Meine Realität oder deine Realität? - Wie nehmen Menschen mit Wahrnehmungsstörungen ihre Umwelt wahr? Annäherungen: ein „Wahrnehmungsparcours“ für Schülerinnen und Schüler

von Birte Hagestedt und Mira Schülting

 

„So!“ – Freudestrahlend präsentiert Johanna (6 Jahre) das Legebild aus verschiedenen einfarbigen Würfeln, das sie grade zusammengesetzt hat. Sie legt die Würfel direkt auf eine zweidimensionale Vorlage in gleichem Maßstab. Und trotzdem: das Muster aus zwei Farben, die sich jeweils diagonal gegenüber liegen, hat sie nicht wiedergegeben. Ihr Bild nimmt die diagonale Struktur auf, doch sie verwendet noch einen Würfel einer weiteren Farbe. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch bei Aufgaben, die nicht voraussetzen, dass sie zwei unterschiedliche Merkmale gleichzeitig berücksichtigen muss. Sind ihre Fähigkeiten, Farben zu sehen, eingeschränkt, oder spielt das Merkmal der Farbe in ihrer Wahrnehmung der Würfel (noch) eine untergeordnete Rolle? Wieso erscheinen Vorlage und Legebild ihr „gleich“?

Maximilian (12 Jahre) beginnt im Mathematikunterricht plötzlich laut zu kreischen. Trotz beruhigend gemeinter Ansprache und schließlich Ermahnungen fährt er mit kurzen Unterbrechungen damit fort. Welchen Sinn erfüllt dieses Verhalten für ihn? Wie nimmt er diese Situation wahr?

Wahrnehmung beschreibt den Prozess der Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Sinnesreizen durch das Gehirn und erfolgt immer aktiv und individuell. Es werden unbewusst und/oder bewusst Teilinformationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken zusammengeführt. Keine Person nimmt ihre Umwelt genau gleich wahr wie eine andere. Und doch können wir uns in der Regel auf bestimmte Merkmale einigen, die wir benennen können, um Materialien, Gegenstände usw. zu beschreiben. Unsere Sprachen geben uns Möglichkeiten, Gegenstände mit Begriffen zu belegen, so dass wir uns beispielsweise über einen Würfel oder ein bestimmtes Material verständigen können, obwohl jede und jeder von uns einen bestimmten Würfel unterschiedlich wahrnimmt. Die assoziierten Vorstellungen zu den beschriebenen Farbwürfeln, z. B. von dem Material, der Oberflächenbeschaffenheit und der Größe, hängen zudem bei jeder und jedem von uns von den Vorerfahrungen ab, die wir mit solchen Gegenständen haben.

Bei einigen Menschen weicht die Wahrnehmung ihrer Umwelt jedoch in Teilen so gravierend von der der meisten anderen ab, dass von einer Wahrnehmungsstörung gesprochen werden kann. Eine solche kann auch vorliegen, wenn das jeweilige Sinnesorgan intakt ist. Sie kann an unterschiedlichen Stellen im Wahrnehmungsprozess auftreten: Die Wahrnehmung kann bereits bei der Aufnahme gestört werden, während der Weiterleitung der Reize über die afferenten und efferenten Nervenbahnen und/oder bei der Bewertung, dem Vergleich und der Interpretation von Sinneseindrücken. Die Ursachen für Wahrnehmungsstörungen können sehr unterschiedlich sein. Zum einen können organische Ursachen wie z. B. Hirnfunktionsstörungen verantwortlich sein, die prä-, peri- oder postnatal entstanden sind. Zum anderen kommen aber auch umweltbedingte Ursachen in Frage, wie z. B. ein Mangel an Entwicklungsreizen, weil Kinder etwa in einer Umgebung aufwachsen, in der sie zu wenige oder zu unausgewogene sensorische Reizerfahrungen sammeln können, was zu Reizüberflutung oder -armut führen kann. Zudem können Wahrnehmungsstörungen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Syndromen und anderen physischen und psychischen Voraussetzungen stehen.

