Biblische Annäherungen an den Kirchenraum*

von Ulrich Becker

 

Für Friedrich Johannsen zum 60. Geburtstag

Kirchenpädagogik, Kirchenraumpädagogik hat eine längere Vorgeschichte. Ob sich schon einmal jemand daran gemacht hat, sie aufzuarbeiten, weiß ich nicht. Von einem Stück Vorgeschichte, wie sie mir begegnet ist, möchte ich zu Anfang erzählen:

Es war 1985, in den letzten Monaten meiner Tätigkeit beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Ich war von Genf nach Naumburg in die damalige DDR abgeordnet worden, um während des Sommersemesters an der dortigen kirchlichen Hochschule bei der Ausbildung von Pastoren mitzuwirken. Das Seminargebäude lag gegenüber dem alten, ehrwürdigen Naumburger Dom – nur einen Steinwurf entfernt von den Gebäuden des fast ebenso ehrwürdigen Domgymnasiums, in dem damals russische Soldaten kampierten. Naumburg ist von jeher eine alte Garnisonsstadt; damals war die Stadt voller Soldaten und Offiziere der sowjetischen Streitkräfte. Mein täglicher Weg zum Theologischen Seminar verlief zwischen dieser alten Schule, die nun Soldaten-Unterkunft war, und dem Dom.

Der Dom mit seinen Schätzen ist weithin bekannt. So interessierten sich damals, 1985, auch viele Besucher für ihn, die normalerweise nicht in eine Kirche gehen. Gruppen aus Schulen und Ferienlagern, aus Betrieben und Kombinaten erschienen zuhauf. Ideologisch wurde das unter dem Stichwort ‚Erbe-Rezeption‘ verbucht. Die, die da kamen, kamen mit großer Neugier. Oft war das besonders für die Jüngeren unter ihnen eine Erstbegegnung mit Kirche überhaupt. Nichts war ihnen vertraut oder bekannt. Das galt erst recht für die Gruppen sowjetischer Offiziere und deren Angehörigen oder von Mitgliedern von Delegationen aus sog. ‚sozialistischen Bruderländern‘, auf deren Besuchsprogramm auch der Naumburger Dom stand.

Ausgestattet waren diese Gruppen natürlich mit einer Dolmetscherin, aber geführt wurden sie im Dom von Theologiestudierenden des Theologischen Seminars oder von Angehörigen der Jungen Gemeinde, die sich in der Domgeschichte und ihren Kunstwerken aufs beste auskannten.

Da stand also eine Gruppe sowjetischer Militärs (in voller "Kriegsbemalung") im Schiff des Doms, den Ostchor im Rücken und auf den Westlettner blickend, auf jene Mauerschranke, die ursprünglich einmal dafür gedacht war, den Westchor mit den sog. Stifterfiguren von der Gemeindekirche zu trennen.

Dieser Lettner ist im oberen Teil auf seiner ganze Länge hin geschmückt durch einen Passionsfries, beginnend von links mit der Szene des Abendmahls, gefolgt von der Auszahlung des Lohnes an Judas, danach Verrat und Gefangennahme Jesu, Verleugnung des Petrus; daran anschließend die Gerichtsverhandlung vor Pilatus, die Geißelung und der Weg zum Kreuz. Das Kreuz selbst, das in anderen alten Kirchen als Triumphkreuz hoch über dieser Chorschranke steht, ist in diesem Falle nach unten gezogen, bildet eine Tür in der Mitte des Lettners, so dass alle, die durch diese Tür in den Westchor eintreten wollen – in diesem Falle also auch die sowjetischen Besucher – unter den Armen des Gekreuzigten hindurch gehen müssen. Das war, zumindest für den Beobachter, ein sehr ausdruckskräftiges Bild – aber was wussten damals die Besucher von dem, was sie da sahen und taten? Sie wussten nicht mehr und nicht weniger als ihnen bei der Besichtigung und Deutung des Passionsfrieses erzählt worden war: die Geschichte des Jesus von Nazareth, der von seinen Anhängern mit einem letzten Mahl Abschied nimmt, der verraten, von Pilatus verurteilt, verspottet, schließlich zur Richtstätte geführt und hingerichtet wird – warum?

