Begegnungslernen mit Lebensbildern – Ein neues didaktisches Modell am Beispiel „Paulus“

von Rainer Merkel

 

Wenn es um das Lernen mit Biografien geht, bläst die (Fach-)Didaktik grundsätzlich in dasselbe Horn: „Die vermeintlichen Vorbilder dürfen nicht zu moralischen Zwecken überhöht werden!“ Das ist schnell gesagt; in der Praxis ist es überaus schwer, den Eindruck von (latenter) Moralerziehung zu vermeiden. Eine Reflexion auf drei Ebenen scheint unerlässlich. Erstens grundlegend: Mit welchen Intentionen und nach welchen didaktischen Prinzipien will ich Biografien oder Personen ins Zentrum des Unterrichts stellen? Zweitens und konkreter: Wie lassen sich diese Prinzipien methodisch-didaktisch umsetzen, ohne in alte Muster zu fallen? Und drittens auf der Mikroebene: Wie realisiere ich das im Blick auf eine bestimmte Person und den damit spezifisch gegebenen Voraussetzungen? Alle drei Ebenen sind im Titel angesprochen, aber aus Platzgründen nicht umfassend zu entfalten. Insofern ist dieser Artikel ein Vorgeschmack auf einen Band „Begegnungslernen mit Lebensbildern“ für die Sekundarstufe I, der voraussichtlich Ende des Jahres in der Reihe „Loccumer Impulse“ erscheint. Dort wird das neue didaktische Modell ausführlicher vorgestellt und in Unterrichtsreihen zu Personen aus Bibel und Kirchengeschichte umgesetzt.

An dieser Stelle wird vor allem die Grundlegung nur thesenartig und ohne eine Diskussion des Forschungsstandes skizziert. Danach beschreibe ich das „Lernen an Lebensbildern“, das am Beispiel des Paulus in Jahrgang 9/10 exemplarisch konkretisiert wird.

 

Begegnungslernen in acht Grundsätzen

„Ich werde am Du.“, sagt Martin Buber. „Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung.“1 Das halte ich für den Königsweg des biografischen Lernens: den Menschen als Gegenüber möglichst unvoreingenommen in den Mittelpunkt zu stellen und damit nicht nur vom Vorbild-Begriff, sondern auch vom Biografie-Begriff so weit wie möglich Abstand zu nehmen. Es ist nämlich eine grenzüberschreitende Anmaßung, das Leben eines Albert Schweitzer oder einer Mutter Teresa auf eine allgemein verbindliche Summe zu bringen. Jede Wahrnehmung und Darstellung einer Person ist Konstrukt, ist perspektivisch, subjektiv und damit limitiert. Natürlich würde sich eine Didaktik, die von Vermittlung gänzlich absieht, letztlich selbst aufheben. Und es bleibt auch nicht aus, dass Lehrende wie Lernende ihre Erfahrungen zu einem subjektiven Gesamtbild verdichten. Ein theologisch verantwortetes biografisches Lernen muss dies jedoch mindestens offen legen und sollte Personen nie als Vehikel für Werte oder Zeitgeschichte missbrauchen. Zugleich entbindet dieser Ansatz von der Verpflichtung, über lernpsychologische Vorgänge zu spekulieren.2 Der didaktische Anspruch beschränkt sich vielmehr darauf, Begeg­nung(en) zu ermöglichen und zu reflektieren. Voraussetzung ist das Vertrauen, dass sich in der Begegnung von Menschen, fiktiv oder real, etwas ereignet – „Ich werde am Du“.