Um Menschen mit Wahrnehmungsstörungen mit ihren individuellen Vorlieben und Interessen besser kennen zu lernen, mit den Bedingungen, unter denen sie jeweils leben, lernen und an ihrer Umwelt partizipieren, mit ihren individuellen Entwicklungen und ihren Möglichkeiten dazu, jeweils als Gegenüber, als eine von Gott geschaffene Person, die die gleiche Menschenwürde, die gleichen Menschenrechte hat, wie ich selbst, erscheint es uns sinnvoll, sich in ihre Wahrnehmungswelt einzufühlen. Erst ein solches Annähern an ihre Lebenswelt kann Begegnungen mit Ihnen ermöglichen, die von Respekt und Anerkennung getragen sind und „auf Augenhöhe“ stattfinden.

Da Wahrnehmung individuell funktioniert, sind immer nur Annäherungen an ihre Wahrnehmungen möglich, die immer wieder überprüft und angepasst werden müssen.



Ein „Wahrnehmungsparcours“

Mit dem Ziel, dass Schülerinnen und Schüler die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche und Wahrnehmungsstörungen durch aktives Ausprobieren besser nachvollziehen können, haben die Autorinnen einen „Wahrnehmungsparcours“ entwickelt und mit Schülerinnen und Schülern zwischen 14 und 16 Jahren durchgeführt. Dieser Parcours kann aber bereits mit Schülerinnen und Schülern ab etwa neun Jahren ausprobiert werden.

Durch den Parcours sollen die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, die Auswirkungen von Wahrnehmungsstörungen oder Sinneseinschränkungen nachzuempfinden. Auch Hilfs- oder Unterstützungsangebote im (Schul-)Alltag für Mitschülerinnen und Mitschüler lassen sich durch das Kennenlernen der verschiedenen Schwierigkeiten gezielter und sinnvoller einrichten.

Einige der Lernangebote richten sich an die Gesamtgruppe, andere können die Schülerinnen und Schüler zu zweit bzw. zu viert an Stationen erproben. Anpassungen an die jeweiligen räumlichen, organisatorischen und an die individuellen Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler sind möglich. So ist z. B. denkbar, das Gruppenangebot zum Bereich der taktilen Wahrnehmung als Station zu konzipieren, indem man anstelle des Schwungtuchs „Tastkästen“, „Tastbeutel“ o.ä. nutzt und die jeweiligen Sinneseindrücke verschriftlichen lässt.

Im Anschluss an eine Gruppenaufgabe / Station oder nach Bearbeitung aller Stationen werden die jeweiligen Erfahrungen und Beobachtungen der Schülerinnen und Schüler thematisiert, entweder im Unterrichtsgespräch oder in Kleingruppen bzw. zu zweit. Kriterien dazu können sein:

  • Wie haben die Schülerinnen und Schüler, die aktiv eine Aufgabe gelöst haben, die unterschiedlichen Situationen jeweils empfunden?
  • Wie sind sie mit der jeweiligen Situation umgegangen?
  • Was hätte ihnen helfen können / hat ihnen geholfen (z. B. Kooperationen, Möglichkeiten der – gegenseitigen – Unterstützung)?
  • Welche Situationen im (Schul-)Alltag haben evtl. Ähnlichkeiten mit den erlebten Situationen?
  • Was kann in den unterschiedlichen (Schul-)Alltagssituationen unterstützend für jemanden wirken, der Wahrnehmungsstörungen in diesem Bereich hat?
     

Die Angebote können in beliebiger Reihenfolge bearbeitet werden, wobei unter didaktischen und organisatorischen Gesichtspunkten entschieden werden muss, an welcher Stelle Lernangebote in der Gesamtgruppe erfolgen sollen und ob es möglich ist, dass die Schülerinnen und Schüler die Stationen in unterschiedlicher Reihenfolge bearbeiten. Individuelle Lernvoraussetzungen sind unbedingt zu beachten, Aufgaben ggf. daraufhin abzuwandeln. Für die Lernangebote an den unterschiedlichen Stationen können Karten mit der jeweiligen Aufgabenstellung angefertigt werden. Zur Vertiefung können zu jedem Wahrnehmungsbereich weitere Hintergrundinformationen zur Funktionsweise etc. angeboten werden, z. B. in Form von Texten, Visualisierungen und Aufgabenblättern, ggf. können sich Expertengruppen bilden, die ihre Mitschüler und Mitschülerinnen über die Funktionsweise bestimmter Sinnesorgane informieren.



