Als Göttinger und Oldenburger Studierende gemeinsam die Göttinger Jacobikirche erkundeten1, äußerte eine Oldenburger Studierende spontan: „Diese Kirche ist keine Kirche!“ Der Ausruf gab zu denken – nicht nur den Göttinger Studierenden. Befand sich die Seminargruppe doch im Innenraum einer gotischen Hallenkirche, deren kunstgeschichtlicher Rang unumstritten ist: die in gedämpften Renaissance-Farben ausgestalteten tanzenden Säulenpfeiler, die Fenster von Johannes Schreiter zum Psalm 22 und last but not least der in Deutschland einzig erhaltene, seit 1402 in Gebrauch befindliche Wandelaltar machen die Kirche zu einer Attraktion für Bildungsreisende2. Und es war genau dieser Eindruck, den die Studierende offensichtlich zu artikulieren suchte: „Diese Kirche ist keine Kirche, sondern ein Museum.“
Als wir einige Wochen später beim Gegenbesuch die in der Innenstadt von Oldenburg gelegene Lambertikirche3 betraten, „wiederholte“ sich die Szene. Einer Göttinger Studentin entfuhr es wiederum spontan: „Diese Kirche ist keine Kirche!“ Die dreireihig übereinander geordneten Logen sowie das nach oben hin offene, Licht durchflutete Kuppeldach ließen sie an ein Theater denken.
Gerade der Umstand, dass die Reaktionen so ähnlich ausfielen, erschien uns bedenkenswert.
Eine mögliche Deutung für die studentischen Spontanäußerungen eröffnet Andreas Mertin, der eigene Kirchenraumerfahrungen auf lebensgeschichtliche Primärerfahrungen bezieht. Er schreibt: „Religiös bedeutungsvoll wird für mich aber vor allem der schlichte weiße Raum sein, die Konzentration aufs Elementare und Wesentliche, auf das, Es geschieht …‘. Das hat etwas mit meiner eigenen religiösen Sozialisation zu tun und natürlich auch mit meiner religiösen Lebenswelt.“4 Bezieht man Mertins Hinweis auf die oben geschilderten Äußerungen, so deutet Einiges darauf hin, dass auch den Aussagen der Studierenden ähnliche, wenn auch unbewusste Kriterien zugrunde lagen. Die eigene Heimatkirche erscheint als ideales Modell, an dem sich alle anderen Kirchen zu messen haben.
Uns scheint, dass das Problem einer subjektiv-biografiebehafteten Situation in kirchenraumpädagogischen Diskursen in seiner Brisanz für das Abschließen oder Fördern von Lernprozessen noch nicht ausreichend gewürdigt wurde.
Im Folgenden sei daher der Versuch unternommen, diese Beobachtung in unser eigenes kirchenraumpädagogisches Konzept zu integrieren.
Der artefakt-orientierte Ansatz und seine kirchenraumpädagogische Vorgeschichte
Einige Vorbemerkungen: Unser eigenes Konzept hatte ursprünglich das Ziel, Kirchen verschiedener Stilepochen in unterschiedlichen Regionen in einer gemeinsamen Studierendengruppe zu erschließen. Aus verschiedenen Gründen erschienen uns dazu die in der kirchenraumpädagogischen Praxis5 gebräuchlichen Ansätze aber als wenig geeignet:
- Die Zentrierung auf historische, oft mittelalterliche Kirchen (Gotik), die typologische Einteilung der Rezipienten, einschließlich der Konzepte „geistlicher Kirchenführungen“ können u. E. jenen Menschen den Zugang erschweren, die sich biographisch und spirituell nicht entsprechend „verorten“ können.
- Die Unsicherheit, als was das Kirchengebäude denn nun anzusehen sei, „nur“ als äußere Hülle des Wortes Gottes, oder als durch die Art und Weise seines „Gebrauchs“ doch „geheiligter Raum“; also mit Luther, ob Gottesdienste grundsätzlich überall stattfinden können, eben auch im Schweinstall – oder nur in durch das Wort der Predigt „geweihten“ Räumen6.
- Die Vernachlässigung des Problems, was der Einzelne in der Auseinandersetzung mit dem Kirchenraum lernen könne.