  1. „Lernen in Begegnung“ ist grundsätzlich mit jeder Person möglich. Klassifikationen wie „Vorbilder auf mittlerer Ebene“, aber auch die Unterscheidungen „legendarisch – historisch“ und „biblisch – kirchengeschichtlich“ sind für das Lernen in Begegnung nicht relevant. Wenngleich die Schülerinnen und Schüler in der Frage der Historizität und Fiktionalität stets orientiert sein müssen, hängt die Echtheit der Begegnung vielmehr an der Intensität der Berührung. Da die so genannten „großen Vorbilder“ ihre Relevanz für religiöses Lernen nicht erst erweisen müssen, liegt es nahe, sie zuerst ins Auge zu fassen.3
  2. „Lernen in Begegnung“ ist die (prinzipiell symmetrische) Interaktion von Subjekten. Auch wenn Paulus nicht mehr lebt und sich schwerlich für jeden von uns interessiert hätte, ist er nicht als Lerngegenstand, sondern als Mensch zu inszenieren. Natürlich ist didaktisch zu fragen, was an Paulus exemplarisch gelernt werden kann. Personen aber sind immer mehr als austauschbare Träger von Handlungen oder Eigenschaften. Kern des Begegnungslernens ist daher die Inszenierung von unmittelbarer Kommunikation, das Agieren aus der Innenperspektive.
  3. „Lernen in Begegnung“ bleibt unvollständig, vorläufig und setzt die Bereitschaft zur Korrektur voraus. Das Bild einer zunächst fremden Person ist immer ein Entwurf, der bei Vorurteilen und Projektionen seinen Anfang nimmt und im Idealfall nach und nach zu einer vertrauten Beziehung führt. Wird das frei kommuniziert, ergibt sich die Chance eines offenen, vertiefenden Lernprozesses. Zugleich sind Pauschalurteile fehl am Platz. Statt Harmonisierungen oder einseitigen Zuschreibungen ist didaktisch immer die Frage einzubringen: „Könnte man es auch anders auffassen oder bewerten?“
  4. „Lernen in Begegnung“ ist perspektivisch, legt das durchgängig offen und gibt Raum zur Reflexion. Die subjektive Wahrnehmung des Gegenübers ist mit Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ nicht zu erfassen. Allerdings kann sich im Austausch mit anderen Perspektiven nach allgemeinen Plausibilitätskriterien ergeben, dass sich ein Bild oder Urteil als verzerrt herausstellt. Die Perspektivität wird sowohl durch Reflexion (Wie habe ich die Begegnung wahrgenommen?) als auch durch Perspektivenpluralität für alle erkennbar. Methodisch-didaktisch ist beides nicht zuletzt durch Identifikationsangebote von Dritten zu stimulieren. Die Lehrerperspektive hat nicht per se Deutungshoheit.
  5. „Lernen in Begegnung“ muss nicht chronologisch erfolgen.
    Wenn wir Menschen kennen lernen, nehmen wir sie in ihrem gegenwärtigen Da-Sein wahr. Nur in Bezug auf diese Gegenwart hat Vergangenes Bedeutung. „Wann und wo bist du geboren?“ ist nicht unsere erste Frage. Es gehört somit zur didaktischen Freiheit (und Chance), Begegnungen abweichend von einem strikt chronologischen Vorgehen zu ermöglichen.
  6. „Lernen in Begegnung“ legt Wert auf Emotionalität.
    Da wir in Begegnungen durch Identifikation oder Ab­grenzung stets persönlich involviert sind, spielen Emotionen eine besondere Rolle. Natürlich kann mich eine Person auch kalt lassen. Aber im Unterschied zu „Es langweilt mich.“ ist „Du langweilst mich.“ durchaus eine emotionale Spielart.
  7. „Lernen in Begegnung“ braucht ein Gesicht des Gegenübers.
    Personsein ist an Geist und Leib gebunden. Begegnung gelingt, wenn ich den anderen in seiner Ganzheit vor Augen habe. Da der leibhaftige Paulus (oder ein anderes Gegenüber) nicht zur Verfügung stehen, muss der Unterricht die leibliche Dimension kompensieren. Entscheidend ist, dass die Lernenden sich dessen Anwesenheit ausgesetzt fühlen. Der Lebensstil und die prägenden Erfahrungen von Menschen zeichnen sich körperlich ab. So verweist der Leib als räumlicher Ausdruck nicht zuletzt auf die in ihm gespeicherten Erfahrungen: Paulus Beinen etwa wird man seine langen Missionsreisen abspüren können.
  8. Als didaktisches Modell erfordert „Lernen in Begegnung“ Fiktion und Fantasie. Begegnung ist, wenn sie nicht künstlich wirken soll, auf Kontextualisierung angewiesen. Die Schule ist nicht das Leben. Kontexte und Emotionen, Leiblichkeit und Kommunikation sind im Rahmen von Unterricht nicht ohne Fantasie und Aktivität zu haben – von Lehrenden wie von Lernenden.