STATION: AUDITIVE WAHRNEHMUNG / HÖREN

Material:
Ohrstöpsel (weitgehender Ausschluss auditiver Reize), evtl. Schallschutzkopfhörer.

Aufgabe 1:
Zwei bis vier Personen gehen vor die Tür und warten dort auf Arbeitsanweisungen. Die Gruppe bildet einen Stehkreis, die einzelnen Personen befinden sich relativ dicht nebeneinander. Zwei Oberbegriffe werden festgelegt (z. B. Obst und Gemüse). Genauso viele Personen im Kreis wie Schülerinnen und Schüler, die vor der Tür warten, wählen jeweils einen Begriff, der sich dem ersten Oberbegriff zuordnen lässt (z. B. Apfel, Banane, Ananas).Alle anderen Schülerinnen und Schüler wählen Begriffe, die zu dem zweiten Oberbegriff passen (z. B. Paprika, Sellerie, Blumenkohl, Kohlrabi etc.). Es ist sinnvoll, die Begriffe einmal vor Beginn abzufragen, um sicherzustellen, dass verschiedene und jeweils passende Begriffe gewählt wurden. Die Begriffe werden später auf ein Zeichen der Lehrperson laut und sich immer wiederholend als endloser Klangcluster gesprochen. (Am besten probiert man es einmal zusammen aus).

Die Schülerinnen und Schüler vor der Tür werden hereingeholt und bekommen die Aufgabe, die Begriffe herauszuhören, die nicht zu den meisten anderen passen (ggf. kann man ihnen die gewählten Oberbegriffe bzw. der Oberbegriff, zu dem die Mehrzahl der Gruppe Begriffe sprechen wird, verraten). Sie stellen sich in die Mitte. Auf ein Zeichen der Lehrperson beginnt der Klangcluster. Wenn die meisten oder alle Begriffe erkannt wurden, wird der Klangcluster auf ein weiteres Zeichen der Lehrperson beendet. Die Aufgabe kann mehrmals mit anderen Oberbegriffen wiederholt werden.

  • Es wird eine Situation simuliert, in der zu viele auditive Reize auf das Gehirn einströmen („auditive Reizüberflutung“), das Fokussieren auf die zum Deuten der Situation wichtigen Reize fällt schwer.
     

Aufgabe 2:
Bei weiteren Durchgängen der Aufgabe 1 werden an einige der im Kreis stehenden Schülerinnen und Schüler Ohrstöpsel oder Schallschutzkopfhörer verteilt. Diese benutzen sie jeweils während der Durchführung der Aufgabe.

  • Es wird eine Situation simuliert, in welcher relativ wenige auditive Reize vom Gehirn verarbeitet werden können, das Deuten der Situation wird dadurch erschwert.

Schwierigkeiten im Bereich der auditiven Wahrnehmung können sich durch Symptome wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, erschwerte Konzentrationsfähigkeit oder Sprachstörungen zeigen. Personen, die unter solchen Schwierigkeiten leiden, reagieren darauf, indem sie sich z. B. die Ohren zuhalten, die Mundbewegungen des Gegenübers studieren oder wegschauen. So können sie sich besser auf das Gehörte konzentrieren. Eine mögliche Strategie, einer Überforderungssituationen entgegenzuwirken, kann, wie in jedem Wahrnehmungsbereich, ein „Gegensteuern“ mithilfe selbstgesteuerter Reize sein.



STATION: TAKTILE WAHRNEHMUNG / TASTEN

Material:
Ein großes Schwungtuch, Gegenstände unterschiedlicher Größe, Oberflächenbeschaffenheit oder Härte, unterschiedliche Handschuhe, z. B. Arbeitshandschuhe, Einmalhandschuhe.

Aufgabe:
Die Schülerinnen und Schüler setzen sich gemeinsam mit der Lehrperson im Kreis um ein großes, auf dem Boden liegendes Schwungtuch, unter dem im Kreis verschiedene Gegenstände versteckt liegen. Zuvor wurden diejenigen Sitzplätze markiert, an denen sich unter dem Schwungtuch Gegenstände befinden. Die Schülerinnen und Schüler ziehen sich die Handschuhe an und ertasten auf ein Zeichen der Lehrperson hin den jeweils vorliegenden Gegenstand, ohne ihn unter dem Tuch herauszunehmen oder unter das Tuch zu schauen. Auf ein weiteres Zeichen werden die Gegenstände im Uhrzeigersinn einen Platz weiter gereicht. Dieser Ablauf wiederholt sich so lange, bis jede und jeder jeden Gegenstand einmal ertastet hat.