Unser artefaktorientierter Ansatz nimmt gegenüber den genannten Ansätzen seinen Ausgang grundsätzlich bei dem konkreten Artefakt (Objekt) und fragt nach dessen (nicht-selbstzweckhaften) Gebrauch, d. h., es wird nicht nach dem offensichtlichen Sosein oder einer stimmigen Analogie zu einer anderen Wirklichkeit gefragt bzw. diese stillschweigend vorausgesetzt, sondern, die jeweils subjektive (evtl. aller Offensichtlichkeit widersprechende) Ingebrauchnahme eines Artefaktes wird als Ausgang eines Lernprozesses ernst genommen. Wenn die studentische Äußerung, „diese Kirche ist keine Kirche“, das offensichtliche „Kirchesein“ des konkret erlebten Gebäudes nicht akzeptiert, dann signalisiert diese Äußerung – unbewusst – eine andere Ingebrauchnahme und bietet eine besondere Lernchance; eine Lernchance, das vermeintlich Offensichtliche so infrage zu stellen, dass ein neuer Blick auf das Artefakt mit seinen noch nicht frei gelegten Wirklichkeitsdeutungen möglich wird, oder dass das in ihm Gemeinte unter dem Schutt der Deutungen tatsächlich zur Sprache kommen kann.
Die Fokussierung auf die Frage des nicht-selbstzweckhaften Gebrauchs eines konkreten Artefakts vollzieht sich nicht nur in der Gegenwart, sie erfolgt auch in Zeit und Raum7. Die Frage nach dem nichtselbstzweckhaften Umgang mit einem konkreten Artefakt in Zeit und Raum verweist dann
- einerseits auf seinen Gebrauch in Geschichte und Raum zurück (komplexeres Artefakt). Konkret kann dies durch die Beteiligung von Pastoren, Diakonen, speziellen Kirchenführern oder Gemeindegliedern möglich werden, die über die aktuelle oder eine frühere Verwendung Bericht erstatten.
- Andererseits eröffnet die Frage nach dem nicht-selbstzweckhaften Gebrauch in der Gegenwart bedeutsames Lernen: die in Gemeinschaft lernenden Nutzer haben sich darüber zu verständigen, wie sie mit diesem konkreten Artefakt umgehen können. Der kommunikative Austausch über den Gebrauch des konkreten Artefakts nimmt dabei die in Raum und Zeit ausgebildeten Lösungen zur Kenntnis und entwickelt eigene Gebrauchs- oder Einsatzweisen. Aus den vielfältigen, konkret reflektierten Möglichkeiten wählt das einzelne Subjekt am Ende idealerweise die für sich selbst stimmige aus (subjektiv-reflexives Artefakt); dies allerdings auch
- unter einem bislang nicht sonderlich beachteten Phänomen, nämlich seiner „Gefühlsgestimmtheit“.
Mit dem hier vertretenen Ansatz korreliert auch ein religionspädagogisch gewendeter Ansatz des „Neuen Lernens“ (Sander-Gaiser)8. In ihm wird angenommen, dass kulturelle Artefakte ein bedeutungsvolles Lernen aus sich heraussetzen können, vor allem dann, wenn sie in eine Situation der Anwendungsorientierung (situated action) eingebunden sind. Der Einzelne hat dabei durch entsprechende (kommunikative) Lernumgebungen prinzipiell die Möglichkeit, sich mit seinen spezifischen Voraussetzungen in den Lernprozess subjektiv einzubringen.
Kirchgänge in Oldenburg
Die Lambertikirche
Nach ersten Wahrnehmungen9 und einem etwa halbstündigen Entdeckungsgang durch die Lambertikirche gingen wir aus dem Gebäude heraus. Die Arbeit mit dem konkreten Artefakt Lambertikirche begann. Eine Studentin zitierte in ihrem Referat Ken Fowletts „Säulen der Erde“ nicht unabsichtlich diejenige Stelle, an der Jack der Zimmermann darauf hinweist, dass schon die kleinste Abweichung eine gotische Kirche zum Einsturz bringen könne10. Wie im englischen Mittelalter so kam es auch in Oldenburg wie es kommen musste: Die im 13. Jahrhundert ursprünglich gotisch erbaute Lambertikirche , die 1374 um einen entsprechenden Chor und Seitenschiffe erweitert worden war, stürzte 1791 ein und machte dadurch den Weg für den klassizistischen, in Anlehnung an das Pantheon in Rom errichteten Rundbau im rechteckigen Inneren der gotischen Kirche frei11. Weitere bauliche Veränderungen schlossen sich an: Ab 1875 erfolgte eine neugotische Umgestaltung der Kirche (entsprechend dem sogenannten Eisenacher Regulativ, einer Vorschrift, Kirchen in gotischer Form zu errichten) mit Hauptturm und später vier Eck-Türmen als wieder Geld in den Kassen vorhanden war.