 

Lernen mit Lebensbildern. Ein Modell für die Praxis

Die Grundsätze des Begegnungslernens lassen sich auf vielfältige Weise didaktisch arrangieren. Ein konsequentes Modell ist das „Lernen mit Lebensbildern“. Modellcharakter hat es, weil es noch vor der inhaltlichen Schwerpunktsetzung oder Personenauswahl eine bestimmte didaktisch-methodische Form der Inszenierung beschreibt. Das Modell lässt sich in kurzen Zügen so zusammenfassen.

Die Grundidee besteht, der Intention einer „Begegnung auf Augenhöhe“ folgend, in der leiblichen Repräsentation einer Person durch ein lebensgroßes Plakat, ein Lebensbild, das im Idealfall während der Unterrichtssequenz im Klassenraum verbleibt. Die Darstellung ist einfach gestaltet und auf dynamische Ingebrauchnahme angelegt. Sie bezweckt keine genaue, detailreiche Visualisierung, sondern stellt als „mitwachsendes Poster“ eine offene Projektionsfläche dar.Der Lernzuwachs der Schülerinnen und Schüler bildet sich schon allein dadurch progressiv ab, dass die anfangs fremde Person anders wahrgenommen wird als die vertrautere am Ende der Sequenz.

Um das äußerlich sichtbar zu machen, kann die Person zum jeweils geeigneten Zeitpunkt mit Accessoires ausgestattet oder anderweitig gestaltet werden. Schon die bloße Anordnung von Unterrichtsergebnissen aus produktionsorientierten Arbeitsphasen an der Wand bildet die Beziehungsentwicklung sukzessiv ab.

Wenn sich eine Unterrichtssequenz mit Lebensbildern als Inszenierung immer nur punktueller Kontakte versteht, die keiner Systematik oder Chronologie verpflichtet ist, stellt sich die Frage nach der Struktur einer solchen Sequenz. Da ein Begegnungsprozess in der Terminologie des gestaltpädagogischen Kontaktphasenmodells zur Unterscheidung von Kontaktaufnahme, Hauptkontakt und Nachkontakt nötigt, liegt eine dreiteilige Struktur nahe. Dabei eröffnen der Einstieg und vor allem die Verabschiedung hervorragende Gestaltungs- und Reflexionsmöglichkeiten. Man kann jemanden gut, aber niemals endgültig und abschließend kennen lernen. Und den meisten Personen begegnet man im Leben später einmal wieder. Wer sein persönliches Paulus-Bild in der Sekundarstufe I resümiert und in Abschiedsworte fasst, legt das Ende eines Fadens ab, der in der Oberstufe wieder aufgenommen werden kann. Eine zweite Möglichkeit der Strukturierung bietet der visualisierte Körper (siehe oben unter 7.). Jeder im Unterricht verhandelte biografische Aspekt hat in seiner personalen Anbindung auch einen leiblichen Bezug – oft in Affinität zu einem bestimmten Körperteil. Diesem Körperteil kommt, je nach Person und Aspekt, symbolischer Überschuss zu: Jesus hat heilende Hände, Abraham ein offenes Ohr für Gott.

Selbst wenn diese körpersymbolische Zuordnung auf den ersten Blick banal wirken mag, hat sie beträchtliche Effekte. Den Verlauf der Unterrichtsreihe zu visualisieren, fördert die Metakognition. Zugleich wird immer wieder der personale Bezug samt der leiblichen Dimension in Erinnerung gerufen. Dass die linear-chronologische Summierung einer Biografie zu kurz greift, dass Personsein vielmehr unzählige Facetten hat, wird sichtbar abgebildet. Hier kann (und muss) exemplarisch deutlich werden, was für das Begegnungslernen generell gilt: Die (körpersymbolische) Bedeutung ist nicht ontologisch gegeben, sondern wird zugeschrieben, und zwar am besten im Austausch mit der Lerngruppe.

