Wer glaubt denn heute noch an Wunder?

von Werner H. Ritter

 

Wer glaubt denn heute noch an Wunder? Niemand? Zwar konnte Goethe sagen, das Wunder sei des Glaubens liebstes Kind. Doch neuzeitlich-aufgeklärte Menschen standen Wundern lange Zeit im 19. und 20. Jahrhundert ablehnend, zumindest skeptisch gegenüber, sei es aus naturwissenschaftlichen, Historizitäts- oder sonstigen Gründen. Bekannt geworden ist das Wort des bedeutenden Theologieprofessors Rudolf Bultmann (1884-1976), der in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts formulierte: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamens glauben.“

Wirft man einen Blick in entsprechende Meinungsumfragen zum Stichwort Wunder ergibt sich Folgendes: Im Jahr 1974 befragte das Institut für Demoskopie Allensbach 1000 Auskunftspersonen danach, ob diese glaubten, „dass es Wunder gibt“. Die vorgegebenen drei Antwortmöglichkeiten wurden so verbeschieden: 29 Prozent äußerten „glaube ich“, 31 Prozent „könnte sein“ und 41 Prozent „glaube ich nicht“. Die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts waren – nebenbei gesagt – Zeiten technischer und wissenschaftlicher Machbarkeit, Planbarkeit und Fortschrittsgläubigkeit. Im Jahre 1997, also gut 20 Jahre später, fragte das gleiche Institut, woran Menschen heute glauben. Eine Vorgabe neben anderen lautete „Dass es Wunder, z. B. Wunderheilungen gibt“. Die Frage wurde von 31 Prozent der deutschen Bevölkerung bejaht.1 Umso erstaunlicher erscheint auf diesem eher negativen Hintergrund was sich in Sachen Wunder im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts tut. Es sieht derzeit nämlich danach aus, dass sich hier jüngst doch beachtliche religiöse Mentalitätsveränderungen anbahnen. Waren es bei einer Befragung im Jahr 2000 in Deutschland 29 Prozent der Bevölkerung, die sich als wundergläubig bezeichneten, so beantworteten die Frage „Glauben Sie an Wunder?“ bei einer Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 2006 im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 56 Prozent der Befragten mit „ja“. Und das Personen mit höherer Schulbildung ziemlich gleich auf mit Personen einfacher Schulbildung. Im Osten übrigens 45 Prozent, im Westen 59 Prozent2. Das kann zu denken geben.

Erklären lässt sich das zum einen sicher damit, dass das Wort Wunder nicht eindeutig an den christlichen Glauben gebunden ist, sondern zur Alltagssprache gehört und oft sehr unspezifisch gebraucht wird.

Zum anderen ist es heute so, dass viele Menschen gegen Rudolf Bultmanns Vorbehalt – „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben“ – lebenspraktisch längst beides tun: Moderne Technik nutzen und gleichzeitig für Religion und die Geister- und Wunderwelt nicht nur des Neuen Testaments offen sein. Glaube und Wissen erscheinen heute eher als zwei verschiedene, einander nicht ausschließende Zugänge zur Wirklichkeit.

Dass Wunder auch zum christlichen Glauben gehören, hat maßgeblich mit Jesus Christus zu tun. Wunder begegnen schon im Alten Testament – wie auch in anderen Religionen – dann aber vor allem im Neuen Testament, besonders den Evangelien. Genauer müssen sie, vom griechischen Urtext des Neuen Testamentes her, als Zeichentaten und Krafterweise bezeichnet werden. Im Unterschied zum Allerweltsgebrauch des Wortes meint der christliche Glaube damit etwas Bestimmtes, nämlich: Schalom-Zeichen des Erbarmens und Herbeikommens Gottes, in dessen kommender Welt alle Begrenzungen, Leid, Not und Tod nicht mehr sein sollen.

Nach dem Zeugnis der Evangelien heilt, rettet und bewahrt Jesus Menschen in Lebensbegrenzungen unterschiedlicher Art. Näherhin kann man zwischen zwei Formen von Wunder-Erzählungen in den Evangelien unterscheiden. Da sind zum einen Texte, in denen es darum geht, dass Jesus Kranke heilt. Diese gelten als „jesuanisches“ Urgestein, zählen zu den ältesten und sichersten Bestandteilen der Jesusüberlieferung und können auf den „historischen“ Jesus zurückgeführt werden: Jesus- oder Heilungsgeschichten.

Zum anderen finden sich aber auch Texte, die von Taten Jesu erzählen, die weit über Menschen Mögliches hinausreichen: Jesus stillt Stürme (Mk 4,35ff.), weckt Tote auf (Mk 5,38ff.) und speist riesige Menschenmengen (Mk 6,32ff.). Als Glaubens- oder Christusgeschichten verstanden spiegeln diese Texte in verdichteter Gestalt und weit über das „Historische“ hinausgreifend den nachösterlichen Glauben an Jesus Christus. Sie zeugen davon, wie Menschen in Extremsituationen des Lebens bewahrt und gerettet wurden und stellen ein fortgeschrittenes Stadium frühchristlicher Theologie dar: Glaubens- oder Christusgeschichten.