Nun das, was damals den Besuchern gesagt wurde, auf eine kurze und sehr vorläufige Antwort gebracht: weil er die Menschen liebte.

Wie sollte man diese Bilder einschließlich des Gekreuzigten mit den ausgestreckten Armen, unter denen hindurch alle weitergehen mussten, anders erklären, als dass man diese in den Stein geschriebene Geschichte so nacherzählte?

Für viele, die damals (und heute) den Naumburger Dom besuchen und die die Passionsgeschichte anhand dieser alten in Stein gemeißelten Einzelszenen erzählt bekommen, ist das ein allererster Zugang zur biblischen Überlieferung gewesen. Natürlich ist die Situation, in der heute kirchenpädagogische Arbeit getan wird, etwas (sehr?) anders. Auf jeden Fall ist sie jetzt oft eingebettet in schulpädagogische Bemühungen im Rahmen des Religionsunterrichts, im Rahmen von Projektwochen, Freiarbeit, Exkursionen oder in gemeindepädagogische Bemühungen im Rahmen von Kinderarbeit, Konfirmandenunterricht, Jugendarbeit, vielleicht auch Erwachsenenbildung. Dennoch: Wenn ich im folgenden näher an das mir gestellte Thema herangehe, kann ich es nicht tun, ohne mich dieser Naumburger Erfahrungen, die mich damals sehr bewegt haben, zu erinnern und ohne auch ein Stück weit an sie anzuknüpfen.

Immer wieder wird sich auch heute, ähnlich wie damals in Naumburg, die Frage stellen, wie denn im Rahmen der verschiedenen Formen von Kirchraum-Erkundungen eine Verbindung zwischen Bild und dem Text, zwischen den in einem Fries, in einem Relief, auf einem Altarbild gestaltgewordenen biblischen Erzählungen und den Erzählungen selbst, wie sie in der Bibel überliefert werden, hergestellt werden kann. Drängen diese Darstellungen nicht oft geradezu danach, dass zu ihrer Interpretation die Texte zu Rate gezogen werden? Und wenn ja, wie geschieht das? Darum soll es im folgenden gehen.

Eine erste Überlegung: Wir kehren dazu der Einfachhalt halber noch einmal zu dem Westlettner im Naumburger Dom zurück.1 Mit der Erklärung der Funktion eines Lettners und mit dem Aufzeigen formaler Einzelheiten und einer elementaren Stilanalyse ist das Wesentliche des durchkomponierten Kunstwerks sicher nicht erfasst. Es wird in unserer Arbeit und im Blick auf unsere Gruppen, mit denen wir davor stehen oder sitzen, darum gehen müssen, den tieferen Sinnzusammenhang des Ganzen zu erschließen. Dass ein solcher Sinnzusammenhang besteht, das drängt sich eigentlich auch dem unbefangensten Besucher auf. Aber wie erschließen wir ihn?

In der konkreten didaktischen Arbeit müssen verschiedene, auch unterschiedlich zu gewichtende Faktoren berücksichtigt werden: die Altersstufe, die Schulart, vor allem die Vertrautheit mit dem Kirchenraum und den religiösen und kirchlichen Handlungen, die darin stattfinden, sicher auch die zur Verfügung stehende Zeit, auch die Jahreszeit (Kirchenjahr!) und die Tageszeit (Licht!), und natürlich die Vertrautheit mit der biblischen Überlieferung. Alle diese Gesichtspunkte kann ich jetzt kaum in Anschlag bringen, und doch werden sie bei der konkreten Arbeit eine wichtige Rolle spielen. Hier muss es jetzt um mehr grundsätzliche Überlegungen gehen.