Ein viertes und letztes Merkmal des „Lernens an Lebensbildern“ stellt das besondere Verhältnis von Perspektivität und Reflexion dar. Die Fiktion der leiblichen Präsenz einer Person zwingt nämlich dazu, die kategorial verschiedenen Zugangsweisen der Kommunikation in Begegnung einerseits und das Reden über die Person anderseits in ihrer Verschiedenheit kenntlich zu machen. Wer es durchhält, kann das Lebensbild in allen Reflexionsphasen verhängen und die Person damit „hinausschicken“, bevor man über sie redet. Für die direkte Kommunikation liegt es nahe, entsprechende Methoden zu aktivieren: Briefe, Dialogformen, situiertes Formulieren von Kritik oder Lob.

 

Paulus kennen lernen

Paulus als Lebensbild

Paulus wird von vielen Lehrerinnen und Lehrern gemieden. Die Gründe liegen auf der Hand: Niemand bestreitet seine Bedeutung, aber mit der kniffligen Quellenfrage, mit Datierungsschwierigkeiten und erheblichen historischen und soziokulturellen Verstehensvoraussetzungen ist er kaum „in den Griff“ zu bekommen. All das ist im Begegnungslernen mit Lebensbildern sekundär. Paulus ist gerade deshalb eine ideale Figur für einen vertiefenden, nicht abschließbaren Begegnungsprozess, weil Lehrerinnen und Lehrer ihre Pauluskenntnisse selbst als unvollkommen oder gar zu gering empfinden.

An der Person Saulus Paulus lässt sich so vieles festmachen, dass eine Unterrichtssequenz immer eine Auswahl trifft. Drei Lebensstationen oder Phasen würde er vermutlich selbst für zentral halten: Die Zeit als „eifernder“, gesetzestreuer Pharisäer bis zu seiner Lebenswende, seine Berufung und seine missionarische und theologische Tätigkeit nach der Berufung. Geht man von der Wirkung aus, kann man die Gemeindegründungen und das paulinische Gemeindeverständnis (samt der Konflikte), seine wortgewaltigen Briefe und vor allem die darin enthaltene Theologie hervorheben. Die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe bieten eine Fülle weiterer Ansatzpunkte, etwa den antiochenischen Zwischenfall oder das kirchengeschichtlich höchst bedeutsame Apostelkonzil. Wichtiger als Detailreichtum erscheint mir jedoch, die genannten Aspekte so auf die Person Paulus zu beziehen, dass Schülerinnen und Schüler in der Begegnung eine für sie relevante Fragestellung erkennen.4 In der Phase vor der Berufung kann der eifernde Paulus auf seine Versuche der Selbstverwirklichung und Selbstrechtfertigung befragt werden. Das bleibt ein durchgängiges Lebensthema des Apostels: Unermüdlich ist er in seiner Missionstätigkeit, hartnäckig beansprucht er das Superapostolat für sich und entwickelt parallel eine sola gratia-Theologie.Die Berufung ist zwar kein Bruch mit dem Judentum und daher keine Bekehrung, aber eine Lern-Geschichte, eine fundamentale Ein-Sicht, wie sie auch Jugendlichen zugänglich ist. Eine dritte schülerrelevante Fragestellung ergibt sich aus Paulus’ Verständnis von Gemeinschaft. Bei aller Tendenz zur Selbstrechtfertigung kann er nämlich seine Individualinteressen ganz dem Ziel unterordnen, die Menschen zusammenzubringen. Bemerkenswert ist dabei, dass dies keineswegs heldenhafter Selbstlosigkeit entspringt, sondern maßgeblich dem Glauben an Jesus Christus. In allem ist Paulus vielleicht besonders, aber keineswegs übermenschlich.

Die Berufung und das frühe pharisäische „Eifern“ sind nur in rückblickenden (Briefe) oder stark stilisierten Quellen (Apostelgeschichte) greifbar. Daher ist ein nicht chronologisches Vorgehen zunächst reizvoll. Kontraproduktiv wäre etwa ein Auftakt mit einer Übersicht über äußere Daten oder mit der Frage, in was für einer Familie Paulus geboren wurde. Das chronologische Prinzip ist jedoch insofern hilfreich, als man speziell bei Paulus sehr voraussetzungsreich einsteigen müsste.

