Virtuelle Gespräche über Gott und die Welt

Von Stephan Lorenz

 

www.chatseelsorge.de


Peter Vorderer veröffentlichte 2015 in der Zeitschrift Publizistik den Artikel „Der mediatisierte Lebenswandel, permanently online, permanently connected“1. Die Hauptthese des Artikels lautet: Der Alltag, das Leben – Privates wie Berufliches, innere Einkehr wie Zuwendung nach außen – mediatisiere sich, zunehmend würden Handlungen unter Zuhilfenahme von Online-Kommunikation durchgeführt. Der Mensch von heute – und zumal der von morgen – denkt, fühlt, erlebt und handelt in der Erwartung, „permanently online, permanently connected“ (POPC) zu sein oder doch zumindest sein zu können. Die Auswirkungen werden in Bezug auf Veränderungen im Problemlösungs- und Arbeitsverhalten, im Blick auf Beziehungen und das Beziehungsverhalten, bezüglich der Verschiebung menschlicher Bedürfnisse und auch hinsichtlich Veränderungen des menschlichen Selbst diskutiert. Die Autoren des Artikels behaupten, ein neuer Lebenswandel entstehe, der veränderte Beziehungswünsche generiere bzw. sich aus bestimmten Beziehungswünschen nähre. POPC habe Einfluss auf die Herausbildung unseres Selbstbildes.
 


Chatseelsorge ist Ausdruck mediatisierten Lebenswandels

Kirchliche Seelsorgeangebote wie die Chatseelsorge, aber auch der Chat der Telefonseelsorge, Beratungs-, ja sogar Therapieangebote sind längst Teil der mediatisierten Lebenswirklichkeit. Seit über zehn Jahren gibt es eine „Deutschsprachige Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung“ (DGOB) mit eigener Zeitschrift und ein jährliches Fachforum zur Onlineberatung. Das Fachforum gilt als Treffen der wichtigsten Beratungsanbieter im deutschsprachigen Raum – Entwicklungen, die von den Entscheidungsträgern in den Kirchen wenig wahrgenommen werden.

Die medialen Angebote werden vornehmlich von jungen Menschen, den sogenannten „Digital natives“, angenommen, weil ihnen der Gebrauch von Smartphone und Tablet seit Kindertagen vertraut ist. Inzwischen hat die Mediatisierung allerdings längst das Leben auch der anderen Altersstufen erreicht. Seelsorge im Netz wird genutzt. Eine Ausweitung scheitert nicht an der Nachfrage, sondern an der zu geringen Zahl der Mitarbeitenden. Sie sind als hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter*innen, Pastor*innen, Diakon*innen, und Berater*innen aus kirchlichen Beratungsstellen ehrenamtlich tätig. Alle haben langjährige Erfahrungen in der Gemeindeseelsorge oder Seelsorge in anderen Feldern. Fast alle haben eine seelsorgerliche oder beraterische Zusatzqualifikation. Die Themen, mit denen die Gäste sich an die Chatseelsorge wenden, unterscheiden sich nicht von anderen Beratungsangeboten: Tod und Trauer; psychische Störungen wie Borderline-Störungen und selbstverletzendes Verhalten; sexueller Missbrauch; Partnerschaft, Familie, Verwandtschaft, Freunde, Bekannte; Religion, Glaube; Sucht (Spiel, Alkohol), Angst, Depression, Suizidgedanken, Krankheiten (körperliche); Konflikte in Arbeit, Schule oder Ausbildung.

Die Chatseelsorge bietet nicht nur Einzelchats an, sondern auch einen offenen, moderierten Gruppenchat. Der Chat ist jeweils mit einem Moderator für den offenen Gruppenchat und mindestens einem/einer Seelsorger*in für Einzelgespräche besetzt; eine Registrierung ist nicht erforderlich. Ein Gast kann zwischen völliger Anonymität und einem selbst gegebenem Nick wählen, der die Wiedererkennbarkeit in der Gruppe der Mitglieder erleichtert. Der gewählte Nick erzeugt eine virtuelle Identität in der Gruppe der Gäste. Mehr als die Hälfte der Besucher kommt mit einem Nick in den Chat. In der Regel besuchen zwischen 20 und 30 Gästen einen Chatabend in unterschiedlicher Zeitdauer. Etwa zehn Prozent nutzen die Möglichkeit eines Einzelchats. Die Nachfrage ist dabei höher als das Angebot.