Um diesen Passionsfries zu verstehen, muss man die Passionsgeschichte kennen. Entweder setzt man ihre Kenntnis voraus und man wiederholt sie sozusagen noch einmal mit Hilfe der in den Stein gemeißelten einzelnen Szenen, Schritt für Schritt: das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern, das Abendmahl, wie wir sagen, etc. – oder man entschließt sich, diese Geschichte für die ganze Gruppe erst einmal zu erzählen – zu erzählen, nicht vorzulesen.

Das setzt voraus, dass die, die jetzt erzählt, diese Geschichte auch kennt, entweder weil sie sie im Kopfe hat oder weil sie sie noch einmal in einem der vier Evangelien oder in einer guten Kinderbibel nachgelesen und sie sich auf diese Weise erarbeitet hat. Daher weiß sie, dass die vier Evangelien bei aller Übereinstimmung die eine oder andere Szene unterschiedlich darstellen oder gar ganz weglassen. Die Künstler, die biblische Szenen darstellen, gehen oft von einer Art Evangelienharmonie aus, ebnen die Unterschiede ein, als gäbe es nur eine einzige Geschichte. Die Bibel aber kennt vier Passionsgeschichten – und das muss man natürlich im Auge haben:

Dass es Petrus ist, der einem von denen, die Jesus gefangen nehmen, das Ohr abschlägt (so die 2. Szene am Fries) erzählt z. B. nur der 4. Evangelist, der diesen Häscher noch dazu beim Namen nennt: Malchus. Oder dass Pilatus sich zum Zeichen seiner Unschuld die Hände wäscht (4. Szene am Fries), findet sich nur in der Passionserzählung des Matthäus wieder. Und dass Maria, die Mutter Jesu, und der Jünger, den Jesus lieb hatte und den die Tradition in Johannes wiederfindet, unter dem Kreuz stehen, berichtet wiederum nur der 4. Evangelist.

Es macht also keinen Sinn, sich nur an einem Evangelisten zu orientieren, wenn man sich anschickt, die Passionsgeschichte nachzuerzählen.

Aber warum überhaupt erzählen? Könnte man am Ende nicht doch einfach eine zusammenfassende Geschichte vorlesen? Manche werden das möglicherweise als die einfachere Lösung ansehen. Aber es widerspricht einem kirchenpädagogischen Ansatz, so zu verfahren. Denn alle kirchenpädagogische Arbeit geht davon aus, dass christliche Religion primär über ‚Begehung‘ erlernt wird. Man begibt sich in ein Gebäude, in einen Raum, in eine Kirche – und begeht sie. Zu solcher ‚Begehung‘ gehört aber das Erzählen. Das unterstreicht sehr nachdrücklich Christoph Bizer, wenn er im Blick auf das Erzählen einer biblischen Geschichte sagen kann:

"Die Begehung braucht eine Person, die sie gewährleistet. Sagen wir ruhig: den Zeremonienmeister, der über sie wacht und für sie gerade steht. ... Er erzählt plastisch. Erzählen hat viel mit einem kultischen Akt gemein. Davor liegt eine Schwelle; erst muss es ruhig sein. Alle Beteiligten sind einverstanden, dass jetzt erzählt wird. Dafür können sie sicher sein, dass so erzählt wird, dass alle mitgehen können. Erzählen und erzählt bekommen sie ein Fest.

Im Vorgang des Erzählens wird über die Ohren eine Erzählstrecke gegangen. Der Schluss wird klar markiert: Ite, missa est. Die Erzählung stellt in ihrem Verlauf eine Ganzheit dar, die jetzt nur diese Form haben kann. Anders ist jetzt nicht heranzukommen. Jesus wird als Heiland erfahren, sehr indirekt und unaufdringlich, auch nicht absichtlich gemacht, etwa mit Druck, sondern in theologischer Verantwortung, in Übernahme der Vorlage aus der Heiligen Schrift. Es ist mir gar keine Frage, dass im Vorgang des Erzählens das Christliche konkret gemacht ist. Aber es ist Unterricht. Und das heißt: Als Lehrer bin ich dafür verantwortlich, dass jeder Schüler und jede Schülerin aus der Verwicklung mit der Heilandsfigur jederzeit wieder herauskommen kann."2

In unserem Falle: Das Christliche wird sehr konkret in dem Kreuz inmitten des Lettners: mit den ausgebreiteten Armen des sterbenden Jesus, unter denen sie alle hindurchgehen müssen, Fromme und Nichtfromme, Christen und Nichtchristen, ob sie wollen oder nicht. Aber niemand wird durch diesen gemeinsamen Gang einfach vereinnahmt.