Man kann das Lebensbild des Apostels auf ganz verschiedene Weise füllen. Ein Zuordnungsvorschlag der Aspekte zu Körperteilen geht aus Übersicht M 1 hervor.
 

Äußerungen über Paulus6

  • „Andere leben friedlich dahin, Paulus ist ohne Zweifel jeden Tag kurz vor dem Verprügeltwerden – oder eben auch kurz danach.“
  • „Paulus war ein Intellektueller.“
  • „Paulus war vor allem hellenistischer Jude. Am allermeisten liebte Paulus sein Volk.“
  • „Durch Paulus ist das Christentum ‚Weltreligion‘ geworden.“
  • „Anders als viele moderne fromme Leute kann Paulus nicht sagen: ‚Ich liebe Jesus.‘“
  • „Die tatsächliche Position des Paulus im frühen Christentum ist die eines Außenseiters.“
  • „Wie zeitgemäß ist heute sein Vorbild!“
  • „Paulus versteht es, Eigenschaften als Vorteile zu präsentieren, die bei einer öffentlichenPerson als Mängel gelten.“
  • „Er dürfte in seinem Auftreten eher unterwürfig gewirkt haben.

 

Zwei Unterrichtsbausteine

Wenigstens die ersten beiden Unterrichtsstunden seien hier skizziert.

In der Einstiegsstunde geht es um das Vorwissen zu Paulus, aber auch um Vorurteile und Projektionen, die das Lebensbild des Paulus auslöst. Die lebensgroße Figur, mit Thorarolle und Schreibfeder, wird still betrachtet.5 Die einzige mündliche Information besteht darin, dass die Person nicht zur heutigen Zeit gelebt hat. Anschließend bearbeiten die Schülerinnen und Schüler einen Schreibauftrag in Einzelarbeit: „Stell dir vor, du begegnest diesem Menschen. Schreibe auf, was dir unmittelbar vor dem direkten Kontakt durch den Kopf geht. Stelle Vermutungen darüber an, was für ein Mensch das sein könnte. Beziehe aber auch ein, was fremd oder vertraut, positiv oder eher negativ auf dich wirkt.“

Nach einer kurzen Auswertung identifiziert die Lehrerin die Person als Paulus. Es wird alles gesammelt, was die Lerngruppe an Assoziationen (und ggf. Wissen über) ihn zusammentragen kann. Je nach Ergiebigkeit dieser Phase kann eine Auswahl von Zitaten hinzugenommen werden (siehe Kasten), deren Widersprüchlichkeit ins Auge springt. Zwar lassen sich die Widersprüche erklären, ohne eine Äußerung als falsch ausscheiden zu müssen. Das Tableau zeigt aber vor allem, dass isolierte Sätze der Komplexität einer Person nicht gerecht werden können. Die Unterrichtsstunde bietet in allen Phasen zu geringe Anhaltspunkte, um mehr als Vor-Urteile zu produzieren. Das ist ein guter Stimulus für den weiteren Lernprozess und kann fruchtbar reflektiert werden.Es lohnt sich, die Vorurteile und Anfragen schriftlich, etwa auf OHP-Folie, festzuhalten und zu späterem Zeitpunkt der Reihe wieder aufzunehmen.

Nach der Einstiegsstunde wird das Lebensbild ohne Gegenstände präsentiert. Der erste inhaltliche Schwerpunkt gilt dem jungen Pharisäer. Am Ende der Stunde wird die Thorarolle ergänzt, indem die entsprechenden Blätter ausgetauscht werden. Das Ziel der Stunde besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler den paulinischen „Übereifer“ als Selbstrechtfertigungsversuch deuten und dies in direkter, angemessener Kommunikation ausdrücken können. Angemessen ist der Dialog mit Paulus dann, wenn die Tendenz zur Selbstrechtfertigung als falsch, aber menschlich erkannt wird. Eine tiefe Auseinandersetzung im Sinne von Begegnung wird dabei zunächst durch eine doppelte Fremdheit erschwert, die zum einen durch die jüdische Frömmigkeit, zum anderen durch die historische und damit ferne Lebenssituation ausgelöst wird. Beides müssen die Schülerinnen und Schüler zumindest ansatzweise erfassen. Anstatt nun reine Sachinformationen zu geben, sind die Voraussetzungen in M 2 situativ eingebettet und der Perspektive des jungen Paulus untergeordnet.