  • Es wird eine Situation simuliert, in der nur wenige taktile Reize genutzt werden können, um Gegenstände zu ertasten. Die Handschuhe erschweren es zusätzlich, den notwendigen Kraftaufwand beim Halten und Ertasten einzuschätzen.

Taktile Wahrnehmungsstörungen können sich entweder durch das Bedürfnis nach vermehrtem Körperkontakt oder durch autoaggressives Verhalten zeigen, weil zu viele Reize ausgefiltert werden. So fehlt z. B. die Schutzreaktion beim Händewaschen mit zu heißem Wasser. Oder es werden zu wenige Reize ausgefiltert. Dies kann sich z. B. durch ein mangelndes Interesse an Körperkontakt oder Zärtlichkeiten zeigen, durch eine Abwehrhaltung gegenüber Berührungen, durch häufiges Händewaschen oder Ekel gegenüber weichen Materialien.



STATION: OLFAKTORISCHE WAHRNEHMUNG

Material:
Kleine Dosen (z. B. Filmdosen) mit Geruchsproben (z. B. Zimt, Curry, Lavendel, Kaffee etc.).

Aufgabe:
Die Schülerinnen und Schüler sitzen im Stuhlkreis. Die Lehrperson geht mit je einer Geruchsprobe so herum, dass nacheinander alle Schülerinnen und Schüler an ihr riechen können, ohne in das Döschen sehen zu können. Dazu können jeweils die Augen geschlossen werden. Jede Schülerin/ jeder Schüler äußert nach Abschluss des Rundgangs reihum eine spontane Assoziation zu dem Geruch, ohne zu benennen, um was es sich gehandelt hat.

  • Es wird eine Situation simuliert, in der die Individualität von olfaktorischer Wahrnehmung deutlich werden kann. Besonders dieser Wahrnehmungsbereich löst Assoziationen aus, die emotional belegt/verknüpft sind.

Wahrnehmungsschwierigkeiten in diesem Bereich können sich z. B. in einer starken Sensibilität gegenüber Gerüchen zeigen, bis hin zum Erbrechen, oder, gegenteilig, indem jemand verstärkt an allem riecht.



STATION: GUSTATORISCHE WAHRNEHMUNG

Material:
Schälchen mit mundgerechten Geschmacksproben (z. B. Apfelstückchen, Weintrauben, Bananenchips etc. – zuvor sollten mögliche Allergien abgefragt werden!).

Aufgabe:
Die Schülerinnen und Schüler sitzen im Stuhlkreis. Der Ablauf der Aufgabe zu diesem Wahrnehmungsbereich erfolgt analog zu der zum Wahrnehmungsbereich der olfaktorischen Wahrnehmung: Den Schülerinnen und Schülern werden nacheinander Geschmacksproben angeboten, diese äußern im Anschluss an den jeweiligen Rundgang reihum spontane Assoziationen, ohne zu benennen, um was es sich gehandelt hat.

  • Es wird eine Situation simuliert, in welcher die Individualität von gustatorischer Wahrnehmung, individuelle Geschmacksvorlieben und -abneigungen deutlich werden können.

Eine Störung in diesem Wahrnehmungsbereich kann sich u.a. darin äußern, dass jemand verstärkt Gegenstände mit dem Mund erkundet oder dies und das Erschmecken vermeidet.



STATION: VISUELLE WAHRNEHMUNG

(Partnerarbeit)

Material:
Brillen unterschiedlicher Sehstärken zur Korrektur unterschiedlicher Sehschädigungen, Brillen, die Sehstörungen, wie z. B. ein stark eingeschränktes Sehfeld, oder starke Kurz- oder Weitsichtigkeit im Rahmen einer Sehbehinderung simulieren, sogenannte „Schlafbrillen“, Augenklappen, ein Fernglas, evtl. Sonnenbrillen.