1968 baute Oesterlen vor allem den Chorraum in seinem puristischen Stil um, 2007 erfolgte dann der bislang letzte Umbau durch Walther Hirche, der die obersten Emporen erst wieder zugänglich machte. Das Baugeschichtliche stand im Referat der Studentin zunächst im Vordergrund. Unterbrochen wurde es von ihren Hinweisen auf die kirchengeschichtliche Stellung der Lambertikirche als Fürsten-, Stadt-, aber auch Bischofskirche.
Räumliche Erklärungen schlossen sich an. Durch die Drehung des Chorraums 1795 befindet sich die Fürstenloge nicht länger über dem Kanzelaltar, sondern ihm gegenüber. Nun dominiert die Orgel das Altar-Szenario. Die Fürsten haben nicht mehr den privilegierten Blick auf die Gemeinde während der Predigt. Auch sehen sie nicht mehr in der Herrlichkeit vermeintlichen Gottesgnadentums von oben auf den Pfarrer herunter. Hat diese aufklärerische Entscheidung eine absolutismuskritische Spitze?
Zurück in der Kirche „outete“ sich eine andere Studentin als gegenwärtige Nutzerin der Kirche. Sie führte uns nicht nur die städtebauliche Bedeutung vor Augen, die die Kirche für Oldenburg hat: Von vielen Stadtteilen seien ihre Türme zu erblicken. Die Kirche liegt zentral am Eingang der Fußgängerzone – so mancher Einkaufsbummel endet in der Ruhe hinter den Kirchenmauern. Besondere Highlights kultureller Art – Orgelkonzerte und Ausstellungen – runden touristische Stadtführungen ab, die die Oldenburger Stadtgeschichte an den verschiedenen Baustilen der Lambertikirche aufzeigen. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich die Gemeinde sozial engagiert – unabhängig von Konfession oder Religion. Für die Studentin spielte schließlich ein Vers aus dem Jeremiabuch eine besondere Rolle: „Suchet der Stadt Bestes!“ (Jer 29,7)
Am Ende dann doch noch ein einzelnes Artefakt: Der Sarg von Graf Anton Günther befindet sich heute im „abgetrennten“ Chorraum – wenn auch in einer Seitennische. Während die Särge ursprünglich als Memorial geschaffen worden sind, hatte die Gemeinde sie zwischenzeitlich in den Keller verbannt. Ob es irgendjemand gibt, der sich diese Särge in rückwärtsgewandter Sehnsucht nach dem absolutistischen Herzog ansieht? Bringen wir im Gegenüber zu den Särgen die allgemeine Vergänglichkeit zur Sprache? Machen wir uns bewusst, dass wir im Tode doch alle gleich sind? Auch wenn der eine pompös, der andere nüchterner betrauert wird? Über das Gefühl im Gegenüber zum Tod sagt dies noch nichts, vielleicht aber etwas über den Umgang mit dem Tod.
Fast unmerklich ließ die Frage nach dem Gebrauch der konkreten Artefakte komplexere Überlegungen entstehen. Die Gruppe diskutierte am Beispiel von Fürstenloge und Särgen absolutismus- und sozialkritische Gedanken. Es entstand so etwas wie existentielle Betroffenheit: Wo ist der Platz des Einzelnen in der Gemeinde, in der Welt? Wo ist mein Platz? Das Besondere dieses Artefakts wurde sichtbar – jedoch anders als es nach dem bau- und stadtgeschichtlichen Referat zu vermuten war.