Meine zweite Überlegung: Die Brücke vom Bild zum Text ließe sich aber auch noch auf eine andere Weise herstellen. Gerade dann, wenn man sich noch einmal in die Passionserzählung der vier Evangelisten vertieft hat, um sie nachzuerzählen, stellt sich einem unwillkürlich die Frage: Warum hat der Künstler, dieser Naumburger Meister, ausgerechnet diese fünf oder sechs Szenen für seine Bearbeitung aus der Erzählung ausgewählt?

Lässt man die verschiedenen Stationen der Passion Jesu an seinem inneren Auge vorüberziehen, stellt sich die Frage, was hat den Künstler bewogen, gerade diese Szenen auszuwählen und dann auch noch so pointiert zu gestalten? Dass er sie zugespitzt gestaltet, lässt sich erst durch eine genauere Interpretation der einzelnen Szenen deutlich machen. Die ist nicht einfach zu leisten. Aber dies kann man mit Schülerinnen und Schülern sicher besprechen: Sind das auch für uns die Höhepunkte, die "Knackpunkte" dieser Erzählung?

Fragen wir: Was könnte ein Gespräch mit denen, denen der Zugang zu einem solchen Brückenschlag vom Bild zum Text eröffnet worden ist, ergeben?

Es fällt auf, dass in allen Szenen der Gegensatz des Schuldiggewordenen gegenüber dem Unschuldigen in den Mittelpunkt rückt: Jesus reicht dem Judas den Bissen Brot und kennzeichnet ihn als seinen Verräter; Judas empfängt seinen Verräterlohn von dem Hohenpriester, dem seine Berater heimlich ins Ohr tuscheln; Petrus, voll ohnmächtiger Wut über das Geschehene, wird gewalttätig: Jesus weist das zurück; Petrus verleugnet Jesus; Pilatus fällt den Richterspruch und will doch nichts damit zu tun haben; er wäscht seine Hände in Unschuld. Das meint doch: Menschen laden Schuld auf sich, indem sie verraten, verfolgen, verhaften und anklagen, während der Angeklagte in Wahrheit der Schuldlose ist, der einen grässlichen Tod sterben muss. Aber noch in seinem Tod ist dieser Schuldlose, so wie er es in seinem Leben war, den Menschen ganz zugewandt, ganz nahe. Das Kreuz steht mitten unter ihnen, der Kreuzesbalken wird zum Türbalken für eine Tür, die ins Offene führt; und wer darunter hindurchgeht, der kann aufatmen, die kann frei sein.

Ob ein Gespräch am Ende bis zu solchen Aussagen, in denen das Christliche konkret wird, vordringen kann, ohne dass – um noch einmal Bizer zu zitieren3 – jeder Zuhörer, jede Zuhörerin aus der Verwicklung mit der  Heilandsfigur wieder freikommt? Das hängt sicher von vielen unterschiedlichen Voraussetzungen und Faktoren ab; dazu zählen die Altersstufe, die Vertrautheit der Schülerinnen und Schüler mit einigen grundlegenden biblischen Texten, ihre Kenntnis des Kirchenjahres und bestimmter kirchlicher Vollzüge etc. Aber dass sich auf die beschriebene Weise für die Kirchenpädagogin und für ihre Gruppe ein neuer Zugang zu biblischen Texten eröffnen lässt, davon bin ich überzeugt.