Grundsätzlich wird die Chatseelsorge von allen Altersgruppen genutzt – besonders aber von der Kohorte der 20- bis 40-Jährigen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Die Mehrheit der Gäste ist weiblich. Die Nutzer*innen der Chatseelsorge lassen sich in etwa drei Gruppen gliedern: Eine Gruppe sucht Begleitung und aktives Zuhören. Viele dieser Gäste sind oder waren schon in Therapie oder sind austherapiert. Eine Problemlösung ist in dieser Gruppe nicht erwünscht und auch nicht möglich. Eine zweite Gruppe sucht Hilfe durch aktives Zuhören in akuten Problem- und Konfliktsituationen. Eine dritte, kleinere Gruppe sucht Antworten auf Glaubensfragen oder theologische Fragen: „Sagen Sie mal: Wenn Jesus in Gethsemane betet, redet er da nicht mit sich selbst, wenn er Teil der Trinität ist?“ Im Chat geht es also um Begleitung, problemlösende Seelsorge und um religiöse Information und Edukation.
 


Das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz

Peter Vorderer spricht in seinem oben erwähnten Artikel von einem neuen Lebenswandel, der sich durch POPC einstellt und zu neuen, veränderten Beziehungswünschen führt, die durch POPC generiert werden. Was könnte damit gemeint sein?

Um sich das klar zu machen, kann man auf den Ansatz der Kinderärztin und Psychoanalytikerin Margret Mahler zurückgreifen. Ihr Buch „Die psychische Geburt des Menschen“2  beschreibt den Prozess der Loslösung und Individuation eines Kindes aus einer autistisch-symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung hin zu einem Wesen, das sich als getrenntes, aber dennoch mit der Mutter verbundenes Wesen erleben kann. Das Kind erforscht in der Übungsphase (9. bis 15. Monat) aktiv seine Umwelt. Die Freude an seiner eigenen Aktivität lassen es die Mutter phasenweise vergessen, es kommt auch ohne die Mutter aus. Allerdings hält das Kind eine optimale Distanz ein, um schnell zur Mutter zurückkehren zu können. Die Mutter ist „Heimatbasis“, die das Kind immer wieder zum „emotionalen Auftanken“ aufsucht.3  Das ist allerdings ambivalent. Zu viel Nähe weckt die Angst, in einer symbiotischen Beziehung unterzugehen; zu viel Distanz führt zu der Angst, die Mutter zu verlieren. Der gelungene Abschluss dieser Entwicklung bedeutet die Fähigkeit, selbstständig zu werden und doch verbunden zu bleiben.

Im Chat beobachten wir viele Gäste, die den Schluss nahelegen, dass sich ihr Besuch wie eine „Rückkehr auf den Schoß der Mutter“ anfühlt: ein emotionales Auftanken. An ihrem Arbeitsplatz, in ihrer Familie und in ihren Beziehungen müssen die Gäste stark sein. Das fordert und überfordert sie. Sie wollen als autonome Personen wahrgenommen werden, aber ihr Selbstwert bleibt fragil. Sobald die „Quelle der Sicherheit“ (früher Mutter – heute Verbindung ins Netz) außer Reichweite ist, kommt es zuStimmungsschwankungen. Diese soll der Chat ausgleichen. „Mit der Mutter als Anker und Mittelpunkt seiner Welt konnte er (der kleine Bub) mit dem frustrierenden Anteil seiner neuen Erfahrungen und Untersuchungen wieder umgehen, und der lustvolle Anteil beherrschte das Bild.“4  Diese Gäste sind oft in mehreren Chats und Foren unterwegs. Schließt der eine, gehen sie zum nächsten weiter. Auch die Ambivalenz zeigt sich. Das Selbstbild („Ich bin ein erwachsener Mensch“) konfligiert mit unsicheren, ängstlichen Selbstanteilen („Wieso schaffe ich das nicht alleine?“), mit der Angst zu regredieren, verschlungen zu werden, nicht mehr loszukommen vom Chat („Wieso komme ich hier eigentlich her?“).
 