Aufgabe:
In Partnerarbeit werden Auswirkungen visueller Einschränkungen erfahren, dazu probieren die Schülerinnen und Schüler verschiedene Bewegungsangebote unter den Bedingungen des Sehens aus, die durch das Aufsetzen der unterschiedlichen Brillen etc. simuliert werden. Bewegungsangebote: Hin- und Herspielen eines Luftballons, Schießen eines (weichen) Balles, Balancieren auf einer Linie, Begehen eines kleinen Hindernisparcours, z. B. um einen Tisch herum, über Kissen, Stufen, einen Stuhl etc.

  • Es wird eine Situation simuliert, in welcher die Möglichkeiten der visuellen Wahrnehmung auf unterschiedliche Weise eingeschränkt sind.

Störungen der visuellen Wahrnehmung beziehen sich auf fünf verschiedene Bereiche, die visuomotorische Koordination, Formkonstanz, Figur- und Grundwahrnehmung, Raum-Lage-Wahrnehmung oder Wahrnehmung der räumlichen Beziehung. Beobachtbare Auffälligkeiten können z. B. sein: Schwierigkeiten, auf einer Linie zu schreiben, beim Schleifebinden, Übermalen von Begrenzungen. Liegen die Schwierigkeiten im Bereich der Wahrnehmung von Formkonstanz, können wenig oder keine Zusammenhänge und Ähnlichkeiten z. B. von Objekten wahrgenommen werden. Häufiges Suchen von Gegenständen z. B. in der Schultasche, obwohl sie für andere deutlich sichtbar scheinen, kann auf Störungen im Bereich der Figur-Grund-Wahrnehmung hinweisen. Das Verwechseln von links und rechts, vorne und hinten, das sich auch im verdrehten Schreiben von Buchstaben zeigen kann, kann auf Schwierigkeiten im Bereich der Raum-Lage-Wahrnehmung und/oder der räumlichen Beziehung hindeuten.



STATION: VESTIBULÄRE WAHRNEHMUNG

(Partnerarbeit, ggf. Begleitung durch eine/n Erwachsene/n)

Material:
Individuell möglicher Parcours, z. B. großer freier Raum, Stufen, Kurven, Kissen, Turnmatte, die z. B. auf Tennisbällen liegt, Turnmatte, die senkrecht an einer Wand steht.

Aufgabe:
Im ersten Durchgang wird eine Schülerin oder ein Schüler von einem Partner oder einer Partnerin über verschiedene Hindernisse geführt. Um Hilfestellungen zu geben und Unfälle zu vermeiden sollte diese Station ggf. von Erwachsenen begleitet werden. Danach wechseln die Partner ihre Rollen. Der zweite Durchgang beginnt damit, dass die Schülerin/der Schüler von ihrem/seinem Partnerin/Partner einige Male auf der Stelle stehend gedreht wird. Direkt danach probiert sie/er den Parcours erneut. Anschließend wird ebenfalls gewechselt.

Zusatzaufgabe:
Wer möchte, wird von ihrem/seinem Partnerin/Partner mit verbundenen Augen an einer Hand durch den Raum geführt. Hierbei können Richtung und Tempo wechseln. Es ist zu beachten, dass bereits schnelles Gehen in dieser Situation als extrem hohes Tempo wahrgenommen werden kann. Diese Aufgabe erfordert sehr viel Kompetenz, auf die/den Partnerin/Partnerin so achten zu können, dass deren/dessen Bedürfnisse wahrgenommen, berücksichtigt und Gefahren vermieden werden. Alternativ kann die Zusatzaufgabe in zwei Gruppen durchgeführt werden, die sich an den Händen halten und so eine Kette bilden. Die erste Position in der Kette nimmt dabei eine erwachsene Person ein, die die Kette leitet.

  • Es werden Situationen simuliert, in welchen das vestibuläre System besonders beansprucht wird. Die Zusatzaufgabe stellt durch das „Ausschalten“ der visuellen Orientierung erhöhte Anforderungen an das vestibuläre System und erlaubt zugleich eine sehr bewusste Fokussierung auf das Wahrnehmen dieser Anforderungen.