Bei dem von uns ursprünglich für die Lambertikirche „vorgesehenen“ Thema, dem kulturellen Artefakt „Vernunft und Glaube“, waren wir inzwischen angekommen. Die tempelartige Rotunde bindet sich in dieses Thema ein. Es steht zu vermuten, dass zwar nicht der 1667 verstorbene Graf Anton Günther, wohl aber Herzog Peter Friedrich Ludwig ähnlich aufklärerische Ziele verfolgte, wie König Friedrich der III., als er in Berlin die katholische Hedwigskirche errichten ließ: die Anklänge an das Pantheon sind nicht nur gewollt, sie stehen für die Toleranz gegenüber anderen Religionen und Konfessionen. Nimmt man dies ernst, dann ist der Bezug zur Gegenwart unverkennbar.
Lambertikirche Oldenburg: Rotunde
Foto: Marvins21 (CC BY-SA 3.0; (http://de.wikipedia.org)
Die Friedenskirche
In der Friedenkirche vollzog sich das Lernen auf ähnliche Weise. Die methodistische aus dem 19. Jahrhundert stammende Kirche befindet sich am Anfang der „Heiligen Meile“ – neben Garnisonkirche, katholischer Peterskirche und ehemaliger (in der Reichspogromnacht zerstörten) Synagoge.12 An der großen Ausfallstraße ins Ammerland gelegen, schien sie den Vorstellungen der Studierenden von einer Kirche eher zu entsprechen: Die allermeisten fühlten sich an ihre heimatlichen Dorf- oder neugotischen Stadtkirchen erinnert.
Die „Oma-Atmosphäre“, die sich hier in Geruch, Beleuchtung und kuscheliger Atmosphäre im ersten Stock ausbreitet, wurde zwar später kritisch ironisiert, dies hielt beim Besuch aber niemanden davon ab, sich an diesem Ort gebauter methodistischer Ekklesiologie irgendwie wohlzufühlen. Die Gemeinde trägt – so die Studierenden – im buchstäblichen Sinne die Ekklesia, insofern sich die Gemeinderäume im Erdgeschoß, die Kirche im ersten Stock darüber befindet. Ein hoher Turm war den Methodisten nicht gestattet, auf einen Chorraum verzichteten sie von sich aus. Zwar trug der nüchterne Stil, der seit der letzten Renovierung vorherrscht, dazu bei, sich im Kirchenraum wohlzufühlen, gleichwohl konnte sich niemand vorstellen, in einem solchen „Wohnzimmer“ zu wohnen. Die einzelnen Artefakte forderten aber zum näheren Betrachten heraus. Die erhöhte Kanzel vor der Wand ohne Kruzifix oder Kreuz, der sich stattdessen an dieser Stelle befindende Spruch „Gott ist Liebe“, der Abendmahlstisch, sowie eine Art Ambo oder zweites Lesepult zogen die Aufmerksamkeit der Studierenden auf sich. Der Taufstein, den der Pastor eigentlich aus der Kirche hatte entfernen wollen, blieb als von der Gemeinde wegen seiner Drifüßigkeit geliebt, im Innern erhalten. Man deutet(e) ihn auf die Trinität oder als Krippe von Bethlehem.
Die Studierenden empfanden die mehrstufige Kanzel eher als abschreckend – sie bringe Machtbewusstsein zum Ausdruck, stehe man dort oben, entwickele man zwangsläufig Allmachtsphantasien. Der im Nachgespräch anwesende Pastor bestätigte, dass er es vorziehe, von unten zu predigen. Nur zu hohen Festtagen steige er dorthin, wenn die Kirche überfüllt wäre.
Der Spruch hinter der Kanzel wurde von Einigen als kitschig empfunden: Gott ist Liebe. Zwar weiß man um die Bedeutung des Corpus Johanneum, die großen roten Lettern wirkten aber auf alle befremdlich. Deutet man ihn allerdings auf dem Hintergrund methodistischen Welt- und Gemeindeverständnisses13 – des Engagements für den Frieden in dieser Welt – dann ist er plausibel und erweist sich als eine Möglichkeit, heterogene Vielfalt des Protestantismus zur Sprache zu bringen. Hinter der machtförmigen Kanzel angebracht, mag er darüber hinaus dazu dienen, Gott allein die Ehre zu erweisen. Während das Arrangement in der heimatlichen Kirche befremden dürfte, erschien es hier – vor dem Hintergrund einer eigenen protestantischen Theologie und Frömmigkeit – irgendwie stimmig!