Das Bedürfnis: gesehen zu werden, sich zu zeigen

Martin Altmeyer beschreibt in seinem Buch „Auf der Suche nach Resonanz“ das narzisstische Bedürfnis des mediatisierten Menschen nach Anerkennung: „Videor, ergo sum.“5   Er versteht narzisstische Phänomene in Anspielung an Decartes‘ „cogito, ergo sum“: Werde ich gesehen, so bin ich (wer). Die anderen fungieren als Spiegel dieses Selbst, das gesehen werden will. Dies sei typisch für das Verhalten von Menschen in den neuen Social Media. „Ich will erkannt sein! Und sei’s auf meine Kosten“, so drückt es Martin Walser aus.6  Für viele Gäste der Chatseelsorge ist es ein wichtiges Bedürfnis, gespiegelt zu werden, Resonanz zu erhalten. Jemand stellt sich, sein Problem, seine Frage oder Anliegen den Gruppenmitgliedern oder dem / der Seelsorger*in, dem / der Moderator*in dar und erwartet, Resonanz auf die Selbstdarstellung zu bekommen, sich im „Glanz im Auge der Mutter“ gespiegelt zu sehen. Deutlicher wird dies, wenn Gäste sich nicht wahrgenommen fühlen: „Wenn mich hier keiner sieht, kann ich ja gehen!“ Sie reagieren empfindlich, wenn der Moderator oder Mitglieder der Gruppe sie nicht wahrnehmen oder sie nicht so wahrnehmen, wie sie es sich wünschen und vorgestellt haben. „Wenn ich hier nicht gebraucht werde, was soll ich hier?“ Es gibt erfolgreiche Resonanzmuster, die sie ermutigen, in ihrer Problemlösung fortzufahren. Das eigene Selbstbild wird durch „virtuelle“ Selbsterfahrung gestärkt. Das Gegenteil gibt es auch: negative Spiegelmuster, in denen die erhoffte Spiegelung nicht gelingt, Resonanzmuster, die von Gästen aus ihrer Ursprungsfamilie gekannt werden, wo sie sich als ein ungeliebtes Familienmitglied erlebt hatten. Dann wird der Chat zur Wiederholung der ursprünglich erlebten narzisstischen Kränkung: „Ich bin nichts wert. Mir kann keiner helfen. So war es schon immer“.

Darin ist ein Hinweis auf unsere Rolle für uns als Seelsorger*innen im Chat zu sehen: Wie gute Eltern können auch der Moderator oder Gruppenmitglieder ein tragendes Feedback geben, wenn ein Gast sich von Angstgefühlen oder Selbstzweifeln bedroht fühlt und vor nicht lösbaren Konflikten steht, die sein Selbst bedrohen. In solchen Fällen gilt es, Gefühle, Ängste und Befürchtungen wie ein Container aufzunehmen, sie zu verarbeiten und dem Gast „entgiftet“ zurückzugeben. „Ich sehe dich, also bist du.“
 


