützten Raum biblischen Unterrichtes.

In diesem ‚Spiel‘16 – in dem es ja allen Ernstes um die Entdeckung der Relevanz biblischer Texte für mein Leben geht – verlieren diese in der Tat ihren ‚dogmatischen Schutzschild‘. Sie werden ‚ausgeliefert‘ an das Unterrichtsgeschehen – und die Schüler/innen auf diese Weise ernstgenommen als Subjekte ihres Verstehens. Vor ‚Fehldeutungen’ gibt es hier keinen Schutz – außer dem einer sach-, also bibelgerechten Inszenierung dieses ‚Spiels‘. Das Beharren auf ‚Eindeutigkeit‘ der Textauslegung, historischer Authentizität und wissenschaftlicher Korrektheit dagegen verhindert dieses ‚Spiel‘. "Biblische Geschichten dürfen auch ‚unrichtig‘ verstanden werden"17. Nur unter dieser Bedingung kann es unterrichtlich zu einem wirklichen Dialog zwischen Tradition und Situation, zwischen Text und Schüler/innen - Wirklichkeit kommen – im Sinne eines gleichberechtigten Gespräches, in dem der Schüler/die Schülerin mit seiner/ihrer Lebenswirklichkeit, seinem/ihrem entwicklungsgemäßen Horizont, seinem/ihrem lebensgeschichtlichen Vorverständnis dem Bibeltext als gleichgewichtiges Subjekt gegenübertritt.

Die Annahme, der Text könne nur unter bestimmten Bedingungen historischer oder dogmatischer Wissenschaft ‚richtig‘ verstanden werden, impliziert dagegen immer ein Ungleich-Verhältnis. Als ob eine Seite definiere, was ‚richtig‘ sei – und alles, was sich diesem Verständnis verwehre damit ‚unrichtig‘ sei. In solcher Sichtweise erscheinen die Verstehensvoraussetzungen der Schüler/innen dann natürlich als "Mangel". Zu einem Dialog, wie ihn Kalloch und Kruhöffer doch intendieren, wird es so vermutlich nicht kommen. Schüler/innen sind meiner Erfahrung nach sehr misstrauisch und sensibel gegenüber jeder Art von Definitionsanspruch gerade bei Religionslehrer/innen. Zu Recht, denn ‚richtiges‘ Verstehen erschließt sich nur in einem interdependenten Vorgang – und bleibt als solches immer ‚subjektiv‘. R. Lachmann hat in Auseinandersetzung mit neueren rezeptionsästhetischen Entwürfen und in Verlängerung Bultmann´scher existentialer Interpretation festgestellt: Das "‚existentielle Wissen um Gott‘, das bei den Schülern und Schülerinnen in der Regel eine Verbindung mit ‚ansozialisierten‘ und gelernten Vorstellungen eingegangen ist, begegnet bibeldidaktisch in der spezifischen Ausgelegtheit und Deutung biblischer Gottesrede, die der möglichen Vieldeutigkeit auf Seiten der Rezipienten/innen zur kritischen Anfrage und Anstößigkeit werden kann. Neben dem geforderten Lebensbezug macht dieser Gottesbezug das unverwechselbare und unverzichtbare ‚Proprium‘ religionsunterrichtlicher Bibelarbeit aus und muss den Rezeptionsweisen und Deutungsversuchen der Kinder und Jugendlichen als belangvolles und profiliertes Deutungsangebot ausgesetzt werden. Damit wird ein Raum eröffnet und sachgemäß begrenzt, der vor unsachgemäßer subjektivistischer Willkür schützt, ohne darüber das subjektive Verstehen und Deuten durch falschen ‚textfetischistischen‘ Objektivismus unangemessen zu reglementieren."18 Belangloser Beliebigkeit entgeht ein solcher Religionsunterricht, wenn es ihm gelingt, die Schüler/innen wirklich in einen Verständigungsprozess um die ‚richtige‘ Deutung zu verwickeln, als "ein Ringen und Streiten um das biblische Gottesverständnis, seine Wirklichkeitsübersicht und Lebensperspektiven"19 auf dem Hintergrund der je eigenen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hierin liegt m.E. die eigentliche didaktische Aufgabe eines zeitgemäßen biblischen Unterrichts.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass Baldermanns bibeldidaktische Vorschläge sehr wohl notwendige Lernwege beschreiben, ohne dass sie deshalb als letztgültiges oder exklusives Konzept in Anspruch genommen werden können. Auch ein Religionsunterricht, der biblische Texte durch inszenierende Methoden unmittelbar erschließen will, wird dieses ‚Deutungsspiel‘ durch (selbst-)reflexive Phasen unterbrechen. Im Wechsel zwischen Nähe und Distanz, (probeweiser) Aneignung und anschließender Infragestellung, ‚Spiel‘ und ernsthafter Frage nach der lebensgeschichtlichen, politischen und ethischen Relevanz des Entdeckten wird Gottes Wort seine Kraft bewähren. Beides tut not, aber das eine ist ohne das andere didaktisch nicht zu haben.