Unter Umständen lässt er sich sogar mit älteren Schülern noch weiterführen. Denn so wie der Künstler, in diesem Falle der Naumburger Meister, ein Stück Interpretation des Passionsgeschehens vorlegt, so machen das schon die Evangelisten. Sie berichten nicht, sie gestalten. Dies lässt sich ohne große exegetische oder theologische Vorkenntnisse herausfinden. Wer nachliest, der entdeckt, dass wenigstens drei der Evangelisten dem sterbenden Jesus ein anderes letztes Wort in den Mund legen: Markus und Matthäus: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" (Mk. 15,34; Mt. 27,46 ) – Lukas: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist" (Lk. 23,46) – Johannes: "Es ist vollbracht" (Joh. 19,30). Jeder von diesen dreien interpretiert auf diese Weise, wie der Naumburger

Meister, und setzt im Verständnis von Leben und Sterben Jesu auf einen anderen, für ihn und seine Leser wichtigen Akzent.

Dritte Überlegung: Es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Dialog zwischen Bild und Text ein Stück weit voranzutreiben. Wir wählen dazu eine Szene aus diesem Fries, an der sich das gut beispielhaft verdeutlichen lässt: die Abendmahlsszene.

Was könnte sich aus einem Vergleich dieser Szene mit dem dahinterstehenden biblischen Text, also der Erzählung vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern, ergeben? Der biblische Bericht nach einem der drei ersten Evangelien (Johannes hat keine Abendmahlsgeschichte im engeren Sinne, sondern erzählt nur von einer normalen Mahlzeit) müsste dazu präsent sein, etwa wieder in Form einer Erzählung oder als Text, den die Heranwachsenden vielleicht sogar in der Hand haben.

Bei der in Stein gehauenen Szene fällt auf, dass der Künstler die Hälfte der Figuren weglässt. Außer der Jesusgestalt in der Mitte sind nur fünf seiner Jünger, nicht zwölf zu sehen – offensichtlich die vier, die als erste in die Jüngerschaft berufen wurden: links Petrus und Johannes, der Lieblingsjünger, rechts Andreas und Jakobus. Dazu im Vordergrund, vorn auf der linken Seite Judas – mit dem Rücken zum Betrachter und tiefer gesetzt als die anderen und doch, wie wir schon sahen, in bedeutungsvoller Weise in diese Tischgemeinschaft einbezogen: Er erhält von Jesus den Bissen, der ihn als den Verräter kennzeichnet.

Es sind sehr wahrscheinlich Platzgründe, die den Künstler dazu veranlassen, diese Tischgesellschaft auf sechs Personen zu reduzieren. Ich sage bewusst Tischgesellschaft – in der Tat wird hier kein feierliches Mahl gehalten werden, keine Gebetsworte über Brot und Wein gesprochen, sondern es wird geschmaust und getrunken, wie es zur Zeit des Künstlers wahrscheinlich in den Bauernstuben üblich war – oder wie das Abendmahl in der Gemeinde gefeiert wurde, in der der Künstler zu Hause war. Vieles deutet darauf hin, dass er den Waldensern nahe stand, einer vorreformatorischen Bewegung, die im scharfen Gegensatz zur Priesterkirche auf Reformen drang und sich für die Mitwirkung der Laien einsetzte. Bei den Waldensern war es üblich, das Abendmahl mit einem Brot zu feiern, das in Kuchenform gebacken und mit dem Messer in Scheiben geschnitten wurde. Ferner gebrauchten sie nicht den kostbaren Priesterkelch, aus dem eigentlich nur der Priester trank, sondern sie benutzten ein krugartiges Gefäß, das unter den Brüdern und Schwestern reihum ging. Und neben dem Brot aßen sie bei diesem Abendmahl, der Geschichte von der Speisung der 5000 folgend, auch Fische, die hier ganz rechts auf dem Tisch zu sehen sind. Der Jünger rechts außen greift gerade mit der Hand nach einem von den Fischen, die in der zweiten Schüssel liegen.