Für Menschen der Antike sind Wunder ungewöhnliche Ereignisse, in denen sie die Wirksamkeit göttlicher Kräfte besonders intensiv erfahren. Fragen wie die, ob sich die in der Bibel überlieferten Wundergeschichten tatsächlich historisch ereignet haben und naturwissenschaftlich möglich erscheinen, stellen sich heute stärker und anders als in der Antike und im Mittelalter.

Die Verfasser der Evangelien dürften damit kaum Probleme gehabt haben. Sie wollten verkündigen und eine Botschaft weitergeben. Ihnen ging es nicht um historische Verlaufsprotokolle oder exakte Rekonstruktion von „Fakten“, sondern darum, im Erinnern bestimmte Begebenheiten für die Gegenwart bedeutsam und „groß“ zu machen, von Gottes Erbarmen zu erzählen und die damit einhergehenden Erfahrungen weiter zu geben.

Wir Heutigen neigen von unserem Realitätsempfinden her dazu, Historizität wie naturwissenschaftliche Möglichkeit vor allem der Glaubens- oder Christusgeschichten – die in der Tat unwahrscheinlicher sind als die Heilungsgeschichten – zu verneinen. Wer allerdings diese Geschichten im Lichte der Auferstehung Jesu sieht, mag auf den zweiten Blick – den Blick des Glaubens – entdecken: Ihm, dem Sohn Gottes, ist alles möglich: Jesus Christus kann in der Sicht des Glaubens Begrenzungen des Lebens und der Wirklichkeit überwinden, indem er sein in der Auferstehung begründetes Herr-Sein über Mächte (z.B. Naturgewalten) und Elemente (Brot und Fische) offenbart.

Im Übrigen können wir nicht ausschließen, dass das, was die Bibel hier erzählt, sich auch tatsächlich so zugetragen hat. Entscheidend an den Glaubens- bzw. Christusgeschichten ist: Die Macht Jesu Christi hat im Lichte von Ostern keinerlei Grenzen. Oder sollte Gott nicht Dinge geschehen lassen können, die den Gesetzmäßigkeiten des Weltverlaufs widersprechen? Nachdem es ein exaktes Weltbild der Naturwissenschaft nicht gibt (so W. Heisenberg, C. F. v. Weizsäcker u. a.), lassen sich Wunder auch nicht definitiv ausschließen.

Theologisch haben Wundergeschichten fundamental mit der Wirklichkeit zu tun:

Das, was wir für Realität halten, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Thema der Wundergeschichten ist die Überwindung von Lebensbegrenzungen und Wirklichkeitsbegrenzungen unterschiedlicher Art und damit gutes und gelingendes Leben in einer gottgewollten und schalomförmigen Wirklichkeit. Als sinnliche Liebes- und Krafterweise eines lebensfreundlichen Gottes betreffen sie unseren Leib, Geist, Seele und die ganze Schöpfung (Röm 8,18ff).

Letztlich geht es bei den Wundern darum, wie bzw. welchen Gott wir „haben“ (Martin Luther): Gott begegnet uns auch schwach, klein und ohnmächtig (Phil 2,5ff.); aber wir glauben und erfahren ihn in den Wundern auch als stark und mächtig. Gerade die Opfer des Lebens, Leid, Not und Tod lassen uns nach dem starken Gott rufen und nach einer Wirklichkeit ohne Entbehrungen und Begrenzungen.

Zeichen und Wunder erfahren Menschen immer wieder, meist eher unscheinbar und im Verborgenen, manchmal nicht übersehbar: Geschehene, geschehende und noch ausstehende, erhoffte Zeichen der Vollendung. Sie begegnen, wie es aussieht, nicht massenhaft, sondern da und dort und dann und wann in der Geschichte Gottes mit den Menschen bis heute. Und die hat noch kein Ende. Genau genommen glauben Christen freilich nicht „an“ Wunder, sondern an Gott und Jesus Christus, denen sie solche Zeichen und Krafterweise zutrauen. Freilich können diese auch ausbleiben; auch das gehört zum christlichen Glauben, dass Gott nicht heilt, rettet und eingreift…

Kann man also „an“ Wunder glauben? Ja, Menschen können und tun es. Vielleicht muss man angesichts des Zustandes unserer Welt mit Opfern, Leid, Not und Tod geradezu auf Wunder hoffen? Wunder als Machterweise Gottes halten nämlich den Glauben daran wach, dass noch nicht heraus ist, was sein wird bzw. was wir sein werden (vgl. 1.Joh 3,2), und dass am Ende Gott alles in allem sein wird (1.Kor 15,28).

 

Anmerkugnen

  1. Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 6047, August/September 1997.
  2. Vgl. dazu U. Popp-Baier, „Mir ist alles Wunder…“ Psychologische Studien zu Wundern und zum Wundern, in: W.H. Ritter/ M. Albrecht (Hg.), Zeichen und Wunder. Interdisziplinäre Zugänge, Göttingen 2007, S. 108-129, hier S. 114f.

 

Literaturhinweise

  • Ritter, Werner H. / Wolf, Bernhard (Hg.): Glaube, Heilung, Energie, Göttingen 2005.
  • Ritter, Werner H. / Albrecht, Michaela (Hg.): Zeichen und Wunder, Göttingen 2007.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2008

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