Den zweiten Ambo empfanden die Studierenden als weniger problematisch. Er wird von ihnen nicht als spezifisch methodistisch, sondern als genuiner Bestandteil christlicher Glaubenspraxen aufgefasst. Warum? Die Studierenden kennen ähnliche Gebetsbücher, vielleicht mit etwas weniger Gebeten – aber immerhin. Einladungen zum Gebet seien auch in ihren Heimatgemeinden gang und gäbe.
Gemeinsame Glaubenspraxen stehen auch im Folgenden im Vordergrund: Das Christentum gehe auf den Einzelnen zu, stelle seine Not ins Zentrum. Was zur Sprache kommt, konkretisiert sich an Abendmahlstisch und Friedenssäule vor der Kirche. Während der Tisch, an dem die Gemeinde ein wirkliches Abendessen zelebriert – jeder bringt etwas mit – die (urchristliche) Solidarität und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringe, lenkt sein Gebrauch umgekehrt den Blick auf mögliche Fehlentwicklungen: aus Respekt vor der anderen Religion solle man darauf verzichten, den Kult nachzuspielen oder nachzustellen, so die Studierende.
Die Friedenssäule bindet schließlich die größte Aufmerksamkeit an sich. Von der Stadt Oldenburg aufgestellt, dient sie dem Gedenken der militärischen Opfer zweier Weltkriege, nicht aber den zivilen Opfern, auch wenn einige Frauen – Rotkreuzschwestern (?) – unter den Namen verzeichnet sind. Dem Versuch, Kanzelzitat und Friedenssäule zu verbinden, wurde von den Studierenden eine Absage erteilt – zu unpräzise; am Beispiel der Friedenskirche ließe sich aber erarbeiten, dass Frieden eine bleibende Aufgabe ist. Insofern stand am Ende die gemeinsame Einsicht, dass nicht – wie in der Göttinger Jacobikirche14 – der Weg das Ziel, sondern das Ringen um den Frieden dauerhafte Aufgabe sei.
Friedensplatz und Friedenskirche
Foto: © PhotoShot (www.panoramio.com)
Beide Kirchgänge zeigten, dass die Seminargruppe, ihre je eigenen (subjektgeprägten) Zugriffe auf die erarbeiteten Artefakte hatte. Die Ergebnisse waren eben nicht einheitlich; jeder formulierte aufgrund der Erarbeitung eigene Lernergebnisse. Allerdings waren diese Ergebnisse innerhalb der Lerngruppe kommunikabel. Informationen über den „historischen Gebrauch” der Artefakte wurden „subjektspezifisch” in den je einzelnen Lernprozess eingearbeitet.
Ausbildung von Interesse durch ein konkretes Artefakt – die Bedeutung emotionalen Lernens
Geht man davon aus, dass der Ausruf „Diese Kirche ist keine Kirche!“ zwar als spontan artikulierte Emotion anzusprechen ist, dass ihm aber vor allem eine komplexere Emotion (Naurath15) zugrunde liegt, dann genügt es nicht, dies lediglich anzusprechen und damit bewusst zu machen. Denn, der komplexeren Emotion lag jeweils eine spezifische Irritation der Basisemotion zugrunde: statt Lust traten nicht unbedingt Unlust, wohl aber Befremdung und damit spezifische Fragestellungen auf.
Vielleicht führt aber die Kant’sche Unterscheidung zwischen sinnlichen und intellektuellen Aspekten weiter.16 Er stellt diese in einen Zusammenhang mit dem Interesse der Vernunft, das aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand hervorgehe. Insofern könnte sich auch an dieser Stelle der artefaktorientierte Ansatz als hilfreich erweisen – und zwar insbesondere dann, wenn man sich die Grundstruktur des Vorgangs im Einzelnen vor Augen führt. Das Befremden schien sich konkret auf ein aus der Anschauung entspringendes Gefühl, also vor allem auf den Umgang mit einem ideellen Konstrukt „Kirche“ zu beziehen, dessen reale Vorstellung kein Wohlgefallen auslöste, sondern sich als (Vor-)Urteil artikulierte. Das Ziel des Umgangs mit dem emotionalen Urteil kann dann aber nicht die kognitive „Bearbeitung“ der Emotionen sein, sondern muss deren Überführung in ein spezifisches Interesse sein. Dazu ist es erforderlich, die Lernenden ihre je eigenen Wahrnehmungen, Frage- und Problemstellungen artikulieren zu lassen,
- so dass der konkrete Gegenstand als kulturelles Artefakt in seiner Fragwürdigkeit wahrgenommen, benannt und erkannt wird,
- darin Interesse erweckt
- und somit Lernprozesse eingeleitet werden.