Grundsätzlich steht der den Eltern Bericht erstattende Jüngling den Schülerinnen und Schülern nahe. Aber auch Vater und Mutter, denen die Situation in Jerusalem unbekannt ist, bieten als Briefempfänger gute Rollen, um die Fremdheit von außen wahrzunehmen und zu verarbeiten. M 2 ist ein komplexes Material; der analytischen Aufgabe (1) und der Klärung von Fragen ist ausreichend Zeit einzuräumen. Sowohl die religiösen Gruppierungen als auch die zentralen Elemente jüdischer Glaubenspraxis sind allerdings Inhalte, die schon im Doppeljahrgang 5/6 behandelt werden. Die zweite Aufgabe zu M 2 bereitet die letzte vor. Der Rollenschutz durch die Gamaliel-Figur erleichtert die Herausforderung, sich direkt an Paulus zu wenden. Außerdem wird das Missverständnis vermieden, die Selbstrechtfertigung sei ein Problem speziell jüdischer Gesetzesobservanz.

Ein gutes Stundenabschlussritual wird ermöglicht, indem zwei Fußabdrücke aus Pappe auf den Boden gelegt oder geklebt werden. Sie veranschaulichen die Positionalität, aus der heraus am Ende einer Unterrichtsstunde die, die möchten, ihre (Zwischen-)Eindrücke und Veränderungen in Du-Form formulieren können. Wenn die Lernenden auch ihrem Gegenüber etwas mit auf den Weg geben dürfen, dann ist biografisches Lernen keine moralisch asphaltierte Einbahnstraße, dann entsteht Begegnung und Beziehung, dann wird, mit Bubers Worten, das Ich am Du.

 

Paulus

M 2

Paulus ist aus seiner Heimatstadt Tarsus nach Jerusalem gekommen, das etwa 600 km entfernt ist und das heilige Zentrum der Juden darstellt. Paulus schildert seinen Eltern die Eindrücke:

Seid gegrüßt, ihr Lieben!
Nun habe ich schon dreimal das Passahfest in dieser Stadt gefeiert, und doch bin ich überwältigt wie am ersten Tag! Auch wenn ich bei euch so vieles über den Gott unserer Väter erfahren habe: Hier ist man als Jude erst zu Hause. Welch ein Wunder ist dieser Tempel! Wenn ich oben auf dem Vorhof stehe neben den gewaltigen Mauern, spüre ich die Nähe JHWHs.

Gamaliel ist ein weiser Lehrer. Ich sauge jedes seiner Worte in mich auf. Natürlich lerne ich jeden Tag ein Stück aus der Thora auswendig, und ich beherrsche sie schon weit besser als die anderen Schüler. Wie klar zeigen uns ihre Regeln und Gesetze, wie wir JHWH die Ehre erweisen können! Doch wie man sie im Alltag leben kann, darüber müssen wir streiten, wenn wir es zu etwas bringen wollen. Denkt nur, manche, die sich Sadduzäer nennen, die pochen Wort für Wort auf die Thora. Die meisten von ihnen halten sich für etwas Besseres, nur weil sie reich und bei den Römern gern gesehen sind. Und weil sie opfern dürfen. Doch an die einfachen Juden, die Handwerker und Bauern, denken sie nicht.