Bei einer Überempfindlichkeit in diesem Bereich kann es zu einer Schwerkraftunsicherheit kommen. Dies kann sich darin äußern, dass sich jemand nur ungern bewegt und bei Bewegungsangeboten lieber eine Beobachtungsposition einnimmt, dass jemand den Kopf kaum dreht und insgesamt wenig Kopfbeweglichkeit zeigt. Es wird z. B. vermieden zu schaukeln; u. U. wird jede Lageveränderung als bedrohlich wahrgenommen. Bei einer Unterempfindlichkeit in diesem Bereich werden vestibuläre Reize hingegen gesucht, die Betroffenen wirken waghalsig und sind sehr bewegungsfreudig.



STATION: PROPRIOZEPTIVE WAHRNEHMUNG

(zu viert – je zwei Paare zusammen)

Material:
Ein Seil, an dem kleine Glöckchen befestigt sind, Sandsäckchen.

Aufgabe 1:
Zwei Schüler/Schülerinnen spannen ein mit Glöckchen versehenes Seil so zwischen sich auf, dass ein Hindernis entsteht. Dazu führen sie es mehrmals und auf unterschiedlichen Höhen zwischen sich hin und her. Zwei andere Schüler/Schülerinnen klettern nacheinander vorsichtig durch das Seil, ohne es zu berühren (der Schwierigkeitsgrad kann variiert werden). Das das Seil haltende Paar konzentriert sich auf die Stellung seiner Körperteile zueinander sowie ggf. auf die Schwierigkeiten beim Halten des Seils in verharrender Position. Das Paar, das das Hindernis überwinden soll, konzentriert sich währenddessen auf die jeweiligen Stellungen der Körperteile Arme, Hände, Beine, Füße, Kopf, Rumpf, Po. Können die Schüler/Schülerinnen einschätzen, ob bspw. der Fuß/der Kopf noch durch die Lücke des Seils passt? Stoßen sie doch mit einem Körperteil an? Anschließend erfolgt ein Wechsel.

  • Es wird eine Situation simuliert, in welcher zum einen die propriozeptive Wahrnehmung unter den Bedingungen eines langen Verharrens in einer für Muskeln anstrengenden Körperhaltung geschieht, zum anderen können besondere Anforderungen der Bewegungskoordination nachempfunden werden, die durch Schwierigkeiten der Propriozeption entstehen können, wie z. B. Anstoßen an Hindernisse im (Schul-)Alltag.


Aufgabe 2:

Die Schülerinnen und Schüler setzen sich auf gegenüber stehende Stühle und legen sich gegenseitig möglichst viele Sandsäckchen auf die Oberschenkel, ggf. auch auf Füße, Schultern und Arme. Sie verharren einige Minuten bewegungslos (z. B. fünf Minuten). Danach probieren sie z. B. auf einem Fuß zu stehen. Wie gut gelingt es? Wie gut können sie ihren Fuß, ihr Bein, ihre Arme und Schultern spüren?

  • Es wird eine Situation simuliert, in welcher die Propriozeption erschwert wird. Bewegungsaufgaben zeigen die Schwierigkeiten, die sich dadurch für die Körperkoordination ergeben können.

Schwierigkeiten können sich in der Dosierung des Schreibdrucks zeigen, der zu stark, zu schwach oder auch schwankend sein kann. Auch die Körperhaltung insgesamt sowie der Muskeltonus in den Extremitäten können betroffen sein. Auffälligkeiten können z. B. Ungeschicklichkeit, Umstoßen von Dingen, breitbasiges Gehen, Probleme beim Anziehen bzw. mit der Reihenfolge in diesem Bereich, und beim Schuhebinden sein. Häufig sind Auswirkungen auf das Bilden des Körperschemas, des Körperimagos und des Körperbegriffs.

Obwohl in jedem Bereich einige typische Auffälligkeiten zu beobachten sind, können Auswirkungen unterschiedlicher Syndrome auf die Wahrnehmung noch wesentlich komplexer sein. Dennoch kann das Durchlaufen eines solchen „Wahrnehmungsparcours“ Schülerinnen und Schülern ein Einfühlen in die Wahrnehmungswelt von Kindern und Jugendlichen wie z. B. Johanna und Maximilian erleichtern oder sogar erst ermöglichen.


Literatur

  • Fröhlich, Andreas (Hrsg.): Wahrnehmungsstörungen und Wahrnehmungsförderung, Heidelberg 1986.
  • Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2011.
  • Zimpel, André Frank: Zwischen Neurobiologie und Bildung, Göttingen 2013.