Chat und Scham

Sehen und Gesehen-Werden sind untrennbar mit Scham verbunden. Sie entsteht, wenn Defizite verborgen werden sollen. Leon Wurmser beschreibt Scham als Schamangst, die eine mögliche Grenzüberschreitung vorwegnimmt – als Angst vor Zurückweisung und Bloßstellung sowie als depressiver Schamaffekt, wenn eine Bloßstellung eingetreten ist. Scham bezieht sich immer auf einen Inhalt, auf das, wofür ich mich schäme, und auf die Funktion des Sich-Zeigens und des Schauens, dass jemand gesehen wird und gesehen hat. „Scham (sei) in ihren typischen Grundzügen eher komplex und variabel […], eher eine ganze Palette von eng verwandten Affekten als ein simpler, klar abgegrenzter Einzelaffekt.“7  Scham tritt nicht „direkt“ auf. Sie will verbergen, weil sie als ein unkontrollierbares Geschehen erlebt wird, das auch körperlich empfunden wird. Scham tut weh. Der eigene, scheinbar kontrollierbare Umgang mit Scham in einem gesicherten Raum scheint ein wichtiges Motiv für das Aufsuchen eines Chats zu sein. Der Chat kann zu einem Ort werden, an dem Gäste ihre schamvollen Erlebnisse und Erfahrungen zum ersten Mal bewusster zulassen können, sie als solche identifizieren und versuchen, sie in Worten auszudrücken, ohne Gefahr zu laufen, gleich wieder beschämt zu werden. Denn Scham als Affekt spricht eine eigene Sprache vor der Sprache. Die Anonymität des Chats scheint die Angst, die Scham wiederum als qualvoll, ja vernichtend erleben zu müssen, zu mindern. Viele unserer Gäste geben immer wieder deutlich zum Ausdruck, dass sie zwar im Chat Schamgefühle mitteilen, dieses aber niemals in einer persönlichen Begegnung tun würden, niemals „f2f“8. Da würden die Worte fehlen: „Ich weiß nicht, warum, aber da kriege ich kein Wort raus.“ Das wird besonders von Gästen berichtet, die von ihren Erfahrungen in analogen Beratungen und Therapien erzählen. Anders als in der Therapie drückt man im Chat auf „Logout“, wenn es zu „gefährlich“ wird. Die beschämende Interaktion ist sofort unterbrochen. Man wird nicht gesehen. Scham bleibt verborgen. Keine Spuren. Das Verlassen einer f2f-Beziehung ist mit ungleich höherem emotionalem Aufwand verbunden; es ist das Schweigen des Ausdrucks „Ich bin nicht (mehr) da“.

Sicherlich lässt sich im Chat die Ambivalenz von „Ich will mich ja zeigen, aber ich will nicht beschämt werden“ leichter abwehren bzw. auf ein erträgliches Maß reduzieren. Der gefürchtete „Blick“ der Anderen ist einerseits der reale Blick, aber vielmehr der phantasierte Blick. Dieser „Blick“ auf sich selber kann im offenen Chat „erhaben“ sein, also das Selbstwertgefühl bestätigen; er kann eben auch als einer erlebt werden, vor dem man wiederum „in den Boden“ versinken muss. So erzählt ein weiblicher Gast, dass sie sich trennen wolle. Der Mann sei arbeitslos, beschimpfe sie als Schlampe. Sie erfahre körperliche Gewalt: „Ich kann das keinem erzählen! Was würden denn meine Freunde und Arbeitskollegen von mir denken.“ Im Chat ist die Erzählung möglich, f2f nicht. Ein anderer Gast erzählt, sie sei in leitender Stellung und obwohl es gut laufe auf der Arbeit, sie sogar erfolgreich sei, fühle sie sich absolut minderwertig. Auf ihren Mann könne sie sich nicht verlassen und die Tochter mache permanent Schwierigkeiten in der Schule und mit ihren Freundinnen. Solch einen Mann neben sich und so eine Tochter, da habe sie das Gefühl, völlig versagt zu haben. Der Moderator fragt, ob sie sich vielleicht deswegen schäme. Nach einer kurzen Pause antwortet sie: „Ja, ich glaube, das trifft es genau.“ In diesem Zusammenhang ist ein ethischer Einwurf von Regine Munz bedenkenswert als Leitbild für Moderatoren, aber auch für die seelsorgerlichen Einzelgespräche. „Die christliche Tradition bewahrt das Wissen um die Schamhaftigkeit als Tugend. Sie hält dadurch insofern an einem ethischen Wissen fest, als die Schamhaftigkeit mit den Grenzen des Sich-Zeigens, des Sehens- und Gesehen-Werdens bestimmt.“9  Sie verweist auf die jüdische Tradition des Rabbi Nachman bar Yitzcha: „Jeder, der einen anderen öffentlich beschämt, ist, als ob er Blut vergösse.“10  Du sollst nicht beschämen: „Dieser ethische Imperativ bedenkt die Öffentlichkeit, das zuhörende und zuschauende Kollektiv, als das Forum der Scham und ist deswegen in unserem Medienzeitalter hochaktuell.“11  Das gilt im Besonderen für den Chat.
 