Diese Einsicht hat auch insofern Konsequenzen, als den ursprünglichen Emotionen künftig explizit mit der Frage nach dem Interesse zu begegnen ist.
Ausblicke
- Unsere Grenzgänge zwischen Göttingen und Oldenburg wiesen auf spezifische Schwierigkeiten bei der Kirchenerkundung hin. In emotionaler Hinsicht muss spontanen Intuitionen Raum gegeben werden.
- Insgesamt stand dabei ein Ansatz zur Diskussion, der als Alternative zu gängigen kirchenpädagogischen Konzepten entwickelt worden ist. Der „artefakttheoretische“ Zugriff basiert auf neueren psychologischen Einsichten zur (kommunikativen) Gebundenheit des menschlichen Geistes an kulturelle Artefakte, die sich aus konkreten Gegenständen entwickeln, gemeinschaftlich in Zeit und Raum erschlossen werden und im gemeinsamen Diskurs reflexive Bedeutung erlangen.
- Konkrete Ergebnisse dieser Auseinandersetzung bestanden mit Blick auf die von uns „besuchten“ Oldenburger Kirchen in spezifischen Verdichtungen kultureller Artefakte: die Bedeutung der Lambertikirche als Wahrzeichen der Stadt Oldenburg (sichtbare Heterotypie), als im Baukörper verdichtete Stadtgeschichte und als sozialer Mittelpunkt wurde gemeinsam in absolutismus- und sozialkritischer Perspektive fortgeführt, bis am Ende das Oberthema „Vernunft und Glaube“ an den verdeckten Bauelementen und ihrer figurativen Bedeutung als versinnbildlichter Toleranz zur Sprache kam. Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sowie die Gestaltung eines feierlich gedeckten Tisches stand im Zentrum vielfältiger Auseinandersetzungen mit der methodistischen Friedenskirche. Dass der Frieden eine nicht aufzugebende Aufgabe ist, um die sich jeder Einzelne bemühen muss, war das vorranginge Resultat dieser Auseinandersetzung über die Feststellung von Konfessionsgrenzen sowie den Abbau von Vorurteilen hinweg.
- Dass im Zentrum des emotionalen Lernens vor diesem Hintergrund die Umwandlung von irritierendem Befremden in Interesse steht, war das für uns neue Resultat, das die gemeinsame Kooperation am Ende erbrachte. Dass von dieser Einsicht jeder Einzelne auf seine Weise profitieren wird, ist im vielschichtigen Sinne des Wortes „anzunehmen“.
- Die Ergebnisse unserer artefaktorientierten Kirchgänge machen für Lehrerausbildung und für schulisch-kirchenpädagogische Projekte deutlich, dass die subjektiven Zugriffsweisen der Lernenden auf Artefakte hinsichtlich ihres Gebrauchs im Unterschied zu bisherigen kirchenpädagogisch-intentionalen Ansätzen einen deutlicheren Stellenwert erhalten müssen. Nicht nur das historische, kunstwissenschaftliche, theologische Wissen um kirchenpädagogische Artefakte sind für einen Lernprozess bedeutsam; Bedeutsamkeit und damit auch biografische Relevanz erhalten Artefakte erst durch die bewusste, interesseorientierte Arbeit an und mit ihnen. Offensichtlich spielen sie damit für ein historisches Lernen oder ein Erinnerungslernen eine eigene Rolle.