Die Brücke von dieser Abendmahlsgesellschaft zum biblischen Text zu schlagen, bedeutet also, auf Unterschiede aufmerksam zu werden, die jemanden die Ursprungsgeschichte des Abendsmahls in den Evangelien neu lesen lässt. Es bedeutet ferner, die Feier des Abendmahls zur Zeit des Naumburger Meisters oder einer vorreformatorischen Bewegung wie die der Waldenser in den Blick zu bekommen und darüber hinaus mit Hilfe des Dialoges zwischen biblischer Erzählung und dem Naumburger Bild die Frage nach dem Sinn dieses besonderen Mahles neu zu stellen oder – denken wir jetzt an unsere Schülerinnen und Schüler – gar zum ersten Male danach zu fragen. Ist dieses Abendmahl ein liturgisch festgefügtes Erinnerungsmahl, das reduziert auf eine Hostie oder auf ein kleines Stück Brot und einen Schluck Wein mit ernster Miene feierlich gefeiert wird – oder ist es auch ein Sättigungsmahl, wie es zur Zeit Jesu und noch des Paulus (1Kor 11,17-34) begangen wurde, bei dem jede, jeder auch fröhlich schmauste und satt wurde? Und wenn es einen Zusammenhang zwischen dem letzten Mahl Jesu und dem Sattwerden gibt, wie steht es um unser Miteinander-Teilen angesichts der Tatsache, dass die einen essen bzw. genug oder mehr als genug zu essen haben und die anderen hungern müssen?

Sie sehen, wohin ein solcher Dialog zwischen Bild und biblischem Text führen kann.

Diese drei Beispiele zeigen, dass alle kirchenpädagogische Arbeit einen Schlüssel in der Hand hält, um Menschen diese alten Texte neu zu erschließen. Sicher gibt es noch weitere, vielleicht auch noch viel bessere. Kirchenpädagoginnen sind erfindungsreich und kreativ genug, um neue zu entdecken oder sich zu erarbeiten. Es ist aber wichtig, in diesem Zusammenhang immer zwei Dinge im Blick behalten:

  1.  Man sollte versuchen, so unbefangen wie möglich an diese alten Texte heranzugehen und sich nicht durch die Fülle an exegetischer Literatur kopfscheu zu machen. Die Bibel ist nicht nur Spezialisten zugänglich. Gerade in der Arbeit mit Kindern oder in der Auseinandersetzung um die Überlebensfragen der Menschheit haben wir wieder gelernt, dass sich die Bibel sehr einfach und ganz unmittelbar sachgemäß verstehen lässt. "Ein solches Verstehen bringt viel in Bewegung, lässt Blinde sehen und Lahme wieder gehen."4
  2. Die Bibel ist kein Buch der Lehre, sondern ein Buch des Lernens. Das bedeutet, dass wir mit Fragen an sie herangehen, dass wir uns von ihren Antworten auf einen Weg setzen lassen, auf dem wir selbst Antworten finden. Wer in der Bibel nach einer Lehre sucht, der wird enttäuscht. "Eine Lehre verlangt eine widerspruchsfreie Entfaltung, doch wer in der Bibel ein widerspruchsfreies System der Lehre sucht, wird durch die Vielfalt der biblischen Stimmen und durch ihren Widerspruch untereinander nur verwirrt. Wer sich aber darauf einlässt, von ihnen in diesen Lernprozess einbezogen zu werden, der empfängt eine Fülle von Impulsen, die ihn auf immer neue Wege des Lernens bringen."5 Das habe ich ein Stück weit zu zeigen versucht.

 

Anmerkungen

  1. Das Buch von Paulus Hinz, Der Naumburger Meister. Berlin 1952, aus dem ich eine Reihe von Anregungen geschöpft habe.
  2. Christoph Bizer, Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995, S. 183
  3. a.a.O.
  4. Ingo Baldermann, Einführung in die Bibel, Göttingen 4. Aufl. 1993, S.6
  5. a.a.O. S. 25

 *Vortrag beim 2. Treffpunkt Kirchenpädagogik, 28./29.02.04 in Loccum

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2005

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