Couch und Chat – ein ähnliches Setting?

Jedes Setting fördert durch seine Fokussierung bestimmte Aspekte des emotionalen Erlebens und lässt andere Aspekte in den Hintergrund treten. Ein Setting fokussiert, eröffnet, ermöglicht etwas und schließt anderes aus. Freud hat bei seinen Analysen ein Setting gewählt, dass mit „Kanalreduktion“ beschrieben werden könnte. Er legt seine Analysanden auf die Couch, hat wenig bis keinen Blickkontakt, fokussiert nur die Stimme. Ziel ist es, Regression zu fördern, damit durch Assoziationen unbewusstes Material ins Bewusstsein tritt, das dann in Worte gefasst, besprochen und gedeutet werden kann. Wo „ES“ war, soll „ICH“ werden (Autonomie, Stärkung der Ich-Funktionen).

Ein Chat ist per se durch Kanalreduktion definiert: kein Gesicht, keine Stimme, keine physischen Übertragungsauslöser, nur geschriebenes Wort. Gibt es Parallelen zwischen dem Freud‘schen Setting und dem des Chats? Hier müsste noch mehr geforscht werden: Darf man überhaupt Parallelen zum Setting Freuds ziehen? Wie wirkt sich das Setting des Chats auf das emotionale Erleben der Gäste und der Seelsorger*innen bzw. Moderator*innen aus? Wie sind die Übertragungs- und Gegenübertragungs-phänomene zu beschreiben? Welche Ziele sind mit diesem Setting erreichbar und welche von vornherein ausgeschlossen? Kann man für einen Chat eine Förderung der Progression in Richtung Ichstärkung annehmen? Wie kann man sich das konkret vorstellen? Wie verhalten sich die möglichen Ziele von Chatseelsorge zu den Zielen des analytischen Settings? Ich vermute: Auch virtuelle Seelsorge (Beratung) hat therapeutische Effekte, könnte also Progression für sich beanspruchen. Vergleichbar wäre die Ohrenbeichte. Der Beichtvater ist bekannt. Die Beteiligten sehen sich nicht. Übertragungsauslöser sind reduziert. Die einzige Möglichkeit ist das gesprochene Wort. Ziel ist die Entlastung von Schuld und Scham. Das entspricht dem Setting des Einzelchats.