Wie viele hier nennen sich Juden und lassen sich doch gehen wie Tiere ... Ihr habt mich gelehrt, nichts Blutiges zu verzehren. Aber jetzt weiß ich: Das reicht nicht aus, um rein zu bleiben. Und selbst unter uns Pharisäern sind manche, die JHWH keine Freude machen dürften. (Sollen sie selbst sehen, wo das endet!) Doch hassen würdet ihr die Leute um Petrus und seine Freunde, die sich als „Jünger des Messias“ ausgeben. Ihr wisst ja von dem Wanderprediger, den man ans Kreuz geschlagen hat. Er lebt, so sagen sie, und sei der Christus, der Gesalbte. Sie treten das Gesetz mit Füßen. Sie wollen Juden sein und lästern JHWH! Das lasse ich nicht zu, darauf steht die Todesstrafe! Gesteinigt haben wir schon einige. Gamaliel bleibt dazu oft merkwürdig stumm. Sieht er dieses Unrecht denn nicht? Vielleicht ist er zu alt und hat nicht mehr die Kraft … 

Eins ist sicher: Ich bin bereit, wenn unser Retter kommt. Ich werde ihm gefallen. Ich habe meine Schwächen gut im Griff. Ich kämpfe diesen Kampf … und ich gewinne. Ich bin schon gut, und werde noch perfekt. Ihr könnt stolz auf mich sein!

Möge JHWH Gefallen an uns finden. Es grüßt euch
Saulus Paulus

Aufgaben:

  1. Fasse zusammen, worin sich einzelne jüdische Gruppierungen unterschieden und was alle gemeinsam hatten. Notiere deine Fragen.
  2. Paulus will „der Beste sein“. Überlege, inwieweit du das von Menschen in deiner Umgebung oder sogar von dir selbst kennst. Vergleiche mit der Situation des Paulus.
  3. Gamaliel ist auch Pharisäer, aber offenbar auf andere Weise als sein Schüler. Er hat ihn genau beobachtet und spricht ihn eines Tages behutsam an: „Paulus, ich möchte mit dir reden. Mir ist aufgefallen, …

Schreibe weiter, was Gamaliel seinem Schüler zu sagen hat.

 
Anmerkungen

  1. Martin Buber: Ich und Du, Stuttgart 1995 (1. Auflage 1923), 12.
  2. Vgl. etwa Hans Mendl in diesem Heft, 54.
  3. Genau umgekehrt argumentiert Mendl, der aber auch von „Helden“ und „Vorbildern“ spricht, a.a.O., 55.
  4. Vgl. auch Joachim Jeska: Neue Wege mit Paulus. Perspektiven für die Auseinandersetzung mit dem Apostel im Religionsunterricht, Loccumer Pelikan 4/2008, 153-159, hier 155.
  5. Unter www.rpi-loccum.de/pelikan steht die Figur zum Down­load zur Verfügung. Die neun Blätter müssen nur im DIN A3 Format ausgedruckt oder von A4 auf A3 kopiert und zusammengesetzt werden. Das Gesicht ist einem Paulus-Phantombild nachempfunden, dass das Landeskriminalamt NRW 2008 im Auftrag des Historikers Michael Hesemann erstellt hat, vgl. http://www.gratis-webserver.de/paulusjahr/26.html, letzter Aufruf 11.04.2011.
  6. Die Quellen der Zitate in der angegebenen Reihenfolge: (1) Klaus Berger: Paulus, München 2002, 79, (2) Alexander Smoltczyk: Mit Leib und Seele, in: Der Spiegel 28/2009, 137f., hier 138, (3) Klaus Berger, a.a.O. 19.34, (4) Heinz Zahrnt: Jesus aus Nazareth. Ein Leben, München 41991, 247, (5) Klaus Berger, a.a.O. 35, (6) Klaus Berger, a.a.O. 37, (7) Papst Benedikt XVI., Ansprache zur Eröffnung des Paulus-Jahres am 28. Juni 2008 in der Basilika Sankt Paul, (8) E. P. Sanders: Paulus. Eine Einführung, dt. Stuttgart 1995, 23. (9) Markus Schiefer Ferrari: (Mit) Paulus anders wahrnehmen lernen. Chancen für den schulischen RU, Religionsunterricht heute 02/2008, 13-17, hier 15. Die Zitate (6), (8) und (9) habe ich in der Satzstellung leicht angepasst.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2011

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