Didaktische Vorüberlegungen
Die Rollen, die wir im Leben zu spielen haben, sind vielfältig. Wir suchen sie uns oder sie werden uns durch andere zugewiesen. Nicht immer gelingt es, die Rollen entsprechend den Erwartungen anderer auszufüllen. Insbesondere das Jugendalter ist von einer starken Rollenunsicherheit geprägt. Diese erschwert einerseits die Selbstfindung, verhindert andererseits aber auch eine rigide Festlegung auf ein bestimmtes Verhalten. Insgesamt fordert sie dazu heraus, einen eigenen Standpunkt und das dazu passende Verhalten zu bestimmen. Jugendliche benötigen dazu Orientierungshilfen und Bestätigung.
Dieses gilt insbesondere im Blick auf die Geschlechterrolle, denn mit ihr sind grundlegende Verhaltensweisen, Einstellungen und Lebensplanungen verbunden. Geschlechterrollen organisieren das Zusammenleben und bestimmen wesentlich die Interaktion. Sicherlich ist es daher auch kein Zufall, dass das Geschlecht des Menschen bereits auf den ersten Seiten der Bibel als Idee Gottes beschrieben wird: "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib (Gen 1,27)". Das, was einen Mann und eine Frau ausmachen, wird allerdings nicht als Beschreibung mitgeliefert. Hier finden sich im Verlauf der biblischen Bücher verschiedene Bilder, die sich einer exakten Festlegung entziehen. Dieses gilt bis heute. Verändert haben sich die Definitionsinstanzen, die heute überwiegend von Größen wie Werbung, Modeindustrie und Medien gestellt werden.
Um das Feld der Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht allein anderen zu überlassen, ist die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Schule unerlässlich. Auf diese Weise können Mädchen lernen, ihre Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen und entsprechend ihre Lebensplanung, Familie, Partnerschaft und Sexualität zu gestalten. Für Jungen liegt die Chance darin, ihre Geschlechtsrolle offener und individueller zu gestalten und so an Freiheit zu gewinnen. Konsequenterweise können sie das Bild des starken, aktiven und rationalen Mannes in Frage stellen und Zärtlichkeit und Emotionalität als Möglichkeit in ihr Rollenverständnis übernehmen.
Zur Unterrichtspraxis
In den Lehrplänen des Religionsunterrichts wird das Thema selten explizit benannt. Jedoch lassen sich einzelne Bausteine gut in vorgegebene Themen wie beispielsweise "Liebe und Partnerschaft", "Was ist der Mensch?", "Miteinander leben" usw. integrieren. Im Folgenden sollen einige Materialien vorgestellt werden, die geeignet sind, das Thema "Typisch Junge/typisch Mädchen" im Unterricht aufzugreifen. Die Materialien wurden im Religionsunterricht einer zehnten Klasse der Realschule erprobt. Sie lassen sich aber für den Unterricht anderer Klassenstufen und Schulformen modifizieren.
Baustein 1:
Die Schülerinnen und Schüler erhalten ein leeres Blatt Papier (DIN-A-6). Im Anschluss wird der Klasse die Fotocollage "Mann-Frau" (M 1) gezeigt. Nun werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, auf dem Blatt Papier anonym zu notieren, was ihnen spontan zu dem Bild einfällt.
Durch die Anonymisierung soll den Schülerinnen und Schülern eine möglichst große Freiheit im Blick auf die Antworten eröffnet werden. Im Anschluss werden die Blätter eingesammelt und kommentarlos vorgelesen. Im Tafelanschrieb werden die Aussagen gemeinsam systematisiert. Abschließend erhält die Klasse die Aufgabe, eine Überschrift zu finden und gegebenenfalls einen die Aussagen zusammenfassenden Satz zu formulieren. Beides wird ins Tafelbild aufgenommen.
Baustein 2:
Der Klasse werden Babyfotos (M 2) vorgelegt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten die Einstiegsinformation, dass es sich hier um ein Mädchen und einen Jungen handelt. In Einzelarbeit sollen die Schülerinnen und Schüler den beiden Kindern je einen Namen geben. Sie sollen begründen, weshalb sie sich für Junge bzw. Mädchen entschieden haben, und eine Liste mit Entscheidungsmerkmalen aufstellen.
Die Ergebnisse werden in Gruppen diskutiert. Hierbei kann es dazu kommen, dass die Geschlechter der Kinder unterschiedlich eingeschätzt werden und die Entscheidungsmerkmale sehr stark voneinander abweichen. An dieser Stelle setzt die abschließende Diskussion in der Klasse an.
Baustein 3:
Die Schülerinnen und Schüler erhalten das Arbeitsblatt M 3. Ihre Aufgabe besteht nun darin, "typische Jungeneigenschaften" und "typische Mädcheneigenschaften" mit unterschiedlichen Farben zu markieren. Es ist auch möglich, eine Eigenschaft beiden Geschlechtern zuzuordnen, sie also mit beiden Farben zu markieren. Die anschließende Diskussion führt in der Regel zu unterschiedlichen bis sehr verschiedenen Einschätzungen. Weiterführend ist die Frage, was passiert, wenn Junge oder Mädchen sich nicht so verhalten, wie es für ihr Geschlecht "typisch" sein soll.
Baustein 4:
Eine Mädchengruppe (drei Gruppenmitglieder) und eine Jungengruppe (drei Gruppenmitglieder) erhalten jeweils ein Arbeitsblatt des Materials M 4. Die Aufgabe der Gruppen besteht darin, die fünf dargestellten Verhaltensvarianten in eine Reihenfolge zu bringen. Dazu müssen sich die Gruppenmitglieder auf eine gemeinsame Liste einigen, auf der das von den meisten bevorzugte Verhalten an erster Stelle steht, die zweitbeste Verhaltensmöglichkeit an zweiter Stelle usw. Alle anderen Schülerinnen und Schüler erhalten ebenfalls das Arbeitsblatt. Die Aufgabe der Jungen ist es nun zu überlegen, in welche Reihenfolge die Mädchengruppe die Verhaltensvarianten wahrscheinlich bringen wird.
Die Aufgabe der Mädchen besteht darin, die Jungengruppe einzuschätzen. Abschließend erfolgt eine Auswertung. Auch hier werden sich viele Unterschiede in der Einschätzung ergeben; die gängige Rollenbilder werden in Frage gestellt und problematisiert. Hier schließt sich die Frage an, wie es zu bestimmten Rollenbildern kommt und welche Auswirkungen sie auf den Einzelnen haben können.
Das Thema sollte mit der Eröffnung eines Reflexionsraumes abgeschlossen werden, in dem die verschiedenen Instanzen der Zuschreibung von Geschlechterrollen erarbeitet und kritisch hinterfragt werden. Beides lässt sich gut in einem Tafelbild systematisieren. Ebenso können die Schülerinnen und Schüler selbst nach Beispielen der Zuschreibung von Geschlechterrollen in Mode, Werbung, Fernsehen, Filmen etc. suchen und diese im Unterricht präsentieren. Ziel des Unterrichts ist es, den Jugendlichen Freiräume zu eröffnen, die sie unabhängiger machen, ihre Identitätsbildung positiv unterstützen und sie letztlich vor Überforderung schützen.
Materialien: Die Materialien M1-M4 zu diesem Artikel finden Sie wie folgt: Klicken Sie rechts unter "Text erschienen im Loccumer Pelikan..." auf PDF. Die Materialien finden Sie im Heft ab Seite 23