Wie könnte man demgegenüber die Dynamik des Settings im offenen Chat verstehen? Anneliese Heigl-Evers hat in „Konzepte der analytischen Gruppenpsychotherapie“12 ein Modell zur Verfügung gestellt, das interaktionell das Ziel verfolgt, ein stützendes, vertrauliches Beziehungsangebot in einer Gruppe herzustellen. Der Therapeut ist wenig konfrontativ und meidet Deutungen. Interaktionelle Gruppentherapie bleibt auf der Ebene des bewussten Erlebens. Sie orientiert sich an der Einschätzung der Gruppenmitglieder. Diese orientieren sich selbst in ihrem Verhalten an den Erwartungen, die sie in der Gruppe vorfinden, phantasieren und vom Therapeuten erwarten. Auf den/die Leiter*in werden Anteile von Ich-Idealen (oder der Ideal-Funktion des normativ-gesetzgeberischen Aspektes des Über-Ichs) übertragen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn von Mitgliedern im offenen Chat eingefordert wird, als störend empfundene Beiträge oder Gäste zu reglementieren. Eine solche Gruppe bietet Halt, Schutz und Trost, die Ich-Funktionen können gestärkt werden. Der Leiter und die Gruppenmitglieder agieren als Hilfs-Ich. So kann es zu einer Nachentwicklung der Persönlichkeit kommen. Defizite werden anders gesehen, irrationale Ängste können im Schutz der Gruppe angesprochen und reduziert werden. „Die Qualität der psychotherapeutischen Beziehung, die unbewusst entsteht, ist dabei der wesentliche Wirkfaktor.“13  So gesehen kommt das Setting des offenen Chat dem Bedürfnis nach, einer Gruppe anzugehören, in der man gehört wird, ohne gleich beurteilt zu werden.
 


Chatseelsorge und Kirchengemeinde brauchen einander

Der mediatisierte Lebenswandel ist eine Herausforderung für die Arbeit von Seelsorger*innen mit den Menschen. Die virtuelle Welt darf dabei nicht gegen die analoge ausgespielt werden, weil sich die Menschen in beiden „Welten“ bewegen. Reale Bindung geht virtueller Bindung immer voraus, lehren uns Internetkommunikationsforscher. Kirchliche Angebote im Netz sind angewiesen auf die Bindung an die Institution Kirche und die grundlegende Identifizierung mit Glaubensinhalten. Von der Stärkung der Gemeindearbeit vor Ort profitieren auch die webbasierten Angebote. Diese wiederum stärken und erhalten die Bindung an Kirche und Gemeinde in einer mobilen mediatisierten Gesellschaft, die sich nicht mehr allein durch lokale Zugehörigkeit definiert. „Kirche finde ich gut, weil ich gute Erfahrungen gemacht habe und weiterhin machen kann“, so eine Rückmeldung eines Chatbenutzers. Lokalität und Netz brauchen sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen.

Ein letztes Wort: In der Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses ist die Erlangung einer medialen Kompetenz meiner Meinung nach ein Muss.

 

Anmerkungen: 

  1. Vorderer, Der mediatisierte Lebenswandel.
  2. Vgl. Mahler, Die psychische Geburt des Menschen.
  3. Vgl. Trautner: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie.
  4. Mahler, Die psychische Geburt des Menschen, 89.
  5. Vgl. Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz, 257.
  6. Walser, Statt etwas oder der letzte Rank, 121.
  7. Vgl. Wurmser: Die Maske der Scham – die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, 90.
  8. f2f ist die im Chat übliche Abkürzung für „face to face“, also von Angesicht zu Angesicht.
  9. Munz, Zur Theologie der Scham, 143.
  10. A.a.O., 144.
  11. A.a.O., 145.
  12. Heigl-Evers, Konzepte der analytischen Gruppenpsychotherapie.
  13. Altmeyer, Auf der Suche nach Resonanz, 112.

     

Literatur:

  • Altmeyer, Martin: Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert, 2. Aufl. Göttingen 2016
  • Heigl-Evers, Anneliese: Konzepte der analytischen Gruppenpsychotherapie, 2. Aufl. Göttingen 1978
  • Mahler, Margret S. / Rine, Fred; Bergmann, Anni: Die psychische Geburt des Menschen, Neuauflage Berlin 2001
  • Munz, Regine: Zur Theologie der Scham. Grenzgänge zwischen Dogmatik, Ethik und Anthropologie, in: Theologische Zeitschrift 2/65 (2009), 129-147
  • Trautner, Hanns Martin: Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Band 2: Theorien und Befunde, 2. Auflage München 1997
  • Vorderer, Peter: Der mediatisierte Lebenswandel, permanently online, permanently connected, in: Publizistik 60 (3) 2015, 259-276
  • Walser, Martin: Statt etwas oder der letzte Rank, Reinbek 2017