 

Anmerkungen

  1. Christina Kalloch/Bettina Kruhöffer, Das Alte Testament "unmittelbar" erschließen? Kritische Anfragen an die bibeldidaktische Konzeption Ingo Baldermanns, Loccumer Pelikan 2/2001, 59-64.
  2. Kalloch/Kruhöffer, a.a.O., 64.
  3. Baldermann, Wer hört mein Weinen. Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, WdL 4, Neukirchen-Vluyn 51995, 10. In seinen Vorüberlegungen zur unterrichtlichen Vermittlung der Gottesreichgleichnisse setzt sich Baldermann auch mit historischen Zugängen auseinander: "Ich erzähle dann etwa von dem Leben der Leute in Palästina, von ihren Häusern und ihrer Armut, von den Römern und von den Zöllnern, aber was tue ich denn da eigentlich, wenn ich Kinder im 2. oder 3. Schuljahr entführe in eine so ferne und fremde Welt? Was mute ich ihnen zu, wenn ich Grundschulkindern erst ein Stück antiker Geschichte zur Kenntnis bringe, um ihnen auf diesem Hintergrund von Jesus zu erzählen? Das spricht ja wohl allen Regeln der Geschichtsdidaktik Hohn, und es wird sich jedenfalls so auswirken, dass sie die Jesusgeschichten dann wie merkwürdige Ausstellungsstücke im Museum betrachten, die ihnen eine ferne und fremde Welt zeigen, was durchaus seinen Reiz haben kann, mit dem eigenen Leben der Kinder aber sehr wenig zu tun hat." (I.Baldermann, Gottes Reich – Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, WdL 8, Neukirchen-Vluyn, 21993, 12)
  4. Kalloch/Kruhöffer, a.a.O., 63.
  5. Dies., a.a.O., 62.
  6. Ebd.
  7. F. Schweitzer, Die Konstruktion des Kindes in der Bibeldidaktik. Bilder von Kindlichkeit und Jugendlichkeit zwischen erster und zweiter Moderne, in: G. Lämmermann / C. Morgenthaler / K. Schori / P. Wegenast, Bibeldidaktik und Moderne, FS K. Wegenast, Stuttgart u.a. 1999, 122–133, 132.
  8. Ebd.
  9. Kalloch / Kruhöffer, a.a.O., 63.
  10. Dies., a.a.O., 62.
  11. Ebd.
  12. H.C. Schmitt, Der Stellenwert der Bibelwissenschaft in der universitären Religionslehrerausbildung, in: W. Ritter / M. Rothangel (Hg.), Religionspädagogik und Theologie. Enzyklopädische Aspekte, FS W. Sturm, Stuttgart u.a. 1998, 303–320, 303.
  13. O.H. Steck, Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche, BthSt 42, Neukirchen-Vluyn 2001, 126
  14. Kalloch / Kruhöffer, a.a.O., 62.
  15. Steck, a.a.O., 129f.
  16. Zu Implikationen spieltheoretischer Erwägungen für den Religionsunterricht verweise ich an dieser Stelle nur auf T. Klie, Religionsunterricht in der Berufsschule: Verheißung vergegenwärtigen. Eine didaktisch-theologische Grundlegung, Arbeiten zur Praktischen Theologie 14, Leipzig 2000, 183–193.
  17. So titeln programmatisch K . u . P. Wegenast in: D. Bell / H. Lipski-Melchior / J. v. Lüpke / B.Ventur (Hg.), Menschen suchen – Zugänge finden. Auf dem Weg zu einem religionspädagogisch verantworteten Umgang mit der Bibel, FS C. Reents, Wuppertal 1999, 246.
  18. R. Lachmann, Wundergeschichten "richtig" verstehen? Bibeldidaktik zwischen historisch-kritischer Exegese, existentialer Interpretation und Rezeptionsästhetik, in: G. Lämmermann / C. Morgenthaler / K. Schori / P. Wegenast, Bibeldidaktik und Moderne, FS K. Wegenast, Stuttgart u.a. 1999, 205–218, 216 mit Bezug auf Wegenast.
  19. Ebd.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2001

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