Anmerkungen
- Der vorliegende Aufsatz knüpft an die Dokumentation des ersten Teils des Seminars, der in Göttingen stattfand und in Theoweb reflektiert wurde, an. Vgl. Antje Roggenkamp, Artefakte im Kirchenraum. Kirchenraumpädagogische Überlegungen, in: Theoweb. Zeitschrift für Religionspädagogik 9/ 2010, H.2, 150-198.
- Zum Ganzen vgl. u.a. Bernd Carqué/ Hedwig Röckelein (Hrsg.), Das Hochaltarretabel der St. Jacobi-Kirche in Göttingen, Göttingen 2005; Yvonne Besser, Religiöse Bildsprache der nichtfigurativen Moderne. Der Fensterzyklus zu Psalm 22 von Johannes Schreiter in der Jakobi-Kirche Göttingen, Frankfurt 2009.
- Vgl. Reinhard Rittner (Hrsg.): Oldenburg und die Lambertikirche, Holzberg, Oldenburg 1988.
- Andreas Mertin, Die Kirche als Jurassic-Park? Oder: Lässt sich religiöses Raumgefühl pädagogisch klonen?, in: Sigrid Glockzin-Bever /Horst Schwebel (Hrsg.), Kirchenraum-pädagogik. Münster 2002 [Ästhetik – Theologie – Liturgik, Bd.12], 2002, S. 126.
- Franz Heinrich Beyer hat verschiedene theoretische Zugänge zusammengestellt – so benennt er den liturgischen, den kirchenpolitischen (EKD), den atmosphärischen (Böhme) und den gesellschaftspolitischen (Soeffner) Ansatz. Vgl. Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume. Theologie, Geschichte und Symbolik des Kirchengebäudes, Darmstadt, 2.Aufl. 2009.
- Horst Schwebel, Die Kirche und ihr Raum. Aspekte der Wahrnehmung, in: Glockzin-Bever/Schwebel, aaO, 9-30, 13 f. Klaus Raschzok, „…an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden“ (Martin Luther) Zur Frage des heiligen Raumes nach lutherischem Verständnis, in: Glockzin-Bever/Schwebel, aaO, 99-114, 100.
- Nach Kant ereignet sich im Übrigen jedes Erkennen unter den Bedingungen der reinen Anschauung von Zeit und Raum. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1982 (2. Aufl. Riga 1787), 147 .
- Sander-Gaiser, Neue Lerntheorien und ihre Relevanz für den kompetenzorientierten Religionsunterricht, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 7 (2008), H. 1, 275-294.
- Im Seminar kamen nicht nur die oben erwähnten, sondern auch sehr andere spontane Äußerungen zur Sprache überwiegend von den Oldenburger Studierenden, die die Helligkeit der Kirche als wohltuend empfanden und ihre klare Struktur – etwa im rückblickenden Vergleich mit der Jakobikirche – bevorzugten.
- Ken Fowlett, Die Säulen der Erde, Bergisch-Gladbach 2006 (London/New York 1989), 968f.
- Dem Referat zugrunde lag das Buch von Reinhard Rittner aaO, sowie: Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Oldenburg (Hrsg.), Die Lambertikirche in Oldenburg, kleiner Kirchenführer, Oldenburg 2004 und Klaus Brake / Rainer Krüger, Oldenburg im Profil, Oldenburg 1994.
- Zum Ganzen vgl. auch: Ev.-methodistische Kirche – Friedenskirche – Bezirk Oldenburg (Hrsg.), 100 Jahre Friedenskirche Oldenburg (1898-1994), Oldenburg 1994.
- Lothar Elsner/ Ulrich Jahreiß et al. (Hrsg.), Das Soziale Bekenntnis der Evangelisch-methodistischen Kirche. Geschichte – aktuelle Bedeutung – Impulse für die Gemeinde, Göttingen 2008.
- Vgl. Anm. 1 u. 2.
- Elisabeth Naurath, Gewaltprävention als Genderthema. Die Bedeutung von Emotionen für ethische Bildungsprozesse im Religionsunterricht, in: Loccumer Pelikan 2/2010, 58-61, 58, 60. Vgl. auch Dies.: Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik, Neukirchen 2007, bes. Kap. 4 und 5.
- „Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung, Schmerz das seines Hindernisses des Lebens.“ Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Becker, Nachwort von Hans Ebeling. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7541 (4), Stuttgart 1983, § 59f.